Mit der Mediationsakte Napoleons erlangten ehemalige Untertanengebiete die Unabhängigkeit und wurden zu souveränen Kantonen. In den Mediationskantonen Aargau, Thurgau, St. Gallen und Waadt wurden schon früh direktdemokratische Instrumente wie Veto und Referendum eingeführt. Wie diese Pionierrolle zu erklären ist und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Demokratiebewegungen in diesen Kantonen bestanden, zeigt folgender Beitrag.
Rückständigkeit als Startvorteil
Die Mediationskantone waren vor 1798 sogenannte “Gemeine Herrschaften”, das heisst, sie wurden von den Orten einzeln oder gemeinsam verwaltet. Die Landvögte lösten sich im Zweijahresturnus ab und waren nicht immer präsent. Zudem bestanden Rivalitäten zwischen den regierenden Orten, die einen kontinuierlichen Herrschaftsausbau verhinderten und von den Untertanen ausgenützt werden konnten.
Eingriffe in die bestehende Ordnung und eine Rechtsvereinheitlichung erwiesen sich als schwierig. Folge dieses verzögerten Übergangs zu einer modernen Verwaltungspraxis war die Bewahrung einer ausgeprägten Lokalautonomie und der kommunalen Selbstverwaltung. Diese Autonomiekultur war eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung direktdemokratischer Instrumente.
„Landsgemeindefieber“ und „Landsgemeindewut“
Während der helvetischen Revolution von 1798 erlangten die ehemaligen Untertanengebiete die Unabhängigkeit und gaben sich eine neue Ordnung. Allein auf dem Gebiet des heutigen Kantons St. Gallen entstanden acht neue Republiken. Vorbild für die Neuorganisation waren die benachbarten Landsgemeindeorte Glarus, Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden.
Als diesen neu gebildeten Republiken später die helvetische Einheitsverfassung und die repräsentative Demokratie aufgezwungen wurden, kam es zu heftigen Widerständen. Auch in der Spätphase der Helvetik, anlässlich der Staatsstreiche, tauchte die Forderung nach der „reinen Demokratie“ wieder auf. Die helvetischen Beamten berichteten abschätzig vom „Landsgemeindefieber“, das in der Bevölkerung grassiere.
Die Bedeutung der helvetischen Revolution für die Demokratieentwicklung war also ambivalent. Einerseits führte der neue Freiheitsbegriff, der Freiheit nicht mehr als Privileg, sondern als Grundrecht für alle Menschen verstand, zur politischen Unabhängigkeit der Untertanengebiete. Andrerseits behinderte die helvetische Einheitsverfassung mit dem Repräsentativsystem den Ausbau der Partizipationsmöglichkeiten und löste Protestbewegungen aus, die für die Weiterentwicklung der direkten Demokratie wichtig waren.
Veto und Referendum: Neue politische Referenzmodelle
Die Erinnerung an die „reine Demokratie“ war auch 1830 noch präsent. Nach dem Sturz des Restaurationsregimes in St. Gallen bildeten sich zwei politische Lager. Die liberalen Wirtschafts- und Bildungseliten favorisierten eine Repräsentativverfassung.
Dagegen formierte sich eine ländliche Oppositionsbewegung, die eine vermehrte Mitsprache des Volkes an politischen Entscheidungen forderte. Als im neu gewählten Verfassungsrat die Meinungen hart aufeinander prallten, reichte Stiftsarchivar Josef Anton Henne einen Kompromissvorschlag ein, der einen Mittelweg zwischen repräsentativer und direkter Demokratie beschreitet: Ein Einspruchsrecht des Volkes gegen Gesetze. Dieses erhielt eine wichtige Vorbildfunktion: Baselland, Luzern und Thurgau führten eine ähnliche Verfassungsbestimmung ein und die Vetobewegungen in den Kantonen Zürich, Solothurn und Aargau orientierten sich an diesem Modell.
Ein weiteres Modell zur Beteiligung des Volkes entstand im Kanton Waadt. Dort bildete sich 1845 eine radikale Volksbewegung gegen die liberale Regierung. Weil die Radikalen mehr politische Mitsprache und soziale Verbesserungen in Aussicht stellten, konnten sie kleinbürgerliche und proletarische Bevölkerungskreise mobilisieren. Nach dem Sturz der liberalen Regierung wurde ein Gesetzesreferendum eingeführt, das sogar schon Elemente der Gesetzesinitiative vorwegnahm.
Landstürme und Prügelzüge: Widerstands- und Protestkultur
Die Bewegungen im Kanton St. Gallen und Waadt weisen eine Gemeinsamkeit auf, die auch für die Bewegungen im Thurgau und Aargau kennzeichnend ist: Druck von unten. Als die entscheidende Abstimmung über das St. Galler Volksveto stattfand, versammelten sich 600 mit Prügeln bewaffnete Männer vor dem Sitzungssaal, und die Durchsetzung des Referendums in der Waadt erfolgte nach einem bewaffneten Volkszug. Landstürme und Prügelzüge bilden die Drohkulisse der Demokratiebewegungen.
Die Tradition des offenen Protests lässt sich bis in die Frühneuzeit zurückverfolgen. Durch den Bauernkrieg von 1653 wird ein absolutistischer Staatsausbau verhindert, ein zentralisiertes Verwaltungssystem und die Erhebung direkter Steuern sind nicht durchzusetzen. Dadurch kann kein stehendes Heer zur Niederschlagung der Aufstände finanziert werden. Auch im 19. Jahrhundert sind die schlecht ausgerüsteten kantonalen Milizheere kaum geeignet, die Revolten zu unterdrücken.
Unterschiedliche Konfliktkonstellationen
Trägerin der Vetobewegungen in den Deutschschweizer Mediationskantonen war vor allem die katholische Bevölkerung der Landgebiete. Diese gehörte zu den Verlierern der Modernisierung. Ihre Anliegen wurden von den liberalen Regierungen nicht ernst genommen. Weil sich die Anführer an katholisch-konservativem Gedankengut orientierten, wurden liberale Errungenschaften auf kulturellem Gebiet und im Bereich des Rechtswesens infrage gestellt. Die Vetobewegungen konnten fremdenfeindliche Züge annehmen. So etwa im Kanton Aargau, wo mit dem Veto versucht wurde, die Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung in Lengnau und Oberendigen zu verhindern.
Im Kanton Waadt bildete sich eine andere Konfliktkonstellation. Hier standen sich Liberale und Radikale gegenüber. Die Anführer der Radikalen waren stark vom französischen Verfassungsdenken und von frühsozialistischem Gedankengut beeinflusst. Deshalb fehlten illiberale Forderungen wie etwa die Exklusion oder Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen. Die unterschiedliche politische Kultur ist auch dafür verantwortlich, dass die Waadt als erster Kanton 1959 den Frauen die politischen Rechte gewährte.
Weiterführende Literatur:
- Rolf Graber, Demokratie und Revolten. Die Entstehung der direkten Demokratie in der Schweiz, Zürich 2017 (2), Chronos Verlag.
- Rolf Graber, Wege zur direkten Demokratie in der Schweiz. Eine kommentierte Quellenauswahl von der Frühneuzeit bis 1874, Wien, Köln, Weimar 2013, Böhlau Verlag.
- Bruno Wickli, Politische Kultur und „reine Demokratie“. Verfassungskämpfe und ländliche Volksbewegungen im Kanton St. Gallen 1814/15 und 1830/31, St. Gallen 2006, Kommissionsverlag Rösslitor Bücher AG.
Bild: “Der Landsturm von Anno 1798 in der Gegend von Solothurn” – nach der Natur entworfen, nun ausgeführt und lithographiert von Franz Niklaus König (1765-1832), um 1825 (Zentralbibliothek Luzern).