Eine wissenschaftsbasierte Politische Bildung für Menschen, in einer repräsentativen Demokratie mit direktdemokratischen Elementen ist bislang nicht entwickelt worden. Gegenwärtige Vorstellungen in der Schweiz zur Politischen Bildung sind vielfältig und in vielem widersprüchlich: Faktenwissen, Politikernachwuchs, Identität als «Weltbürger» oder «Patriot» u.a., Partizipation, Bejahung von Menschenrechten, Ablehnung von Rassismus und vieles mehr werden als Ergebnis der Politischen Bildung genannt.
Die Entwicklung einer Politischen Bildung für die direkte Demokratie aus der wissenschaftlichen Politikdidaktik
Die Erarbeitung einer Politischen Bildung für die direkte Demokratie kann sich inspirieren lassen zum einen von der theorie- und empirie-basierten Politischen Bildung und Politikdidaktik, wie sie insbesondere in Deutschland seit der Nachkriegszeit aufgebaut worden ist. Sie hat allerdings die Stellung und Rechte von Bürgerinnen und Bürgern mit Bezug auf direktdemokratische Elemente eines politischen Systems nicht thematisiert.
- Die Politikwissenschaften sind die wichtigste Referenzwissenschaft. Politik ist «…die Gesamtheit der Aktivitäten zur Vorbereitung und zur Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher und/oder am Gemeinwohl orientierter und der ganzen Gesellschaft zugutekommender Entscheidungen…».
- Es gilt jeweiliges Handeln und Geschehen vorerst theoriebasiert – und nicht moralisch – einzuschätzen und seine Bedeutung für die Gesellschaft und die einzelnen Leute zu erkennen. Auch Werte müssen analysiert werden und rational begründbar sein. Schulische Politische Bildung macht ihre Bindung an die Verfassung deutlich (Rechtsstaat, Menschenrechte, Nachhaltigkeit insbesondere).
- Eine Befassung mit Politik in der Demokratie beschäftigt sich nicht einfach mit der Regelung von politischen Problemen innerhalb der Demokratie, sondern auch mit den Leistungen einer Demokratie im Vergleich mit anderen Systemen. Politische Vorgänge werden dabei untersucht mit dem Fokus auf die Akteure, die Prozesse und die Inhalte bzw. politisch verhandelte Themen. Politische Bildung analysiert Politik als Mehrebenen-Phänomen und vermeidet eine Containersicht auf das Geschehen in einem einzelnen Staat.
- Der «mündige Bürger», die «mündige Bürgerin» wird häufig als Zielvorstellung der Politischen Bildung genannt. Wer bestimmt, wer mündig ist? Welche Schülerinnen und Schüler sollen «mündig» werden – auch jene ohne Schweizer Pass? – Politische Kompetenz ist möglicherweise eine weniger belastete Zielbezeichnung und es ist klar, dass sie weiter definiert werden muss.
Die Entwicklung einer Politischen Bildung für die direkte Demokratie auf Spurensuche in historischen Texten
Diese Erarbeitung einer Politischen Bildung für die direkte Demokratie kann sich zum andern auf Spurensuche in schweizerischen Texten begeben, in denen zur Zeit des Kampfes um direktdemokratische Instrumente und Rechte über Politische Bildung geschrieben wurde. Mit dem Buch «Reader: Was soll Politische Bildung?» wurde diese Spurensuche dokumentiert und kommentiert. Unter anderen kommen Konzeptionen von Heinrich Pestalozzi (1815), Ludwig Snell (1840) und Numa Droz (1886) zum Zug.
- Pestalozzi spricht nicht von direkter Demokratie. Die Beteiligung des Bürgers ist bei ihm eine dreifache: Zum ersten habe er eine Aufgabe der «Veredelung seiner selbst» und seines Hauses, also seiner Familie. Daraus solle er zum zweiten «das alte Freiheits- und Rechtsgefühl» erneuern, das ihn leiten soll – gehörte Pestalozzi also letztlich der alten Ordnung an, auch wenn er deren führende Geschlechter kritisierte? Schliesslich solle sein Verhältnis zur Regierung von Vertrauen getragen sein. Politisch wirksame Bildung führt bei Pestalozzi also letztlich – abgesehen von der Möglichkeit, die Regierung zu wählen – zur sittlich durchdrungenen Passivität.
- Auch Ludwig Snell spricht nicht von direkter Demokratie, aber er versteht das politische Geschehen als ein Ausdruck vernunft- und wissenschaftsgeprägter Aktivität der Bürger, die sich über die Wahlen, aber auch als informierte Teilnehmer in der politischen Diskussion an der Gestaltung des Staates beteiligen. Dafür fordert er einen schulischen Unterricht in Staatskunde als Grundlage der Schaffung einer «konstitutionellen Gesinnung».
- Auch für Droz sind der Staat, seine Gesetze und seine Ordnung Garantie für eine geregelte Existenz. Individuen sollten aber nach Droz zwingend mit schulischer Politischer Bildung auf ihre Aufgabe als Bürger vorbereitet werden. Er macht die direktdemokratischen Elemente der repräsentativen Demokratie nicht zu einem zentralen Fokus, betont aber, dass getroffene Massnahmen der Regierung bzw. des Parlaments aufgehoben werden können. – Dies verlangt nach der Möglichkeit der Sachentscheidung. Konkreter wird er hier aber nicht.
Vorläufiges Fazit zu heutigen Notwendigkeiten einer Politischen Bildung in der direkten Demokratie
Der Bürger und die Bürgerin sollten verstehen, welche Rolle sie als Angehörige des Souverän in einer direkten Demokratie wahrnehmen sollen, welche wichtige Beurteilungs- und Kontrollfunktionen hinsichtlich des Handelns der Parlamentarierinnen und Parlamentarier ihnen zukommt, und wie wichtig die grundsätzliche Steuerung der politischen Arbeit über die Instrumente der Einmischung aufgrund seriöser Auseinandersetzung mit zentralen Fragen der Zukunft eigentlich ist.
Dieses Wissen und Können benötigt eine ernsthafte schulische Vorbereitung. Es ist unseriös, eine derart wichtige gesellschaftliche Funktion ohne professionelle fachliche Schulung der Lehrkräfte geschehen zu lassen. Diese ist nur möglich, wenn die wissenschaftliche Erarbeitung von diesbezüglichen Grundlagen gesellschaftlich ernst genommen und unterstützt wird. Nur so erlangen Schülerinnen und Schüler die nötige Kompetenz, ihr Recht, sich ernsthaft mit ihrer gesellschaftlichen Zukunft zu befassen, wahrzunehmen.
Literatur:
- Lötscher, Alexander / Schneider, Claudia / Ziegler, Béatrice. Reader: Was soll Politische Bildung. Bern 2016.
- Meyer, Thomas. Was ist Politik? Wiesbaden (3. Aufl.) 2010.
- Waldis, Monika. «Demokratietheorie und Erziehungsideal im Diskurs der Politischen Bildung in der Schweiz.» In Béatrice Ziegler / Monika Waldis (Hrsg.), Politische Bildung in der Demokratie. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2018, S. 75–96.
- Ziegler, Béatrice. «Politische Bildung in der Schweiz.» In Wolfgang Sander (Hrsg.), Handbuch politische Bildung, Schwalbach/Ts. 2014, S. 552–559.