Wer Medien konsumiert, könnte leicht zur Auffassung gelangen, der Begriff Populismus sei innert kürzester Zeit zum dominierenden Phänomen des politischen Diskurses westlicher Länder geworden. Doch das stimmt nicht. Der politische Populismus ist kein neues Phänomen und Medien helfen eher, ihn einzudämmen als auszuweiten.
Wohl wenige Begriffe haben in den letzten Jahren einen derartigen Aufstieg im öffentlichen Diskurs erfahren wie der des Populismus. So hat beispielsweise die NZZ im Jahre 1970 gerade einmal fünf Artikel gedruckt, welche diesen Begriff verwendet haben. Im vergangenen Jahr erschienen hingegen – auch wegen des US-Präsidentschaftswahlkampfes – 328 entsprechende Artikel.
Ist der Begriff oder das Phänomen Populismus neu?
Haben wir einfach einen neuen Begriff für etwas gefunden, das seit jeher zur Politik gehört oder sind Parteien und Medien in den letzten Jahren viel populistischer geworden? Da Populismus als Begriff inzwischen in den Medien omnipräsent ist, vermittelt einem dies das Gefühl, dass nicht nur der mediale Begriff, sondern Populismus als politisches Phänomen etwas Neues ist. Dass also der politische Diskurs tatsächlich viel stärker populistisch geprägt ist als früher. Befinden wir uns tatsächlich im “populistischen Zeitgeist”, wie es der niederländische Forscher Cas Mudde formuliert?
Dem stimmt ein Teil der Politikwissenschaft zu und bringt zwei Argumente vor:
- Erstens wird auf den Prozess der Globalisierung verwiesen, welcher es den regierenden Parteien zunehmend schwerer macht, überhaupt noch eine eigenständige nationale Politik gemäss dem Wählerwillen zu betreiben. Da die nationalen Regierungen in einer globalisierten Welt internationalen Zwängen unterworfen sind, fühlen sich viele Bürgerinnen und Bürger nicht mehr durch die politischen Eliten vertreten. Sie wenden sich folglich vom politischen Establishment ab und neuen Parteien zu. Liberale, sozialdemokratische und christdemokratische Parteien haben in den letzten beiden Jahrzehnten in vielen zentral- und nordeuropäischen Ländern deutlich Stimmenanteile an neue – vorab rechtskonservative – Bewegungen verloren. Letztere prägen mit ihrem Populismus zunehmend den politischen Diskurs.
- Zweitens werde diese Entwicklung zusätzlich durch die kommerzialisierten Medien begünstigt, welche in einem hart umkämpften Markt um Leseraufmerksamkeit die idealen Partner für die einfachen Botschaften der neuen politischen Akteure sind und diesen deshalb als Plattform zur Verbreitung ihrer populistischen Rhetorik dienen würden.
“Das Volk” als zentrales Element des Populismus
Obwohl diese theoretischen Überlegungen überzeugend scheinen, wurde bisher empirisch wenig dazu geforscht. Aus diesem Grund haben wir den Populismus im Diskurs der Parteien und in den Medien bis zurück in die 1970er-Jahre untersucht.
Gesamthaft haben wir 111 Wahlprogramme und 3’543 Zeitungsbeiträge analysiert. Erhoben wurden dabei alle Aussagen zu politischen Themen (“weniger Immigration”, “mehr Umweltschutz” etc.) sowie positive oder negative Bewertungen von gesellschaftlichen Akteuren (“Der Bundesrat ist unfähig”, “Der Nationalrat hat gut gearbeitet”). Separat erhoben wurden populistische Aussagen. Darunter fallen solche Aussagen, welche entweder a) Das Volk als positive bewertete Einheit mit einheitlichem Willen als Bezugspunkt haben (“Das Volk will diese Politik nicht”), b) die Eliten dafür kritisieren, dass sie zu weit weg vom Volk sind (“Der Bundesrat ignoriert den Willen des Volkes”) oder c) Volkssouveränität einfordern (“Das Volk muss wieder ernst genommen werden!”).
Für unsere Untersuchung haben wir populistische Aussagen unabhängig vom politischen Standpunkt des Sprechers untersucht. Sie stammen von Personen mit linker, liberaler oder konservativer Ausrichtung. Entscheidend ist auch nicht, ob die Aussage zur Immigrationspolitik, Wirtschaftspolitik oder Umweltpolitik gemacht wurde, sondern lediglich ob “das Volk” das zentrale Element der Aussage war.
Populismus, wie er in dieser Arbeit und dem Grossteil der übrigen Forschung zu diesem Thema verstanden wird, ist auch nicht ausschliesslich negativ zu werten. Die Wertung von Populismus hängt davon ab, wie man persönlich mit der politischen Lage und den politischen Repräsentanten zufrieden ist. Je nachdem kann die Rede vom Volk, dessen Wille von den Eliten missachtet wird, entweder negativ als gefährliche “Volksverhetzung” oder positiv als legitime und notwendige Kritik an den Herrschenden im Namen des Volkes und der Demokratie bewertet werden.
Populismus ist kein neues Phänomen
Die Abbildung zeigt, wie sich der Anteil an Populismus in den Zeitungsartikeln und Wahlprogrammen in den fünf untersuchten Länder seit den 1970er Jahren entwickelt hat.
Lesehinweis: Die Prozentwerte populistischer Aussagen sind der Anteil von als populistisch kodierten Aussagen an sämtlichen kodierten politischen Aussagen zu Sachthemen und Akteuren in den jeweiligen Zeitungsartikeln oder Wahlprogrammen.
Auf den ersten Blick wird klar, dass die zeitliche Entwicklung des Populismus im politischen Diskurs von Parteien und Medien wenig mit der explosionsartigen Zunahme des Begriffes Populismus in den Zeitungsartikeln der NZZ (vgl. erste Abbildung) und der übrigen Medien zu tun hat.
Populismus ist in westeuropäischen Ländern kein neues Phänomen, welches erst in den letzten Jahren entstanden ist. Alle fünf Länder weisen in Bezug auf die Wahlprogramme der Parteien bereits in früheren Jahrzehnten temporär ähnlich hohe Werte auf wie in den 2010er Jahren.
Betrachtet man allerdings den Durchschnitt aller fünf Länder, kann in diesem Jahrzehnt ein neuer Höchststand festgestellt werden. Der Verlauf ist aber über die fünf Jahrzehnte keineswegs linear. Auch sind die Verläufe in den fünf Ländern zum Teil sehr unterschiedlich. So weist die Schweiz bereits in den 1990er und 2000er Jahren relativ hohe Werte auf, während die meisten anderen Länder in diesen Jahrzehnten deutlich tiefere Werte verzeichnen.
Fast noch auffälliger ist die Tatsache, dass in Zeitungsartikeln über sämtliche Jahrzehnte hinweg viel weniger populistische Aussagen zu finden sind als in Wahlprogrammen. Dies widerspricht insbesondere der Theorie, dass die Medien durch ihre Affinität zu kurzen, emotionalen Aussagen helfen, populistische Aussagen in die Öffentlichkeit zu transportieren.
Dieses Ungleichgewicht zwischen dem Anteil populistischer Aussagen in Wahlprogrammen und demjenigen in den Zeitungen ist nicht nur konsistent über die Zeit, sondern auch über die Länder. Am extremsten ist die Diskrepanz allerdings in den Wahlen von 2013 (2010er Jahre) in Deutschland. Während die Parteien in ihren Wahlprogrammen sehr viel für “das Volk” eintreten und die Eliten dafür kritisieren, das Volk zu wenig ernst zu nehmen, finden solche Aussagen nur äusserst selten Eingang in die Presseartikel der beiden untersuchten Zeitungen Süddeutsche Zeitung und Bild.
In Bezug auf den durchschnittlichen Grad an Populismus in den Zeitungen aller fünf Länder zeigt sich, dass dieser zwar in diesem Jahrzehnt leicht angestiegen ist (von ca. ein Prozent der Aussagen in früheren Jahrzehnten auf 1.5 Prozent) aber dass das Niveau im Vergleich zum Populismus in den Wahlprogrammen der Parteien sehr tief bleibt.
Wir können also feststellen: Was vor allem neu am Populismus ist, ist dass wir darüber sprechen. Populismus als Appell an das Volk und Fundamentalkritik an den Eliten ist im politischen Diskurs der westeuropäischen Länder kein neues Phänomen. Schon vor vierzig Jahren waren Parteien populistisch. Allerdings hat das Ausmass über die letzten zehn Jahre insgesamt zugenommen.
Zudem findet sich in den Zeitungen über alle untersuchten Länder und Jahrzehnte hinweg nur ein vergleichsweise geringer Anteil populistischer Aussagen. Sie scheinen die Ausbreitung populistischer Aussagen heute wie in früheren Jahrzehnten eher einzuschränken als zu unterstützen. Der heute sehr hohe Grad an Populismus im Diskurs der Wahlprogramme der Parteien findet keinen entsprechenden Ausdruck in den Zeitungsartikeln der wichtigsten Printmedien. Dies ist besonders deshalb bemerkenswert, weil gerade die Medien von den populistischen Akteuren dafür kritisiert werden, vor allem die Interessen des politischen Establishments anstatt der Gesamtbevölkerung zu vertreten.
Hinweis: Dieser Beitrag basiert auf dem Kapitel von Luca Manucci und Edward Weber aus dem Sonderheft der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft zum Populismus (Heft 23(4), 2017):
- Manucci, Luca & Edward Weber (2017). Why The Big Picture Matters: Political and Media Populism in Western Europe since the 1970s.
Literatur:
- Mudde, Cas (2004). The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition 39(4): 542–563.
- Manucci, Luca und Edward Weber (2017). Why The Big Picture Matters: Political and Media Populism in Western Europe since the 1970s, in: Swiss Political Science Review. doi:10.1111/spsr.12267 (wird dann noch verlinkt)
Bild: Pixabay.