Können die nationalen Parlamente ihre Regierungen kontrollieren oder zumindest beeinflussen, wenn sie über Gesetze in der Europäischen Union verhandeln? Die theatralischen Entwicklungen der letzten Wochen im britischen Unterhaus im Zusammenhang mit dem Brexit deuten darauf hin, dass die Antwort “ja” lautet. In unserer Untersuchung zeigen wir auf, wie die Regierungen der Länder der EU auf diese Entwicklungen der zunehmenden Aufmerksamkeit und Kontrolle im Inland und der stärker regulierten politischen Prozesse auf EU-Ebene reagiert haben.
Die komplizierte Situation im Vereinigten Königreich ist ein ziemlich dramatischer Fall von “Parlament gegen Exekutive”. Das britische Brexit-Szenario ist in vielerlei Hinsicht extrem, doch alle europäischen Regierungen müssen bei den Verhandlungen über Politik in Brüssel ihre nationalen Parlamente und ihr nationales politisches Publikum berücksichtigen – nicht nur im Falle von Grossbritannien oder bei grossen konstitutionellen Fragen wie der EU-Mitgliedschaft.
Wichtige Reformen durchgeführt
Die nationalen Parlamente in Europa haben in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren eine Reihe wichtiger Reformen durchgeführt, um die EU-Politik genauer zu überprüfen. Zudem bemühten sie sich verstärkt darum, Regierungen für Entscheide zur Verantwortung zu ziehen, welche sie während den Verhandlungen in Brüssel treffen.
Dies geschieht sowohl in parlamentarischen Debatten als auch im Ausschuss zur Überprüfung der verschiedenen Politikprogramme (siehe z.B. Rauh und De Wilde, 2018; Winzen et al., 2018). Gleichzeitig bedeuten Initiativen zur Erhöhung der Transparenz bei der Entscheidungsfindung in der EU, dass Dokumente nun in größerem Umfang als bisher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und dass die erfassten Stimmen der Regierungen bei allen legislativen Entscheidungen obligatorisch geworden sind. Daher ist es klar, dass die Mitglieder der nationalen Legislativen inzwischen in der Lage sind ihre Regierungsvertreter im Auge zu behalten und einen Anreiz haben ihr Handeln in EU-Fragen infrage zu stellen.
Wie nationale Parlamente bei Entscheidungen des EU-Rats mitreden können
Konkret zeigen wir in unserer Untersuchung, inwieweit die Regierungen ihre nationalen Parlamente bei der Entscheidung im Rat der Europäischen Union (EU-Rat), der sich aus Regierungsvertretern der zuständigen nationalen Ministerien zusammensetzt, berücksichtigen. Dabei untersuchen wir, ob Regierungen Signale an ihr inländisches Publikum senden, wenn sie politische Positionen in den Protokollen des Rates festhalten.
Die stärke der nationalen Parlamente beeinflusst das Verhalten ihrer Regierung innerhalb des EU-Rats
Unsere Ergebnisse zeigen, dass Regierungen, deren nationalen Parlamente über starke Kontrollbefugnisse verfügen, sich viel eher der Stimme enthalten, mit Nein stimmen oder verlangen, dass formelle politische Stellungnahmen in die Protokollen aufgenommen werden.
Dieses Verhalten steht im Gegensatz zu Regierungen mit weniger mächtigen Parlamenten, die viel eher zur Mehrheitsposition stehen und die keine politischen Stellungnahmen zu ihren Abstimmungsergebnissen hinzufügen.
Darüber hinaus kommt es auch darauf an, ob eine Regierung in der formalen institutionellen Struktur ihres Parlaments eine politisch starke Position einnimmt: Eine Regierung, die über ein starkes politisches Ansehen verfügt und deren Parlament in Bezug auf Kontroll- und Änderungsbefugnisse weniger einflussreich ist, wird in den Protokollen des Rates (the councils records) viel weniger aktiv sein und sich häufiger einfach für die Position der Mehrheit des Rates entscheiden.
Umgekehrt werden Regierungen, die zu Hause unter politischem Druck stehen und von einem Parlament mit starken Kontrollbefugnissen kommen, viel eher gegen die Mehrheit stimmen, sich enthalten oder politische Stellungnahmen abgeben, die in die Unterlagen des Rates aufgenommen werden.
Unsere Analyse untersucht auch andere Faktoren, die sich zuvor als Einflussfaktoren auf das Verhalten der Regierungen in der EU erwiesen haben. Dazu zählen wirtschaftliche Interessen und politische Verhandlungsmacht, die sich aus der eigenen Stimmenverteilung der EU und den EU-Haushaltsbeiträgen ergeben: es ist wahrscheinlicher, dass wirtschaftlich und politisch starke Regierungen in der EU, Besorgnisse oder Meinungsverschiedenheiten in den Unterlagen des Rates äußern, als Länder, die weniger mächtig sind.
Unsere Ergebnisse entsprechen daher weitgehend den Schlussfolgerungen der Literatur, erweitern aber die Ergebnisse um den Beweis, dass sich diese Muster sowohl in den Abstimmungen als auch in den formellen, im Zusammenhang mit den Abstimmungen abgegebenen politischen Stellungnahmen, widerspiegeln. Aber in den formalen Stellungnahmen sind die Auswirkungen oft deutlicher, was uns zu dem Schluss führt, dass die politischen Stellungnahmen der Regierungen eine wichtige zusätzliche Datenquelle für die Erforschung der Strategien und des Verhaltens bezüglich der politischen Programme nationaler Vertreter in der EU-Politik sind.
Referenzen:
- Hagemann, S, Bailer S, Herzog A (2019): Signals to Their Parliaments? Governments’ Use of Votes and Policy Statements in the EU Council, in: Journal of Common Market Studies.
- Rauh, C., & De Wilde, P. (2018). The opposition deficit in EU accountability: Evidence from over 20 years of plenary debate in four member states, in: European Journal of Political Research, 57(1), 194-216.
- Winzen, T., de Ruiter, R., & Rocabert, J. (2018). Is parliamentary attention to the EU strongest when it is needed the most? National parliaments and the selective debate of EU policies, in: European Union Politics.
Bild: Europäischer Rat, Emblem