Nicht-Schweizer” Namen im Bundesrat: Die Wahl von Cassis oder Maudet wäre präzedenzlos

Die öffent­li­che Dis­kus­si­on rund um die Dop­pel­bür­ger­schaft der Bun­des­rats­kan­di­da­ten Igna­zio Cas­sis und Pierre Mau­det ist eine gute Gele­gen­heit, um die Fra­ge zu klä­ren, wie gut die Bevöl­ke­rung “mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund” im Bun­des­rat ver­tre­ten ist.[1] 

Zu die­sem Zweck haben wir die Fami­li­en­na­men aller Bun­des­rä­tin­nen und Bun­des­rä­te seit 1848 unter die Lupe genom­men. Das Fami­li­en­na­men­buch der Schweiz dien­te als Grund­la­ge, um Regie­rungs­mit­glie­der zu iden­ti­fi­zie­ren, die kei­nen „typisch schwei­ze­ri­schen“ Namen haben. In die­ser Daten­bank sind alle Per­so­nen mit Bür­ger­recht in einer Schwei­zer Gemein­de vor 1962 ver­zeich­net. Fami­liena­men, die vor dem Jahr 1800 im Fami­li­en­na­men­buch erfasst wur­den, betrach­ten wir als alt­ein­ge­ses­se­ne Namen.

Migra­ti­ons­hin­ter­grund und “typisch schwei­ze­ri­sche Namen”
Im Fami­li­en­na­men­buch der Schweiz sind alle Fami­li­en­na­men der Schwei­zer Bür­ge­rin­nen und Bür­ger bis 1962 detail­liert regis­triert. Dadurch kann in Erfah­rung gebracht wer­den, in wel­chen Gemein­den, Kan­to­nen und seit wann ein Nach­na­me ver­tre­ten ist. Die ältes­ten hie­si­gen Nach­na­men kön­nen bis vor 1800 in einer Schwei­zer Gemein­de ver­or­tet wer­den. Bei den neue­ren han­delt es sich um die Nach­na­men von im Lau­fe der Zeit ein­ge­bür­ger­ten Aus­län­dern. Das Fami­li­en­na­men­buch gibt jedoch noch kei­ne end­gül­ti­ge Ant­wort dar­auf, ob jemand ein Bür­ger oder eine Bür­ge­rin mit “Migra­ti­ons­hin­ter­grund” ist – ein Kon­zept, das schon an sich nicht ein­deu­tig defi­nier­bar ist – erlaubt aber eine rela­tiv gute Ein­schät­zung. Fast alle Par­la­men­ta­ri­er, von denen wir auf­grund von Medi­en­be­rich­ten wis­sen, dass Sie einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund auf­wei­sen, haben Nach­na­men, die tat­säch­lich nicht in der Daten­bank zu fin­den sind (z.B. Ada Mar­ra NR SP/VD, Rebec­ca Ruiz NR SP/VD, Rober­ta Pan­ta­ni NR Lega/TI). Das bedeu­tet, dass die ers­ten Fami­li­en­mit­glie­der der Par­la­ments­mit­glie­der mit dem­sel­ben Nach­na­men erst nach 1962 ein­ge­bür­gert wur­den. Nur weni­ge kön­nen nicht iden­ti­fi­ziert wer­den (z.B. Yvette Ester­mann, geb. Ive­ta Gav­laso­vá) oder sehen sich selbst ohne Migra­ti­ons­hin­ter­grund (z.B. Dani­el Jositsch).
Wie steht es um die Schweizer Bundesräte?

Das Ergeb­nis ist hoch­in­ter­es­sant: Von den ins­ge­samt 116 Bun­des­rä­tin­nen und Bun­des­rä­ten hat­ten nur sechs kei­nen alt­ein­ge­ses­se­nen Schwei­zer Namen. Bei vie­ren davon han­delt es sich um Namen, die im Lau­fe des 19. Jahr­hun­derts „ein­ge­schwei­zert“ wur­den. Dies sind Paul Cere­so­le (Bun­des­rat 1870–75), Adri­en Lachen­al (BR 1893–99), Geor­ges-André Che­val­laz (BR 1974–83), Pas­cal Cou­ch­epin (BR 1998–2009) und schliess­lich Chris­toph Blo­cher (BR 2004-07). Mit nur einer Aus­nah­me (Blo­cher) han­delt es sich um Wel­sche Bun­des­rä­te und in allen Fäl­len (auch bei Blo­cher) kam die ers­te ein­ge­bür­ger­te Per­son mit dem­sel­ben Namen aus Frank­reich. Zu den fünf Män­nern kommt eine Frau, Eli­sa­beth Kopp aus Zürich, hin­zu (BR 1984–89). Ihr Mäd­chen­na­me, Iklé, stammt aus Deutsch­land und wur­de 1882 im Kan­ton St. Gal­len „ein­ge­schwei­zert“.

Doch auch bei den oben­ge­nann­ten Bun­des­rä­ten gibt es nie­man­den mit einem Fami­li­en­na­men, wel­cher erst nach 1900 «ein­ge­schwei­zert» wur­de. Das dürf­te sich aber bald schon ändern. So stammt der Fami­li­en­na­me Cas­sis aus Ita­li­en. Die ers­ten Cas­sis wur­den 1908 in Caden­az­zo TI und 1922 in Rüti ZH ein­ge­bür­gert. Der Fami­li­en­na­me Mau­det erscheint in der Daten­bank über­haupt nicht. Das heisst, dass die ers­te Ein­bür­ge­rung eines Mau­dets erst nach 1962 erfolgt sein muss. Nur bei der Wahl von Isa­bel­le Moret wür­de wie­der jemand mit einem ursprüng­lich schwei­ze­ri­schen, kon­kret waadt­län­di­schen, Fami­li­en­na­me gewählt.

Inter­es­sant ist auch die Tat­sa­che, dass vie­le ande­re Poli­ti­ker der FDP, die im Lau­fe des Som­mers Inter­es­se an einer Kan­di­da­tur ange­kün­digt haben, kei­nen typisch schwei­ze­ri­schen Namen tra­gen: aus der Waadt ist dies die Regie­rungs­rä­tin Jac­que­line de Quat­tro und der Stän­de­rat Oli­vi­er Fran­çais. Aus dem Tes­sin die Alt-Regie­rungs- und Natio­nal­rä­tin Lau­ra Sadis und der Regie­rungs­rat Chris­ti­an Vit­ta. Die ers­ten drei sind, wie der Name Mau­det, nicht im Fami­li­en­na­men­buch verzeichnet.

Migrationshintergrund als Hindernis in der Politik

Schät­zungs­wei­se 20 Pro­zent der Schwei­zer sind Bür­ge­rin­nen und Bür­ger mit “Migra­ti­ons­hin­ter­grund”.[2] Vie­le von ihnen sind an ihrem nicht «typisch schwei­ze­ri­schen» Nach­na­men zu erken­nen. In unse­rem SNF-Pro­jekt zu den Wahl­chan­cen der Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten mit nicht-schwei­ze­ri­schen Namen konn­ten wir bereits fest­stel­len, dass 2015 13% (477) der Nationalrats‑, bezie­hungs­wei­se 4% (7) der Stän­de­rats­kan­di­da­ten einen sol­chen Fami­li­en­na­men tru­gen.[3] Unter den Gewähl­ten sind es dann nur noch 6% (11) Natio­nal­rä­te, bezie­hungs­wei­se 2% (1) Stän­de­rat. Im heu­ti­gen Bun­des­rat fin­den wir kei­nen ein­zi­gen «nicht typisch schwei­ze­ri­schen» Fami­li­en­na­men. Die Tat­sa­che, dass sowohl Cas­sis als auch Mau­det sich gezwun­gen sahen, den Ver­zicht auf ihren zwei­ten Pass anzu­kün­di­gen, zeigt, dass der Migra­ti­ons­hin­ter­grund in der Poli­tik ein poten­zi­el­les Hin­der­nis dar­stel­len kann.

“Typisch kan­to­na­le” Namen sind auch von Vorteil
Nicht nur Per­so­nen mit “typisch schwei­ze­ri­schen” Namen haben offen­bar einen leich­te­ren Zugang zu poli­ti­schen Ämter. Das­sel­be gilt auch für Poli­ti­ker mit “typisch kan­to­na­len” Namen. 91 von 116 Bun­des­rä­ten tra­gen einen Nach­na­men, der auch in dem Kan­ton, den sie ver­tre­ten, bereits vor 1800 regis­triert wur­de. Der Name Ber­set zum Bei­spiel ist vor 1800 nur im Kan­ton Frei­burg ver­merkt, woher Bun­des­rat Alain Ber­set auch tat­säch­lich stammt. Auch den Namen Leu­thard fin­det man vor 1800 nur im Kan­ton Aar­gau, dem Hei­mat­kan­ton von Bun­des­rä­tin Doris Leu­thard. Der kan­to­na­le Bonus scheint aber eine immer mar­gi­na­le­re Rol­le zu spie­len. 15 von ins­ge­samt 25 Bun­des­rä­ten, die kei­nen «typisch kan­to­na­len» Namen tra­gen, wur­den nach 1968 gewählt.
Tabelle: Erste Erwähnung Schweizerischer Familiennamen Bundesrat
Schwei­ze­ri­sche Fami­li­en­na­men (ers­te Erwäh­nung) der Bun­des­rats­mit­glie­der seit 1848
Vor 18001801–19001901–1962Nicht vor 1962
111 von 1176 von 1170 von 1170 von 117
91 mit typi­schem Nach­na­men aus ihrem Hei­mats­kan­ton (sie­he Box)
  • Blo­cher (1853 BL aus Frankreich)
  • Cou­ch­epin (1817 VS aus F)
  • Che­val­laz (19. J. VD aus F?)
  • Lachen­al (1857 GE aus F)
  • Cere­so­le (1822 VD aus I)
  • Eli­sa­beth Kopp geb. Iklé (1882 SG aus D)
  

Schwei­ze­ri­sche Fami­li­en­na­men (erst. Erwäh­nung) der Kan­di­die­ren­den für die Burk­hal­ter-Nach­fol­ge, Som­mer 2017
Vor 18001801–19001901–1962Nicht vor 1962
  • Isa­bel­le Moret (VD)
  • Chris­ti­an Lüscher (GE)
  • Jac­ques Bour­geois (FR)
 
  • Igna­zio Cas­sis (TI, 1908 aus I)
  • Chris­ti­an Vit­ta (TI, 1924 aus I)
  • Pierre Mau­det (GE)
  • Lau­ra Sadis (TI)
  • Oli­vi­er Fran­çais (VD)
  • Jac­que­line de Quat­tro (VD)

[1] Der Verb “ver­tre­ten” wird nach der Logik einer rein deskrip­ti­ven und sym­bo­li­schen, also nicht sub­stan­ti­el­len, Reprä­sen­ta­ti­on benützt. Vgl. Mans­bridge 1999; Sto­ja­no­vić 2013.

[2] Stri­j­bis 2014 : 613.

[3] Im Unter­schied zum vor­lie­gen­den Arti­kel, in unse­rem Pro­jekt haben wir die Gren­ze, die typisch schwei­ze­ri­schen von ande­ren Namen unter­schei­det, bei dem Jahr 1940 gesetzt.

Refe­ren­zen

  • Mans­bridge, Jane. 1999. “Should blacks repre­sent blacks and women repre­sent women? A con­tin­gent “yes”. The Jour­nal of Poli­tics 61(3): 628–657.
  • Sto­ja­no­vić, Nen­ad. 2013. Dia­lo­gue sur les quo­tas. Pen­ser la repré­sen­ta­ti­on dans une démo­cra­tie mul­ti­cul­tu­rel­le. Paris: Pres­ses de Sci­en­ces Po.
  • Stri­j­bis, Oli­ver. 2014. Migra­ti­on Back­ground and Voting Beha­vi­or in Switz­er­land: A Socio-Psy­cho­lo­gi­cal Explana­ti­on. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review 20(4): 612–631.

Foto: Par­la­ments­diens­te 3003 Bern

image_pdfimage_print