Die lokale Staatsbürgerschaftskrise in der Schweiz

Schweizer Gemeinden stecken in einer Krise, einer lokalen Staatsbürgerschaftskrise. Sie kämpfen darum, BürgerInnen für öffentliche Ämter zu rekrutieren, vor allem junge — auch wenn laut einer neuen Studie jedeR fünfte junge BürgerIn bereit wäre, sich lokalpolitisch zu engagieren. Zu den vorgeschlagenen Lösungen gehört die Einführung des passiven Wahlrechts für Nicht-Staatsangehörige sowie für BürgerInnen, die nicht in der Gemeinde wohnen. Die Vorschläge unterstreichen den stark republikanischen Charakter der Staatsbürgerschaft in der Schweiz – in der Milizkultur gelten Pflichten als mindestens genauso wichtig wie Rechte.

Die Schweiz hat über 2000 Gemeinden. Im internationalen Vergleich verfügen sie über bedeutende politische Macht, zum Beispiel in Bezug auf Einbürgerung, Steuern und Ausgaben. Einer neuen Umfrage der Hochschule Chur zufolge kämpfen mehr als zwei Drittel dieser Gemeinden damit, ihre jungen BürgerInnen (definiert als 25- bis 35-Jährige) zu motivieren, für ein öffentliches Amt zu kandidieren, um ältere LokalpolitikerInnen zu ersetzen. Dies gilt insbesondere für Exekutivpositionen. Die Umfrage zeigt allerdings auch, dass 20 Prozent der jungen Bürger grundsätzlich bereit wären, sich lokalpolitisch zu engagieren.

Es ist wichtig zu beachten, dass in der Schweiz – anders als in den meisten westlichen Demokratien – die Ausübung eines politischen Amtes, mit Ausnahme von Exekutivämtern in grossen Gemeinden sowie auf kantonaler und nationaler Ebene, keine berufliche Tätigkeit ist. Auch wenn es immer mehr legislative Polit-Profis gibt: die finanzielle Entschädigung ist beschränkt und die Öffentlichkeit erwartet, dass die AmtsträgerInnen nebst den politischen Aufgaben einer normalen Berufstätigkeit nachgehen. Dies soll dazu beitragen, dass PolitikerInnen den Kontakt zu dieser nicht verlieren. Auch dies ist aus international-vergleichender Perspektive bemerkenswert.

Welche Wege könnten aus der lokalen Staatsbürgerschaftskrise führen? Zu den insgesamt 84 Vorschlägen der Hochschule Chur gehören die Gewährung des passiven Wahlrechts für ausländische BewohnerInnen, ebenso wie BürgerInnen, die nicht in der Gemeinde wohnhaft sind, eine bessere Vereinbarkeit mit dem Berufsleben, noch mehr politische Macht für die Gemeinden, aktive Öffentlichkeitsarbeit und die Einbeziehung des lokalen politischen Engagements in ein neues System eines generellen Zivildienstes. Im Folgenden werden diese Vorschläge kurz diskutiert.

Nicht-BewohnerInnen als KandidatInnen

In den meisten Gemeinden können nur lokal ansässige Bürger für ein öffentliches Amt kandidieren. Eine Ausnahme ist der Kanton Schwyz, der keine Wohnsitzpflicht kennt. Die Gewährung des passiven Wahlrechts an Nicht-BewohnerInnen würde logischerweise den KandidatInnenpool erweitern.

Nicht-Staatsangehörige als KandidatInnen

Gleiches gilt für die Ausweitung des passiven Wahlrechts auf Nicht-Staatsangehörige. Dies wird bereits in den französischsprachigen Kantonen Freiburg, Jura, Neuenburg und Waadt praktiziert, obwohl die Aufenthaltserlaubnis bis zu zehn Jahre betragen kann, von denen ein Teil im Kanton verbracht werden muss. In den deutschsprachigen Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Basel-Stadt und Graubünden können in einigen Gemeinden auch Nicht-Staatsangehörige für ein Amt kandidieren, wobei die Zulassungskriterien lokal variieren.

Würde diese Praxis ausgeweitet, insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz, und würden die Anforderungen in Bezug auf die Aufenthaltsdauer gesenkt, könnte das Potenzial von AusländerInnen besser erschlossen werden. Dies könnte auch zu besseren Integrationsergebnissen für Menschen mit Migrationshintergrund im weiteren Sinne führen, weil MigrantenvertreterInnen womöglich besser auf die Anliegen der vielen in der Schweiz lebenden Nicht-Staatsangehörigen eingehen könnten.

Natürlich könnte man auch darüber nachdenken, die Staatsbürgerschaft überhaupt offener zu gestalten, damit Einwandernde schneller und einfacher eingebürgert werden können. Aus internationalen Vergleichen wissen wir, dass die Schweiz in dieser Hinsicht zu den exklusivsten Nationen gehört, obschon es relevante kantonale und kommunale Unterschiede gibt.

Datenquellen
Auf den Portalen des Nationalen Kompetenzzentrums für Migration, dem nccr – on the move – finden sich umfassende Datenquellen für den Vergleich der Schweizer Kantone bezüglich Wahlrechten und Staatsbürgerschaft:

Anhand der Datenbanken von GLOBALCIT, einem Forschungszentrum des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz, kann die Schweiz mit anderen Ländern bezüglich Wahlrecht und Staatsbürgerschaftsrecht verglichen werden:

Bessere Vereinbarkeit mit dem Berufsleben

Ein arbeitsintensives Berufsleben ist einer der Hauptgründe, warum junge Menschen nicht noch mehr Verantwortung im öffentlichen Leben übernehmen wollen. Um den Aufgaben des öffentlichen Dienstes nebst einem vollen beruflichen Terminkalender besser gerecht zu werden, könnten LokalpolitikerInnen für die Arbeit zusätzlich bezahlt werden. Dies ist bereits bei der Wehr- und Zivildienstpflicht der Fall. Eine weitere Idee ist, Unternehmen direkt anzusprechen, um den Bedarf der lokalen Politik klarer zu kommunizieren oder um zu erreichen, dass Gemeinden Kinderbetreuungsangebote für junge Eltern anbieten, während sie mit politischer Arbeit beschäftigt sind.

Mehr politische Macht für Gemeinden

Wer mehr tun kann, würde vielleicht mehr tun wollen. So könnten beispielsweise die Macht der Gemeinden und die Höhe der öffentlichen Ausgaben erhöht werden, insbesondere wenn das Ausgabenniveau über einen längeren Zeitraum nicht an die Inflation angepasst wurde.

Proaktive Kommunikation

Politische Bildung in Schulen, Besuche in den Gemeindeämtern und Treffen mit jungen Politikern oder lokale Jugendversammlungen — diese Instrumente könnten das Interesse der Jugendlichen wecken. Darüber hinaus könnte der Bedarf an PolitikerInnen im Allgemeinen proaktiver kommuniziert werden. Die meisten jungen Menschen scheinen nicht zu wissen, wie dringend die Gemeinden neues Blut brauchen. Ausserdem könnten talentierte junge Menschen persönlich angesprochen werden. Schliesslich sollten neue Kommunikationsmittel wie WhatsApp oder Facebook verstärkt eingesetzt werden, um junge Menschen zu motivieren – nicht nur, um lokalpolitisch als KandidatInnen aktiv zu werden, aber auch um zunächst an Gemeindeversammlungen teilzunehmen.

Ein neues System des Zivildiensts

Die Denkfabrik Avenir Suisse hat ein allgemeines neues Pflichtprogramm für den Zivildienst vorgeschlagen, das sowohl für Schweizer BürgerInnen als auch für AusländerInnen mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis – und für alle Geschlechter – gelten würde. Nebst dem klassischen Militärdienst und (weniger) klassischen Zivildienst könnte man im öffentlichen politischen Dienst auf lokaler Ebene die Milizpflicht absolvieren.

Der letzte Vorschlag zeigt, wie republikanisch das Schweizer Bürgerrecht und Staatsbürgerschaftsverständnis ist und wie es noch republikanischer werden könnte. Avenir Suisse ist ein Think Tank, der für seine oftmals radikal (neo-)liberalen Vorschläge bekannt ist. Aber die Idee des öffentlichen Dienstes für das Gemeinwohl — und das zugrunde liegende republikanische Bürgerideal, das nebst umfassenden Rechten auch umfassende Pflichten vorsieht – ist so tief in der Schweizer Gesellschaft und politischen Kultur verwurzelt, dass selbst diese liberale Denkfabrik den Ausbau des öffentlichen Dienstes befürwortet. Die lokale Staatsbürgerschaftskrise ist aber auch eine Krise des republikanischen Repräsentationsmodells – des Milizsystems. In dieser Hinsicht scheinen Ideale und Realitäten weit auseinander zu liegen. Ob das lokale politische Potenzial der Jugendlichen durch die hier diskutierten Massnahmen tatsächlich besser erschlossen werden kann, bleibt abzuwarten. Dass jede fünfte junge Person grundsätzlich interessiert ist, sich lokalpolitisch mehr zu engagieren, ist ein ermutigendes Zeichen.

 


Dieser Beitrag wurde ursprünglich am 13. Februar 2019 auf GLOBALCIT veröffentlicht.

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KategorienSchweizer PolitikThemen
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