Die Macht der Doppelmandate

Dop­pel­man­da­te von Gemein­de­rats­mit­glie­dern in kan­to­na­len Par­la­men­ten sind in der Schweiz kei­ne Sel­ten­heit. Dass die­se auch einen Ein­fluss auf die kan­to­na­le Poli­tik haben, kann in der vor­lie­gen­den Unter­su­chung gezeigt wer­den. Gewich­tig zeigt sich der Ein­fluss vor allem bei Gemein­de­prä­si­den­tin­nen und ‑prä­si­den­ten.

Anders als in ver­schie­de­nen ande­ren demo­kra­ti­schen Län­dern (v.a. in Staa­ten der ehe­ma­li­gen Sowjet­uni­on) steht es den Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­ern in der Schweiz frei, ein zwei­tes poli­ti­sches Man­dat auf einer ande­ren Staats­ebe­ne zu beklei­den. Der Blick in die Kan­tons­par­la­men­te ver­deut­licht dies auf ein­drück­li­che Wei­se. In den Par­la­men­ten der Kan­to­ne Frei­burg, Appen­zell Inner­rho­den und Wal­lis sas­sen zwi­schen 2006 und 2014 mehr als 30 Pro­zent der Mit­glie­der gleich­zei­tig in einem Gemein­de­rat. Und in den Kan­to­nen Thur­gau, Waadt und Frei­burg ist nicht nur der Anteil Gemein­de­rä­tin­nen und Gemein­de­rä­te hoch: rund jede sieb­te Per­son beklei­det gleich­zei­tig auch das Amt der Gemein­de­prä­si­den­tin oder des Gemeindepräsidenten.

Trotz­dem, ein Blick auf Abbil­dung 1 zeigt: Der­ar­ti­ge Dop­pel­man­da­te sind nicht in allen Kan­tons­par­la­men­ten glei­cher­mas­sen stark ver­brei­tet. Gera­de in der Zen­tral­schweiz han­delt es sich eher um ein Rand­phä­no­men. Doch wie kann man die­se Unter­schie­de erklä­ren? Und macht es für die Poli­tik in einem Kan­ton über­haupt einen Unter­schied wie vie­le Gemein­de­rä­tin­nen und Gemein­de­rä­te im Kan­tons­par­la­ment sitzen?

 

Abbildung 1: Anteil Gemeindeexekutivmitglieder in den Kantonsparlamenten, 2006–2014 (Durchschnitt, in %)

* Für die Kan­to­ne Grau­bün­den und Jura lie­gen kei­ne Daten zu den Gemein­de­rä­tin­nen und Gemein­de­rä­ten vor.

Was erklärt die Unterschiede bei den Doppelmandaten zwischen den Kantonen?

Ins­be­son­de­re drei Fak­to­ren erklä­ren die unter­schied­lich star­ke Ver­brei­tung der Dop­pel­man­da­te in den Kantonen:

  • Anzahl Gemein­den: Mit der Anzahl Gemein­den in einem Kan­ton steigt auch die Anzahl Per­so­nen, die ein Gemein­de­rats­amt beklei­den und im End­ef­fekt erhöht dies auch die Anzahl Kan­tons­par­la­men­ta­rie­rin­nen und Kan­tons­par­la­men­ta­ri­er, die gleich­zei­tig ein Man­dat in der Gemein­de­exe­ku­ti­ve innehaben.
  • Pro­fes­sio­na­li­sie­rung von Kan­tons­par­la­men­ten: Dop­pel­man­da­te sind in jenen Kan­to­nen schwä­cher ver­brei­tet, in denen die Par­la­ments­mit­glie­der ein ver­gleich­bar hohes Salär bezie­hen und die Par­la­ments­ar­beit einen beträcht­li­chen Teil der Arbeits­zeit ein­nimmt. Oder umge­kehrt: Je mehr Zeit für ein Kan­tons­par­la­ments­amt auf­ge­wandt wer­den muss, des­to weni­ger Zeit exis­tiert, um neben­bei auch noch ein zwei­tes poli­ti­sches Amt in einer Gemein­de zu bekleiden.
  • His­to­ri­sche Grün­de: Im Kan­ton Appen­zell Inner­rho­den war bis 1972 gesetz­lich gere­gelt, dass die gewähl­ten Bezirks­rä­te (wie die Gemein­de­rä­te dort genannt wer­den) auto­ma­tisch auch für das Kan­tons­par­la­ment gewählt waren. Zwar gilt die­ser Auto­ma­tis­mus heu­te nicht mehr. Der Kan­ton gehört aber auch heu­te noch zu den Kan­to­nen mit den höchs­ten Antei­len an Doppelmandaten.
Welchen Einfluss haben Doppelmandate auf die Politik in einem Kanton?

Was sind aber die Aus­wir­kun­gen von Dop­pel­man­da­ten auf die Poli­tik in einem Kan­ton? Oder anders gefragt: Spielt es für die poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen in den Kan­tons­par­la­men­ten über­haupt eine Rol­le, wie vie­le Par­la­ments­mit­glie­der über ein Zweit­man­dat in der Gemein­de­exe­ku­ti­ve ver­fü­gen? Um die­se Fra­ge zu beant­wor­ten, bie­tet sich ein Blick auf den Poli­tik­be­reich der Son­der­schu­len an. Mit der 2008 vom Schwei­zer Stimm­volk ange­nom­me­nen Neu­ge­stal­tung des Finanz­aus­gleichs und der Auf­ga­ben­tei­lung (NFA) müs­sen die Kan­to­ne neu­er­dings die Son­der­schu­len ohne Zuschüs­se des Bun­des (kon­kret der Inva­li­den­ver­si­che­rung) finan­zie­ren. Die Kan­to­ne muss­ten einen neu­en Ver­teil­schlüs­sel fin­den, der klärt, wie die Kos­ten zwi­schen Kan­ton und Gemein­den ver­teilt wer­den. Und genau hier kom­men die Dop­pel­man­dats­trä­ge­rin­nen und –trä­ger ins Spiel: Für Gemein­den ist die Betei­li­gung an Son­der­schul­kos­ten wenig attrak­tiv, da sie nur sel­ten direkt von die­sen Inves­ti­tio­nen einen Nut­zen tra­gen kön­nen. Es ist des­halb zu erwar­ten, dass Gemein­de­rats­mit­glie­der in Kan­tons­par­la­men­ten ver­su­chen wer­den, den Kan­ton den Gross­teil (oder gar alles) der Son­der­schul­kos­ten bezah­len zu lassen.

Anhand einer sta­tis­ti­schen Ana­ly­se lässt sich prü­fen, ob die­se Ver­mu­tung auch zutrifft. Wie in Abbil­dung 2 ersicht­lich wird, zeigt sich tat­säch­lich, dass der von der kan­to­na­len Ebe­ne über­nom­me­ne Anteil der Son­der­schul­kos­ten grös­ser wird, je grös­ser der Anteil Gemein­de­rä­tin­nen und Gemein­de­rä­te im Kan­tons­par­la­ment ist.

In kon­kre­ten Zah­len: Nimmt der Anteil Gemein­de­rä­tin­nen und Gemein­de­rä­te im Kan­tons­par­la­ment um einen Pro­zent­punkt zu, erhöht sich der Kan­tons­an­teil bei den Son­der­schul­kos­ten um 1,1 Pro­zent­punk­te. Noch stär­ker ist der Zusam­men­hang, wenn man nur auf die Gemein­de­prä­si­den­tin­nen und Gemein­de­prä­si­den­ten schaut. Nimmt der Anteil Gemein­de­prä­si­den­tin­nen und Gemein­de­prä­si­den­ten im Par­la­ment um 1 Pro­zent­punkt zu, erhöht sich der Kan­tons­an­teil bei den Son­der­schul­kos­ten um 2,1 Pro­zent­punk­te. Das mag auf den ers­ten Blick wenig sein. Bei einer Zunah­me des Anteils Gemein­de­prä­si­den­tin­nen und Gemein­de­prä­si­den­ten um 10 Pro­zent, ent­spricht dies aber einer Ver­schie­bung der Kos­ten auf die Kan­tons­ebe­ne um gan­ze 21 Pro­zent. Dop­pel­man­da­te haben somit eine poli­ti­sche Schlag­kraft, die es nicht zu unter­schät­zen gilt.

 

Abbildung 2: Auswirkungen der Doppelmandate auf den Kantonsanteil bei den Sonderschulkosten

Anmer­kung: Für die Ana­ly­se wur­de ein soge­nann­tes baye­sia­ni­sches Modell gerech­net. Das ist ein sta­tis­ti­sches Ver­fah­ren, das durch ein mehr­fa­ches Wie­der­ho­len von Rechen­vor­gän­gen ver­sucht, dass pas­sends­te Modell für eine gege­be­ne Daten­struk­tur zu fin­den. Pro Modell wur­den wei­te­re mög­li­che Ein­fluss­fak­to­ren mit­be­rück­sich­tigt, damit am Schluss nur der Ein­fluss der bei­den in der Gra­fik auf­ge­führ­ten Fak­to­ren ermit­telt wer­den konnte. 

 

Was können wir aus diesen Ergebnissen schliessen?

Aus die­sen Resul­ta­ten kön­nen zwei­er­lei Schluss­fol­ge­run­gen gezo­gen wer­den: eine Posi­ti­ve und eine Nega­ti­ve. Posi­tiv for­mu­liert sind Gemein­de­exe­ku­tiv­mit­glie­der in Kan­tons­par­la­men­ten ein wich­ti­ges Ele­ment des föde­ra­len Staats­auf­baus in der Schweiz. Die Idee eines Föde­ral­staats besteht unter ande­rem dar­in, dass die unter­ge­ord­ne­te Ebe­ne ihre Inter­es­sen in die poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen der über­ge­ord­ne­te Ebe­ne ein­brin­gen kann. Mit den Dop­pel­man­da­ten wird genau dies ermöglicht.

Die Kehr­sei­te der Medail­le ist jedoch, dass nicht alle Gemein­den über einen sol­chen «Lob­by­is­ten» im Kan­tons­par­la­ment ver­fü­gen. Gera­de bei poli­ti­schen Geschäf­ten, bei denen die Inter­es­sen der Gemein­den aus­ein­an­der­ge­hen (z.B. bei Infra­struk­tur­ent­schei­dun­gen oder bei der Suche nach Stand­or­ten für Asyl­zen­tren), sind damit ein­zel­ne Gemein­den gegen­über ande­ren im Vorteil.

 


Refe­renz:

Arnold, Tobi­as (2018). Die Macht der Dop­pel­man­da­te, in: Vat­ter, Adri­an (Hg.): Das Par­la­ment in der Schweiz. Macht und Ohn­macht der Volks­ver­tre­tung. Zürich: NZZ Libro.

Lite­ra­tur:

  • Arnold, Tobi­as (2017): Play­ing the Ver­ti­cal Power Game: The Impact of Local Aut­ho­ri­ties in Can­to­nal Par­lia­ments on the Finan­cing of Spe­cial Schools. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review 23(2): 116–143.

Bild: www.kantonsrat.zh.ch

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