Schwache Wahlbeteiligung nach Gemeindefusion

Die Anzahl Gemein­den in der Schweiz nimmt rasant ab. Seit 2000 wur­den rund 800 von 2900 Schwei­zer Gemein­den auf­ge­ho­ben. Die Reform der „Schu­le der Demo­kra­tie“ ist also in vol­lem Gan­ge. Trotz­dem wis­sen wir kaum, wie sich Fusio­nen auf die Gemein­de­de­mo­kra­tie aus­wir­ken. In unse­rer Unter­su­chung zei­gen wir, dass Fusio­nen das Funk­tio­nie­ren der loka­len Demo­kra­tie beein­flus­sen. Nach der Fusi­on betei­li­gen sich deut­lich weni­ger Bür­ge­rin­nen und Bür­ger an Wah­len als vor der Fusion.

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Gemein­den haben einen spe­zi­el­len Platz im poli­ti­schen Den­ken im All­ge­mei­nen und in der Schwei­zer Demo­kra­tie im Spe­zi­el­len. Sie wer­den hier­zu­lan­de in Anleh­nung an Alexis de Toc­que­vil­le von vie­len als Schu­len der Demo­kra­tie ver­stan­den. In die­sem Ver­ständ­nis sind Gemein­den einer­seits eigen­stän­di­ge und eigen­ar­ti­ge poli­ti­sche Ein­hei­ten der geleb­ten Selbst­re­gie­rung. Ande­rer­seits sind Gemein­den aber auch zen­tral für die demo­kra­ti­sche Pra­xis des gesam­ten poli­ti­schen Systems.

In der Gemeinde ist die direkte Demokratie am stärksten

Die Demo­kra­tie in der Gemein­de ist in einem viel umfas­sen­de­ren Sin­ne direkt als auf über­ge­ord­ne­ter Ebe­ne: Bür­ge­rin­nen und Bür­ger (aber oft auch jene Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner ohne Schwei­zer Bür­ger­recht) kön­nen nicht nur über bestimm­te Vor­la­gen abstim­men, son­dern sind auch in der Poli­tik­for­mu­lie­rung und in der Poli­ti­k­um­set­zung wesent­lich betei­ligt. In der Gemein­de, so Toc­que­vil­le, wird Poli­tik gelernt und die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger dazu ange­regt, sich noch stär­ker zu betei­li­gen. Der Bür­ger­sinn, des­sen Man­gel gegen­wär­tig zuneh­mend beklagt wird, ent­steht in der Gemein­de­po­li­tik. Trotz die­ser fun­da­men­ta­len Bedeu­tung der Gemein­de ist bis­lang kaum unter­sucht wor­den, wie sich Gemein­de­fu­sio­nen auf demo­kra­ti­sche Pro­zes­se auswirken.

Einfluss der Gemeindefusionen auf die Wahlbeteiligung im Tessin

Für unse­re Unter­su­chung haben wir die Gemein­de­rats­wah­len im Tes­sin von 1996 bis 2012 betrach­tet und ver­sucht zu iden­ti­fi­zie­ren, ob Gemein­de­fu­sio­nen einen Effekt auf die Wahl­be­tei­li­gung haben. Zu Beginn der Unter­su­chungs­pe­ri­ode gab es im Tes­sin 245 Gemein­den, davon waren bis 2012 133 an Fusio­nen betei­ligt. 98 Gemein­den haben in die­sem Zeit­raum ein­mal fusio­niert, 24 zwei­mal und elf sogar dreimal.

Im Tes­sin ging die Wahl­be­tei­li­gung im Durch­schnitt aller Gemein­den (bzw. uffi­ci elet­to­ra­li) zwi­schen 1996 und 2012 von 75.8 Pro­zent auf 60.6 Pro­zent zurück. Fusio­nen brem­sen die­se Ent­wick­lung nicht, im Gegen­teil: sie beschleu­ni­gen sie. Gemäss unse­ren Berech­nun­gen sinkt die Wahl­be­tei­li­gung in fusio­nier­ten Gemein­den signi­fi­kant stär­ker als in nicht fusio­nier­ten Gemein­den. Die­ser Effekt ver­stärkt sich, je klei­ner der Anteil der Stimm­be­rech­tig­ten einer Gemein­de an der fusio­nier­ten Gemein­de ist. Zudem zeigt unse­re Ana­ly­se, dass der Effekt bei der ers­ten Fusi­on am stärks­ten ist. Kurz: Fusio­nen wir­ken sich auf das Funk­tio­nie­ren der Demo­kra­tie in der Gemein­de aus, zwar zeit­spe­zi­fisch und nicht gleich­för­mig, aber sie haben einen Effekt.

Abbildung: Unterschiedliche Wahlbeteiligung der Gemeinden in den drei untersuchten Wahlzyklen

Was bedeuten diese Ergebnisse für die Gemeindepolitik?

Fusio­nen wer­den meist dann zum The­ma, wenn Gemein­den an Leis­tungs­gren­zen stos­sen. Gemein­de­zu­sam­men­schlüs­se gel­ten als (mehr oder weni­ger) wir­kungs­vol­les Instru­ment, um die Leis­tungs­fä­hig­keit von Gemein­den zu ver­bes­sern. Was bis­lang sowohl in der Pra­xis wie auch in der For­schung weni­ger Beach­tung erfah­ren hat, sind die Fol­gen von Fusio­nen auf die Gemein­de ver­stan­den als Schu­le der Demokratie.

Unse­re Stu­die hat nach­ge­wie­sen, dass Gemein­de­zu­sam­men­schlüs­se mit Blick auf Wah­len demo­bi­li­sie­rend wir­ken. Ob die­ser Effekt auch bei ande­ren Par­ti­zi­pa­ti­ons­for­men ein­tritt, bedarf noch der empi­ri­schen Prü­fung. Die Gemein­de als Schu­le der Demo­kra­tie scheint jeden­falls durch Fusio­nen nicht gestärkt zu wer­den. Für die poli­ti­sche Pra­xis wäre wich­tig zu wis­sen, wie Fusio­nen gestal­tet wer­den müs­sen, um das Poten­zi­al demo­kra­ti­scher All­tags­pra­xis, das die Gemein­den als poli­ti­sche Ein­heit eige­ner Art ver­spricht, zu ver­wirk­li­chen und nicht wei­ter einzuschränken.

Wie misst man Effek­te von Gemeindefusionen?
Das Feh­len soli­der empi­ri­scher Arbei­ten hat damit tun, dass Fusi­ons­ef­fek­te in der rea­len Poli­tik schwie­rig zu beob­ach­ten sind. Das metho­di­sche Pro­blem von Gemein­de­fu­sio­nen besteht dar­in, dass sich die Unter­su­chungs­ein­heit selbst ver­än­dert, in wel­chem wir Effek­te fin­den möch­ten: Aus Zwei wird Eins. Gab es vor den Wah­len zwei unter­schied­li­che Gemein­de­rats­wah­len, fin­det nach der Fusi­on nur noch eine statt. Die vor der Fusi­on exis­tie­ren­den Gemein­den ver­schwin­den mit der Fusi­on als epis­te­mo­lo­gi­sche poli­ti­sche Objek­te. Es sei denn, die Gemein­den wer­den qua­si künst­lich am Leben erhal­ten, etwa in Form von Wahlkreisen.

Dies war bis 2012 im Kan­ton Tes­sin der Fall. Erlo­sche­ne Gemein­den exis­tier­ten als uffi­ci elet­to­ra­li bei Wah­len wei­ter, d.h. Ergeb­nis­se von Gemein­de­rats­wah­len wur­den nach Fusio­nen auf der Ebe­ne der Wahl­bü­ros ver­öf­fent­licht. In unse­re Unter­su­chung haben wir 878 Gemein­de­rats­wah­len ver­teilt über fünf Wah­len auf­ge­nom­men (1996, 2000, 2004, 2008, 2012), aller­dings wur­de nur jene Gemein­de­rats­wah­len berück­sich­tigt, die am für alle gül­ti­gen Ter­min die Wah­len tat­säch­lich abge­hal­ten und nicht ver­scho­ben oder still gewählt haben. 


Refe­renz:

Koch, Phil­ip­pe und Phil­ip­pe Rochat (2017). The Effects of Local Government Con­so­li­da­ti­on on Tur­nout: Evi­dence from a Qua­si-Expe­ri­ment in Switz­er­land, in: Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review 23 (3).

Bild: Wiki­me­dia Com­mons.

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