Gemeindeversammlung im Kanton Aargau: Beschlüsse sind mehr als die Summe partikularer Interessen

Das Ver­samm­lungs­sys­tem wird seit gerau­mer Zeit kri­ti­siert: Gemein­de­ver­samm­lun­gen sei­en nicht reprä­sen­ta­tiv für die Gemein­de, öff­ne­ten bestimm­ten Lob­by­grup­pen Tür und Tor und wür­den das Stimm­ge­heim­nis miss­ach­ten. Eine detail­lier­te empi­ri­sche Ana­ly­se, die das Zen­trum für Demo­kra­tie Aar­au (ZDA) für Gemein­de­ver­samm­lun­gen im Kan­ton Aar­gau durch­ge­führt hat, zeigt nun, dass die ver­sam­mel­ten Stimm­be­rech­tig­ten trotz tie­fer Betei­li­gung meist zu breit akzep­tier­ten Ent­schei­dun­gen kom­men und die Qua­li­tät der demo­kra­ti­schen Ent­schei­dungs­fin­dung in Gemein­de­ver­samm­lun­gen ins­ge­samt hoch ist.

Die Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie gilt nicht nur als die ältes­te, son­dern auch als die direk­tes­te Form zur demo­kra­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on von Gemein­we­sen. Wäh­rend Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tien welt­weit sel­ten sind, genies­sen sie in der Schwei­zer Gemein­de­land­schaft als Gemein­de­ver­samm­lun­gen eine wei­te Ver­brei­tung. Umso erstaun­li­cher ist es, dass Gemein­de­ver­samm­lun­gen bis­lang nur sel­ten empi­risch unter­sucht wur­den. Dabei stel­len gera­de die Schwei­zer Gemein­den mit ihren aus­ge­bau­ten, eta­blier­ten Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tien ein her­vor­ra­gen­des Anschau­ungs­bei­spiel dar, wie klein­räu­mi­ge Gemein­schaf­ten eine direk­te, prag­ma­ti­sche und erst noch kos­ten­güns­ti­ge Form der demo­kra­ti­schen Ent­schei­dungs­fin­dung leben. Die­sem Anlie­gen nimmt sich eine detail­rei­che empi­ri­sche Ana­ly­se des Zen­trums für Demo­kra­tie Aar­au (ZDA) von über 1600 Aar­gau­er Ein­woh­ner­ge­mein­de­ver­samm­lun­gen der Jah­re 2013 bis 2016 an.

Durchschnittliche Beteiligung von rund neun Prozent

Im vier­jäh­ri­gen Unter­su­chungs­zeit­raum vari­iert die Teil­nah­me­quo­te in den Aar­gau­er Gemein­de­ver­samm­lun­gen zwi­schen 0.8 Pro­zent und 44.7 Pro­zent. Die Unter­schie­de in der Betei­li­gung las­sen sich einer­seits durch den Gemein­de-Kon­text erklä­ren: In klei­ne­ren, dörf­li­chen und (par­tei­po­li­tisch) homo­ge­ne­ren Gemein­den nimmt ein signi­fi­kant grös­se­rer Anteil der Stimm­be­rech­tig­ten teil als in grös­se­ren, urba­ne­ren und (par­tei­po­li­tisch) hete­ro­ge­ne­ren Gemein­den. Ande­rer­seits kön­nen Unter­schie­de nicht nur zwi­schen den ver­schie­de­nen Gemein­den, son­dern auch zwi­schen den ein­zel­nen Ver­samm­lun­gen der­sel­ben Gemein­de erkannt wer­den. So fin­den sich signi­fi­kant mehr Stimm­be­rech­tig­te zu einer Gemein­de­ver­samm­lung ein, wenn beson­ders wich­ti­ge und span­nen­de Geschäf­te wie Bau­vor­ha­ben, Gemein­de­fu­sio­nen, Steu­er­fuss­erhö­hun­gen oder Nut­zungs­pla­nun­gen anstehen.

Mehr Anträge in urbanen und heterogenen Gemeinden

Ein gros­ser Vor­teil der Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie besteht dar­in, dass die vor­ge­leg­ten Geschäf­te dis­ku­tiert und mit­tels Antrag ergänzt, abge­än­dert oder zur Über­ar­bei­tung zurück­ge­wie­sen wer­den kön­nen. Die Ana­ly­se zeigt aber, dass die­se Mög­lich­kei­ten eher sel­ten genutzt wer­den. So gibt es in etwa der Hälf­te der Ver­samm­lun­gen weni­ger als sechs Wort­mel­dun­gen und nur 1.6 Pro­zent der Geschäf­te wer­den mit­tels Antrag erwei­tert und/oder ergänzt. Die akti­ve Par­ti­zi­pa­ti­on inten­si­viert sich aber in Abhän­gig­keit von  den behan­del­ten Geschäf­ten: Bei beson­ders wich­ti­gen und span­nen­den Geschäf­ten wie Nut­zungs­pla­nung, Schul­bau­ten, Bud­gets oder gewis­sen Regle­men­ten wer­den ver­mehrt Sach­an­trä­ge ein­ge­reicht. Dar­über hin­aus wer­den in grös­se­ren, urba­nen und (par­tei­po­li­tisch) hete­ro­ge­nen Gemein­den tendenziell
mehr Anträ­ge ein­ge­reicht und auch angenommen.

Breite Akzeptanz der Beschlüsse — kaum fakultative Referenden

Rund 98 Pro­zent der ana­ly­sier­ten Geschäf­te wer­den ange­nom­men. Die gefass­ten Beschlüs­se genies­sen ins­ge­samt eine hohe Akzep­tanz. Dies zeigt sich etwa dar­in, dass nur gegen sie­ben Pro­mil­le der nicht abschlies­send gefass­ten Beschlüs­se das fakul­ta­ti­ve Refe­ren­dum ver­langt wird. In der gros­sen Mehr­zahl der Geschäf­te fin­det sich also kei­ne refe­ren­dums­fä­hi­ge Grup­pe inner­halb der Stimm­bür­ger­schaft, die mit einem Ver­samm­lungs­be­schluss nicht ein­ver­stan­den ist und des­halb eine nach­träg­li­che Urnen­ab­stim­mung ver­langt. Dem­ge­mäss sind die Beschlüs­se mehr als die Sum­me von Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen. Auch die offe­ne Stimm­ab­ga­be ist für die gros­se Mehr­heit der ver­sam­mel­ten Stimm­be­rech­tig­ten kein Pro­blem: Nur gera­de bei 4 Pro­mil­le der Geschäf­te wird ein Antrag auf gehei­me Abstim­mung gestellt und in weni­ger als einem Pro­mil­le wird dann auch tat­säch­lich geheim abge­stimmt. Schliess­lich sei einer der gros­sen Vor­tei­le der direkt­de­mo­kra­ti­schen Ver­samm­lung fest­ge­hal­ten, den die Ana­ly­se bestä­tigt hat: Die Behör­den haben die Mög­lich­keit, auch unpo­pu­lä­re Mass­nah­men wie eine geplan­te Steu­er­fuss­erhö­hung zu erläu­tern und zu ver­mit­teln. Davon lei­tet sich umge­kehrt auch ein Druck bezüg­lich Trans­pa­renz und zur Recht­fer­ti­gung ab.

Ver­tief­te empi­ri­sche Unter­su­chung der Versammlungsdemokratie
Die Stu­die beruht auf der Dok­tor­ar­beit des Poli­tik­wis­sen­schaft­lers Phil­ip­pe E. Rochat an der Uni­ver­si­tät Zürich, der dafür mit­tels einer breit ange­leg­ten Daten­er­he­bung im Kan­ton Aar­gau Infor­ma­tio­nen zu über 1600 Gemein­de­ver­samm­lun­gen mit über 11’000 Geschäf­ten in 203 Gemein­den für einen Zeit­raum von vier Jah­ren gesam­melt und ana­ly­siert hat.

Das Zen­trum für Demo­kra­tie Aar­au (ZDA) ist ein For­schungs­zen­trum der Uni­ver­si­tät Zürich und der Fach­hoch­schu­le Nord­west­schweiz mit Sitz in Aar­au. Wei­te­re Trä­ger sind der Kan­ton Aar­gau und die Staat Aar­au. www.zdaarau.ch


Rochat, Phil­ip­pe E. (2019): «Die Aar­gau­er Gemein­de­ver­samm­lun­gen. Empi­ri­sche Ana­ly­se der Ein­woh­ner­ge­mein­de­ver­samm­lun­gen 2013 bis 2016», Stu­di­en­be­richt des Zen­trums für Demo­kra­tie Aar­au, Nr. 14 (März 2019).

Bild: Xavier Arnau / istockphoto.com

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