Eine Regierungskrise steht der Schweiz nicht bevor, denn nur wenige Regierungsvorlagen erleiden im Parlament Schiffbruch. Skeptisch macht jedoch, dass sich auch wichtige Fragen der Zukunft unter den Fehlschlägen befinden.
Ein gutes Verhältnis zwischen Regierung und Parlament sorgt für Stabilität und trägt zur Lösung politischer Probleme bei. Gleichzeitig sind die Mitglieder des Parlaments in der Schweiz die einzig direkt vom Volk gewählten Vertreter auf Bundesebene und in dieser Funktion mit der Kontrolle der Regierung betraut. An den gescheiterten Regierungsvorlagen lässt sich erkennen, wie gut sich Regierung und Parlament verstehen. Der Beitrag nimmt eine Bestandesaufnahme des bundesrätlichen Scheiterns im Parlament vor und sucht nach möglichen Erklärungen.
Ausgangspunkt: Professionalisierung des Parlaments
Das Besondere an den Beziehungen zwischen Parlament und Regierung in der Schweiz ist, dass Regierungsvorlagen im Parlament verändert oder ganz versenkt werden können, ohne dass daraus eine Regierungskrise erwächst. Dem Schweizer Bundesrat fehlen die in parlamentarischen Systemen üblichen institutionellen Druckmittel wie z.B. das Stellen der Vertrauensfrage oder die vorzeitige Parlamentsauflösung. Das Schicksal der Regierung ist demnach nicht mit demjenigen des Parlaments verknüpft. Daraus resultiert eine institutionell starke Stellung der Bundesversammlung, die jedoch über lange Zeit die knappen zeitlichen und finanziellen Ressourcen kontrastierte, welche dem Parlament für seine Arbeit zur Verfügung standen (Lüthi 2009; Schwarz et al. 2011). Die in den 1990er-Jahren angestossenen Strukturreformen haben die Professionalisierung der Parlamentsarbeit inzwischen stark forciert (Bütikofer 2014; Lüthi 2014). Sie sind ein wesentlicher Grund, weshalb die Bundesversammlung die vom Bundesrat eingebrachten Gesetzesentwürfe häufiger verändert als früher – insbesondere wenn die Geschäfte keinen aussenpolitischen Bezug aufweisen (Linder 2014; Vatter und Wirz 2015).
Scheitern: selten, aber zunehmend
Im Zuge dieser Entwicklung ist zu erwarten, dass sich die zunehmende Eigenständigkeit des Parlaments nicht nur bezüglich der Veränderung, sondern auch auf die Ablehnung von Regierungsvorlagen auswirkt. Tatsächlich ist im Zeitverlauf eine Zunahme der Ablehnungsquote festzustellen: Betrug diese in den beiden untersuchten Legislaturperioden zwischen 1995 und 2003 noch um die zwei Prozent, stieg sie bis 2017 auf deutlich über drei Prozent an. Diese Werte zeigen allerdings, dass auch in der Schweiz die Regierung mit ihren Vorhaben selten gänzlich Schiffbruch erleidet. Über die gesamte 22-jährige Untersuchungsperiode sind von 1’817 Bundesratsvorlagen nur gerade 54 vom Parlament abgelehnt worden (3%).
Häufigeres Scheitern wegen politischer Inkongruenz
Nicht nur das gesteigerte Selbstvertrauen des Parlaments, auch die parteipolitischen Entwicklungen – konkret die abnehmende politische Übereinstimmung in der Zusammensetzung von Bundesrat, Nationalrat und Ständerat – tragen ihren Teil zur Zunahme der gescheiterten Vorlagen bei. Dies zeigt sich daran, dass mit der 47. Legislaturperiode (2003-07) ein sprunghafter Anstieg der gescheiterten Vorlagen zu verzeichnen ist und der bisherige Höhepunkt dieser Entwicklung in der äusserst unruhig verlaufenen 48. Legislaturperiode (2007-11) lag. Im Jahr 2003 wurde nämlich die rechtsbürgerliche Mehrheit im Bundesrat gestärkt (mit der Wahl von Blocher und Merz), 2007 schliesslich erfolgte die Abwahl und Blocher und die deklarierte Oppositionsphase der SVP.
Ständerat ist regierungstreuer
In dieses Bild passt auch, dass Regierungsvorlagen doppelt so häufig allein am Nationalrat (37%) als allein am Ständerat (18,5%) scheitern. Denn im Gegensatz zum Nationalrat besteht in der kleinen Kammer für CVP und FDP bis heute die Möglichkeit, zusammen eine Mehrheit zu bilden. Mit über 44 Prozent am häufigsten werden die Bundesratsvorlagen allerdings von beiden Kammern gleichzeitig abgelehnt.
Gesundheits- und Sozialvorlagen am meisten gefährdet
Nicht schwer zu erraten sind die Themenfelder, welche am anfälligsten sind für bundesrätliche Bruchlandungen im Parlament: Anteilsmässig am häufigsten scheitern Vorlagen aus den Bereichen Raumplanung/Wohnungswesen, Gesundheit und Sozialpolitik, welche immer wieder Gegenstand heftiger politischer Kontroversen sind. Am anderen Ende der Skala fällt auf, dass aussen- und europapolitische Vorlagen zahlenmässig zwar häufig von der Regierung im Parlament eingebracht werden, aber im Untersuchungszeitraum nie gescheitert sind. Zwar ist die Aussenpolitik an sich nicht weniger konfliktreich, dennoch konnten die bundesrätlichen Vorlagen bislang auf einen breiten parlamentarischen Konsens von links bis rechts (mit Ausnahme der SVP) zählen.
Fazit
Wo befindet sich die Schweiz innerhalb des eingangs beschriebenen Spannungsfelds zwischen Stabilität und effizienter Problemlösung auf der einen Seite sowie wirksamer parlamentarischer Kontrolle und aktiver Mitwirkung in der Gesetzgebung auf der anderen Seite? Rein quantitativ betrachtet besteht kein Grund zur Panik: 54 Regierungsvorlagen (von insgesamt über 1’800), die in 22 Jahren gegen den Willen des Bundesrates abgelehnt wurden, stellen das System kaum vor Probleme. Skeptischer fällt das Résumé aus qualitativer Sicht aus. Unter den Fehlschlägen der letzten Jahre befinden sich wichtige Fragen der Zukunft wie beispielsweise die Altersvorsorge und die Finanzierung des Gesundheitswesens. Sollte das politische Auseinaderdriften von Bundesrat, Nationalrat und Ständerat auf Dauer nachhaltige Problemlösungen verhindern, wird das Vertrauen der Bevölkerung in die Fähigkeit der Politik schwinden.
Literatur
- Bütikofer, Sarah (2014). Das Schweizer Parlament. Eine Institution auf dem Pfad der Moderne. Baden-Baden: Nomos.
- Linder, Wolf (2014). Swiss Legislation in the Era of Globalisation: A Quantitative Assessment of Federal Legislation (1983-2007). Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft 20(2): 223–231.
- Lüthi, Ruth (2009). Die Schweizerische Bundesversammlung: Mit kleinen Reformschritten zu einer starken Institution? In von Blumenthal, Julia; Bröchler, Stephan (Hrsg.), Müssen Parlamentsreformen scheitern? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (171-199).
- Lüthi, Ruth (2014). Parlament. In Knoepfel, Peter, Yannis Papadopoulos, Pascal Sciarini, Adrian Vatter und Silja Häusermann (Hrsg.). Handbuch der Schweizer Politik / Manuel de la politique suisse. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung (169-192).
- Schwarz, Daniel, André Bächtiger und Georg Lutz (2011). Switzerland: Agenda-Setting Power of the Government in a Separation-of-Powers Framework. In Rasch, Bjørn Erik; Tsebelis, George (Hrsg.), The Role of Governments in Legislative Agenda Setting. Oxon/New York: Routledge (127-143).
- Vatter, Adrian und Rolf Wirz (2015). Der Einfluss der Bundesversammlung auf die Gesetzgebung unter besonderer Berücksichtigung der Parlamentarischen Initiative. Bern: Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern.
Referenz
Schwarz Daniel und Jan Fivaz (2018). Regierung und Parlament im Clinch: Eine Analyse gescheiterter Bundesratsvorlagen, in: Vatter, Adrian (Hg.): Das Parlament in der Schweiz. Macht und Ohnmacht der Volksvertretung. Zürich: NZZ Libro.
Bild: www.parlament.ch