Der Ständerat im Schatten der Volkskammer? Die Gesetzgebungsmacht der Zweiten Kammer

In der Bun­des­ver­fas­sung der Schwei­ze­ri­schen Eid­ge­nos­sen­schaft ist fest­ge­hal­ten, dass die bei­den Kam­mern des Par­la­ments ein­an­der gleich­ge­stellt sind (Art. 148 Abs. 2 Bun­des­ver­fas­sung). Die Fra­ge ist jedoch, ob sich die­se recht­li­che Gleich­stel­lung auch im poli­ti­schen All­tag zu beob­ach­ten ist und wie sich das Ver­hält­nis in den letz­ten gut zehn Jah­ren ver­än­dert hat.

In den frü­hen Jah­ren des schwei­ze­ri­schen Bun­des­staats bestand ein kla­rer Vor­rang des Natio­nal­rats gegen­über dem Stän­de­rat. Seit Mit­te der 1990er-Jah­re hat sich die­se Vor­rang­stel­lung zuguns­ten des Stän­de­rats ver­scho­ben (Aubert 1998). Um das rea­le Macht­ver­hält­nis zwi­schen den bei­den Kam­mern der Schwei­ze­ri­schen Eid­ge­nos­sen­schaft in den letz­ten gut zehn Jah­ren zu ergrün­den, wur­den sämt­li­che bun­des­rät­li­chen Erlass­ent­wür­fe – ins­ge­samt knapp 1’000 – die zwi­schen Anfang 2006 und Ende 2017 im Par­la­ment behan­delt wur­den, analysiert.

Daten­grund­la­ge
Der Daten­satz ent­hält sämt­li­che bun­des­rät­li­chen Erlass­ent­wür­fe mit Erle­di­gungs­da­tum vom 1. Janu­ar 2006 bis am 31. Dezem­ber 2017. Nicht in die Ana­ly­se mit­ein­be­zo­gen wur­den Kom­mis­sionent­wür­fe, Berich­te des Bun­des­rats (die­se wer­den vom Par­la­ment ledig­lich zur Kennt­nis genom­men) und Geschäf­te mit einem beson­de­ren Dif­fe­renz­be­rei­ni­gungs­ver­fah­ren gemäss Art. 94a und Art. 95 ParlG. Eben­falls nicht in die Ana­ly­se mit­ein­be­zo­gen wur­den Geschäf­te, auf wel­che die Räte nicht ein­ge­tre­ten sind oder wel­che die Räte zurück­ge­wie­sen haben. Bei die­sen Geschäf­ten fin­det näm­lich kei­ne Detail­be­ra­tung und somit auch kei­ne Dif­fe­renz­be­rei­ni­gung im übli­chen Sin­ne statt. Ein­zel­ne Teil­vor­la­gen des­sel­ben Geschäfts wur­den ein­zeln betrach­tet. Die ein­zel­nen Teil­vor­la­gen kön­nen vom Par­la­ment näm­lich unab­hän­gig von­ein­an­der ver­än­dert wer­den. Der berei­nig­te Daten­satz ent­hält ins­ge­samt 954 bun­des­rät­li­che Erlassentwürfe.
Zunehmende Differenzen zwischen den beiden Räten seit 2015

Erlas­se der Bun­des­ver­samm­lung müs­sen von bei­den Kam­mern mit dem exakt glei­chen Wort­laut gut­ge­heis­sen wer­den. Bei Dif­fe­ren­zen zwi­schen den Räten grei­fen kom­pli­zier­te Eini­gungs­me­cha­nis­men. In der Lite­ra­tur (Schwarz und Lin­der 2008) wer­den die abwei­chen­den Beschlüs­se als Aus­mass für den Kon­flikt zwi­schen den bei­den Par­la­ments­kam­mern ver­wen­det. In der Detail­be­ra­tung – also nach­dem das Par­la­ment sich dafür aus­ge­spro­chen hat, auf ein Geschäft ein­zu­tre­ten – sind maxi­mal fünf abwei­chen­de Ent­schei­de zwi­schen den Par­la­ments­kam­mern mög­lich. Wird am Ende eine Eini­gungs­kon­fe­renz ein­ge­setzt, kann ein wei­te­rer abwei­chen­der Ent­scheid gefällt werden.

Abbildung 1: Vergleich der Anzahl Differenzen zwischen den Räten nach Legislaturperiode, 2006–2017 (in %)

Quel­le: Eige­ne Darstellung.

Seit den Wah­len 2015 sind die Mehr­heits­ver­hält­nis­se in den bei­den Par­la­ments­kam­mern (mit einer Mit­te-Rechts-Mehr­heit im Natio­nal- und einer poten­ti­el­len Mit­te-Links-Mehr­heit im Stän­de­rat) unter­schied­lich. Tat­säch­lich liegt der Anteil der bun­des­rät­li­chen Erlass­ent­wür­fe, bei denen es zwi­schen den bei­den Par­la­ments­kam­mern kei­ne Dif­fe­ren­zen gab, in der lau­fen­den 50. Legis­la­tur­pe­ri­ode rund zehn Pro­zent­punk­te tie­fer als in der ver­gan­ge­nen 49. Legis­la­tur­pe­ri­ode (vgl. Abbil­dung 1). Auch der Anteil der Ent­wür­fe, bei denen eine Eini­gungs­kon­fe­renz ein­ge­setzt wer­den muss­te, hat im Ver­gleich zu frü­he­ren Legis­la­tur­pe­ri­oden zuge­nom­men. Dies deu­tet auf ein leicht gestei­ger­tes Kon­flikt­po­ten­zi­al zwi­schen den bei­den Räten hin.

Dif­fe­renz­be­rei­ni­gungs­ver­fah­ren
Nach der Ein­tre­tens­de­bat­te und dem Abschluss der Detail­be­ra­tung im Erstrat, fin­det eine Gesamt­ab­stim­mung über die Annah­me oder die Ver­wer­fung der Vor­la­ge statt. Die­se geht anschlies­send in der vom Erstrat beschlos­se­nen Fas­sung in den Zweitrat. Falls die bei­den Kam­mern abwei­chen­de Ent­schei­de fäl­len, kommt das Dif­fe­renz­be­rei­ni­gungs­sys­tem zum Tra­gen: Die abwei­chen­den Beschlüs­se des einen Rats gehen an den ande­ren Rat zur Bera­tung zurück, bis sämt­li­che Unter­schie­de eli­mi­niert wer­den kön­nen. Die Bera­tun­gen bezie­hen sich dabei grund­sätz­lich nur noch auf die Dif­fe­ren­zen. Wenn die Dif­fe­ren­zen auch nach drei­ma­li­ger Bera­tung in jedem Rat nicht eli­mi­niert wer­den konn­ten, wird eine Eini­gungs­kon­fe­renz – bestehend aus 13 Mit­glie­dern aus bei­den Räten – ein­ge­setzt. Kann die­se kei­nen Kom­pro­miss­vor­schlag aus­ar­bei­ten oder wird ihr Vor­schlag von einem der bei­den Räte abge­lehnt, gilt die Vor­la­ge als geschei­tert (The­ler et al. 2014).
Abbildung 2: Durchschnittliche Anzahl Differenzen zwischen den Räten nach Politikbereich, 2006–2017

Quel­le: Eige­ne Darstellung.

Schaut man sich die Anzahl Dif­fe­ren­zen nach Poli­tik­be­reich an (vgl. Abbil­dung 2), so zeigt sich, dass es ins­be­son­de­re in den Berei­chen Raum­pla­nung und Woh­nungs­we­sen, Medi­en und Kom­mu­ni­ka­ti­on sowie in der Gesund­heits­po­li­tik ver­gleichs­wei­se vie­le Dif­fe­ren­zen zwi­schen den Kam­mern gab. Wenig umstrit­ten waren die Poli­tik­be­rei­che Inter­na­tio­na­le Poli­tik und Men­schen­rech­te, Staats­po­li­tik und Par­la­ment sowie die Sicherheitspolitik.

Ergebnisse näher bei den Präferenzen des Ständerats

In der Regel gilt das öffent­li­che Inter­es­se eher den Bera­tun­gen in jenem Rat, wel­cher einen bun­des­rät­li­chen Erlass­ent­wurf als ers­tes berät. Der soge­nann­te Erstrat kann die ers­ten Ver­än­de­run­gen vor­neh­men, dadurch die grund­sätz­li­che Stoss­rich­tung vor­ge­ben und grund­sätz­lich einen grös­se­ren Ein­fluss auf die Vor­la­ge neh­men (Tse­be­lis und Money 1997). Aus­ser­dem bedeu­tet die Zustim­mung zum Beschluss in der Fas­sung des ande­ren Rats, dass der Vor­schlag der ande­ren Kam­mer akzep­tiert wird. In der Regel fällt der Ent­wurf der vor­schla­gen­den Kam­mer auf die eige­nen Prä­fe­ren­zen opti­miert aus. Der Rat, wel­cher den Ent­wurf akzep­tiert, ist des­halb schlech­ter gestellt (Schwarz und Lin­der 2008).

Abbildung 3: Zustimmungsbeschlüsse der beiden Räte nach Erstrat, 2006–2017 (in %)

Quel­le: Eige­ne Darstellung.

Der Stän­de­rat wur­de 2006 bis 2017 bei gut 52 Pro­zent der Geschäf­te als Erstrat bestimmt, der Natio­nal­rat bei knapp 48 Pro­zent. Gleich­zei­tig hat der Natio­nal­rat bei knapp 55 Pro­zent der Ent­wür­fe den zustim­men­den Ent­scheid gefällt (vgl. Abbil­dung 3). Dem­entspre­chend folg­te der Stän­de­rat bei nur 45 Pro­zent der Geschäf­te der Fas­sung des Natio­nal­rats. Bei all jenen Erlass­ent­wür­fen, bei denen der Stän­de­rat als Erstrat fun­giert hat, fäll­te der Natio­nal­rat in mehr als 60 Pro­zent der Ent­wür­fe den zustim­men­den Ent­scheid. Im umge­kehr­ten Fall (Natio­nal­rat als Erstrat) zeigt sich ein rela­tiv aus­ge­gli­che­nes Bild: Der Stän­de­rat schloss sich in 52 und der Natio­nal­rat in 48 Pro­zent der Fäl­le dem ande­ren Rat an. Der Stän­de­rat wur­de somit häu­fi­ger als Erstrat aus­ge­wählt und konn­te dadurch ver­mehrt die grund­sätz­li­che Stoss­rich­tung bei der Bera­tung bun­des­rät­li­cher Erlass­ent­wür­fe fest­le­gen. Zudem for­mu­lier­te er eher den fina­len Erlass­ent­wurf. Folg­lich die Ergeb­nis­se der Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren von 2006 bis 2017 ins­ge­samt etwas näher bei den Prä­fe­ren­zen des Stän­de­rats lie­gen.[1]

 


[1] Es gilt anzu­mer­ken, dass sich anhand der vor­ge­nom­me­nen Ana­ly­se kei­ne Aus­sa­gen zu den inhalt­li­chen Unter­schie­den bzw. zum Aus­mass der Abwei­chun­gen zwi­schen den bei­den Rats­kam­mern machen las­sen. Hier­für müss­ten die Inhal­te der Bera­tun­gen der ein­zel­nen Erlass­ent­wür­fe im Detail ana­ly­siert werden.

Refe­renz:

Dick, Ser­ei­na (2018). Der Stän­de­rat im Schat­ten der Volks­kam­mer? Die Gesetz­ge­bungs­macht der Zwei­ten Kam­mer, in: Vat­ter, Adri­an (Hg.): Das Par­la­ment in der Schweiz. Macht und Ohn­macht der Volks­ver­tre­tung. Zürich: NZZ Libro.

Lite­ra­tur:

  • Aubert, Jean-Fran­çois (1998). Die Schwei­ze­ri­sche Bun­des­ver­samm­lung von 1848 bis 1998. Basel/Frankfurt am Main: Hel­bing & Lichtenhahn.
  • Dick, Ser­ei­na (2018). Der Stän­de­rat im Schat­ten der Volks­kam­mer? Die Gesetz­ge­bungs­macht der Zwei­ten Kam­mer. In: Vat­ter, Adri­an (Hg.), Das Par­la­ment in der Schweiz. Macht und Ohn­macht der Volks­ver­tre­tung: 233–261. Zürich: NZZ Libro.
  • Schwarz, Dani­el; Lin­der, Wolf (2008). Das Ver­hält­nis von Natio­nal- und Stän­de­rat im Dif­fe­renz­be­rei­ni­gungs­ver­fah­ren 1996–2005: Eine empi­ri­sche Ana­ly­se von Ein­fluss­po­ten­zi­al und Koali­ti­ons­ver­hal­ten. Bern: Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft, Uni­ver­si­tät Bern/Parlamentsdienste.
  • The­ler, Cor­ne­lia; Graf, Mar­tin; von Wyss, Moritz (2014). Par­la­ments­recht und Par­la­ments­pra­xis der Schwei­ze­ri­schen Bun­des­ver­samm­lung. Kom­men­tar zum Par­la­ments­ge­setz (ParlG) vom 13. Dezem­ber 2002. Basel: Hel­bing & Lichtenhahn.
  • Tse­be­lis, Geor­ge; Money, Jean­net­te (1997). Bica­me­ra­lism. Cam­bridge: Cam­bridge Uni­ver­si­ty Press.

Bild: www.parlament.ch

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