Gendernationalismus, eine neue Spielform des politischen Nationalismus

Wer hät­te je gedacht, dass die Idee der Geschlech­ter­gleich­heit zu einem intrinsi­schen Cha­rak­te­ris­ti­kum des „Schweizer*in Seins“ wür­de? Mit Swiss­ness wer­den nicht mehr nur Pünkt­lich­keit, Ordent­lich­keit, Wan­der­schu­he und Skis asso­zi­iert. Neu­er­dings gilt Geschlech­ter­gleich­heit eben­falls als typisch schwei­ze­ri­sche Eigen­schaft. Ungleich sind nun­mehr nur noch die Ande­ren, die von aus­ser­halb der Schweiz kom­men. Das neue Kon­zept des Gen­der­na­tio­na­lis­mus beleuch­tet die­se Entwicklung.

Wie häu­fig haben wir in letz­ter Zeit die­ses Argu­ment gehört: „Wir“ Schweizer*innen leben Geschlech­ter­gleich­heit. Die Ande­ren, d.h. bestimm­te Migrant*innen aus dem aus­ser­eu­ro­päi­schen Raum oder Muslim*innen, sind kul­tu­rell von unglei­chen Geschlech­ter­be­zie­hun­gen geprägt und ver­stos­sen des­halb gegen grund­sätz­li­che Schwei­ze­ri­sche Wer­te. Geschlech­ter­gleich­heit wur­de zum Mass­stab, um zu defi­nie­ren, wer dazu gehö­ren kann und wer nicht.

Feminist*innen kämpf­ten seit Jahr­zehn­ten für Frau­en­rech­te, wobei sie immer in der Min­der­heit waren. Nun aber fin­den sie umfas­send Gehör, dann näm­lich, wenn die Geschlech­te­r­un­gleich­heit der Zuge­wan­der­ten und ihrer Kin­der auf der Agen­da steht. So heisst es in der Bro­schü­re Grund­re­geln des Zusam­men­le­bens des Kan­tons Luzern, die an Asyl­su­chen­de aus­ge­ge­ben wird: “Frau­en und Män­ner sind in der Schweiz gleichberechtigt.”

Die­ser Benimm­fly­er für Asyl­su­chen­de, aber auch Debat­ten über den Schwimm­un­ter­richt für Mäd­chen oder das Kopf­tuch sind Bei­spie­le die­ser dis­kur­si­ven Kon­struk­ti­on. Einer­seits wird die Idee sug­ge­riert, dass Gleich­stel­lung in der Schweiz eine voll­ende­te Tat­sa­che sei, obwohl nach wie vor Lohn­un­gleich­hei­ten zwi­schen Frau­en und Män­nern bestehen und Frau­en in Top­po­si­tio­nen in Ver­wal­tungs­rä­ten und an Uni­ver­si­tä­ten eine Min­der­heit stel­len. Ande­rer­seits wer­den Migran­tin­nen als Opfer ihrer geschlechts­un­glei­chen Kul­tur oder des Islams dar­ge­stellt, wäh­rend Migran­ten pau­scha­li­sie­rend zu Tätern wer­den. Wir behaup­ten natür­lich kei­nes­falls, dass es unter Migrant*innen kei­ne Geschlech­te­r­un­gleich­heit gibt, offen­sicht­lich gibt es die, genau­so wie unter Schweizer*innen. Sol­che sind zu bekämp­fen. Dar­um geht es in die­sem Bei­trag aber nicht. Viel­mehr zei­gen wir auf, wel­che Kon­se­quen­zen es hat, wenn Geschlech­te­r­un­gleich­heit nur noch den Ande­ren zuge­schrie­ben wird und nicht mehr uns betrifft.

Zur Erfas­sung die­ses Phä­no­mens möch­ten wir den Begriff des Gen­der­na­tio­na­lis­mus ein­füh­ren. Bei die­ser spe­zi­el­len Spiel­art eines poli­ti­schen Natio­na­lis­mus wird Geschlech­ter­gleich­heit zu einem nor­ma­ti­ven Impe­ra­tiv hoch­sti­li­siert. Folg­lich ist die Vor­stel­lung von Swiss­ness neu intrinsisch mit der Norm der Geschlech­ter­gleich­heit ver­floch­ten. Natio­na­le Grenz­zie­hun­gen und damit ein­her­ge­hen­de Ein- und Aus­schluss­pro­zes­se erfol­gen nach die­ser Logik.

Wie äus­sert sich Gen­der­na­tio­na­lis­mus?

Drei Bei­spie­le aus unse­rer NCCR-For­schung:

1. Geschlecht und Migra­ti­on waren in der Schweiz his­to­risch immer wie­der mit poli­ti­schen Natio­na­lis­mus ver­knüpft. Im Gen­der­na­tio­na­lis­mus rücken Migran­tin­nen erst­mals in den Fokus staat­li­cher Intervention.

Ein Ergeb­nis unse­rer NCCR-For­schung ist, dass Geschlecht his­to­risch immer wie­der mit natio­na­len Grenz­zie­hun­gen ver­bun­den war. Ein ers­tes Bei­spiel für kul­tu­ra­li­sier­te Geschlech­ter-Reprä­sen­ta­tio­nen stammt aus den 1960er Jah­ren im Rah­men der Über­frem­dungs­in­itia­ti­ven. So wur­den bei­spiels­wei­se die Ita­lie­ner als sexu­ell aggres­siv bezeich­net und als Gefahr für die ein­hei­mi­schen Frau­en präsentiert.

Im Gen­der­na­tio­na­lis­mus erfolgt die Ver­qui­ckung von Gen­der und Natio­na­lis­mus jedoch auf eine ande­re Art. Migran­ten wer­den – wie frü­her schon – als Täter dar­ge­stellt. Neu rücken nun jedoch Migran­tin­nen ins Zen­trum der poli­ti­schen und öffent­li­chen Auf­merk­sam­keit. Dies ist beson­ders im Zusam­men­hang mit Inte­gra­ti­ons­be­mü­hun­gen der Fall, im Zuge derer Migran­tin­nen pau­schal ein Eman­zi­pa­ti­ons­de­fi­zit und ein Opfer­sta­tus zuge­schrie­ben wird.

2. Gen­der­na­tio­na­lis­mus ist auf dem Weg zur Insti­tu­tio­na­li­sie­rung und wur­de zu einer weg­wei­sen­den Hand­lungs­an­lei­tung für Akteur*innen.

Im Rah­men unse­res NCCR-Pro­jek­tes unter­su­chen wir Ein­bür­ge­rungs­ver­fah­ren. Wir gehen der Fra­ge nach, gemäss wel­cher Kri­te­ri­en die Kandidat*innen als mehr oder weni­ger schwei­ze­risch defi­niert werden.

Die nor­ma­ti­ve Idee der Geschlech­ter­gleich­heit fin­det sich im Ein­bür­ge­rungs­pro­zess nicht in har­ten Kri­te­ri­en wie bei­spiels­wei­se dem Wohn­sitz­nach­weis, son­dern in den wei­chen Kri­te­ri­en, die den Ein­bür­ge­rungs­ent­schei­den eben­falls zugrun­de liegen.

Rele­vant bei die­sen wei­chen Kri­te­ri­en ist, dass sie den ver­ant­wort­li­chen Bürokrat*innen einen Ermes­sens­spiel­raum las­sen. Es zeigt sich, dass die Geschlech­ter­gleich­heit eine der Scha­blo­nen ist, auf Grund deren das Ein­bür­ge­rungs­po­ten­ti­al eru­iert wird. Zum Bei­spiel wird erwar­tet, dass aus­län­di­sche Frau­en erwerbs­tä­tig und die Haus­ar­beit von ihrem Ehe­mann mit­ge­tra­gen wird (als ob das bei jedem Schwei­ze­ri­schen Paar der Fall wäre!). Ist dies erfüllt, steigt das Poten­ti­al für einen posi­ti­ven Ein­bür­ge­rungs­ent­scheid und umgekehrt.

In Lau­sanne wur­de kürz­lich einem Paar die Ein­bür­ge­rung mit der Begrün­dung ver­wei­gert, dass sie „ein grund­sätz­li­ches Prin­zip unse­rer Ver­fas­sung nicht respek­tie­ren wür­den, näm­lich die Gleich­heit zwi­schen Frau­en und Män­nern“, wie die Le Temps berich­te­te. Die­se Bei­spie­le illus­trie­ren, dass Gen­der­na­tio­na­lis­mus zu einer weg­wei­sen­den Hand­lungs­an­lei­tung für Akteur*innen gewor­den ist und somit bei­läu­fig insti­tu­tio­na­li­siert wurde.

3. Gen­der­na­tio­na­lis­mus wur­de zen­tral für Stig­ma­ti­sie­run­gen auch bei Nach­kom­men von Migrant*innen und pro­du­ziert damit neue For­men (natio­na­lis­ti­schen) Ausschlusses.

Es gehört qua­si zur bio­gra­phi­schen Erfah­rung von Nach­kom­men von Migrant*innen der soge­nann­ten zwei­ten Genera­ti­on, zu Ande­ren gemacht zu wer­den, unab­hän­gig davon, ob sie in der Schweiz gebo­ren und auf­ge­wach­sen ist und gar die Staats­bür­ger­schaft besit­zen. In unse­rem NCCR-Pro­jekt berich­te­ten Secon­dos und Secon­das, dass sie pau­schal unter Dau­er­ver­dacht stän­den, geschlechts­un­gleich zu sein, auch wenn sie sich klar und deut­lich für Geschlech­ter­gleich­heit aus­spre­chen. Gen­der­na­tio­na­lis­mus kann also als poli­ti­scher Natio­na­lis­mus auch Schwei­zer Bürger*innen betreffen.

Wel­che Kon­se­quen­zen hat der Gen­der­na­tio­na­lis­mus?

Gen­der­na­tio­na­lis­mus, als Spiel­art eines poli­ti­schen Natio­na­lis­mus, defi­niert Grenz­zie­hun­gen neu und hat des­halb kon­kre­te Kon­se­quen­zen für das Zusam­men­le­ben in der Schweiz. Ers­tens ver­leug­net er die kon­stan­te Geschlech­te­r­un­gleich­heit in der ein­hei­mi­schen Gesell­schaft. Zwei­tens erlaubt er durch sei­ne Pau­scha­li­sie­rung uns als die ein­zig guten und legi­ti­mier­ten Bürger*innen dar­zu­stel­len. Gen­der­na­tio­na­lis­mus inkor­po­riert damit einen natio­na­len (oder auch west­li­chen) Über­le­gen­heits­blick, der his­to­risch in eine neue For­mel gebracht wur­de. Drit­tens för­dert die­se Über­le­gen­heits­ideo­lo­gie natio­na­le Kohäsion.

Dies hat aber sei­ne Kos­ten, denn Gen­der­na­tio­na­lis­mus führt zu Stig­ma­ti­sie­run­gen, Aus­schluss und för­dert Des­in­te­gra­ti­ons­pro­zes­se – ins­be­son­de­re, wenn sol­che sozia­le Miss­ach­tung über Genera­tio­nen hin­weg erfolgt, und wenn er zur Hand­lungs­an­lei­tung von Akteur*innen in Insti­tu­tio­nen wird. Gen­der­na­tio­na­lis­mus wider­spricht den Grund­wer­ten libe­ra­ler, moder­ner und demo­kra­ti­scher Rechtsstaaten.

Eine eng­li­sche Ver­si­on die­ses Bei­trags ist hier ver­öf­fent­licht.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag wur­de am 6. Sep­tem­ber 2018 auf dem Blog des NCCR on the move erstveröffentlicht.

Bild: Illus­tra­ti­on von Kait­lyn Flannagan

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