Think different? Wie Argumente Entscheidungen beeinflussen

Fast jede Volks­in­itia­ti­ve folgt einem ähn­li­chen Mus­ter: Die anfäng­lich hohe, manch­mal sogar mehr­heit­li­che Unter­stüt­zung ero­diert mit Fort­schrei­ten der Kam­pa­gne zuneh­mend. Am Abstim­mungs­tag fin­den dann nur die wenigs­ten Initia­ti­ven Gna­de vor dem Volk. Die­ser Bei­trag unter­sucht, wel­che Rol­le Argu­men­te in die­sem Pro­zess spielen.

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Die Ana­ly­se zeigt, dass argu­men­ta­tiv wenig über­zeu­gen­de Volks­in­itia­ti­ven kei­ne Mehr­hei­ten vor dem Volk fin­den. Die Argu­men­te der unter­such­ten Initia­ti­ven ver­lie­ren im Ver­lauf der Kam­pa­gne aller­dings kaum an Zustim­mung. Viel­mehr wir­ken Ja-Posi­tio­nen über die Zeit immer weni­ger auf den Stimm­ent­scheid. Wäh­rend vier Wochen vor der Abstim­mung eine mode­ra­te argu­men­ta­ti­ve Zustim­mung noch für ein Ja an der Urne aus­reicht, bedeu­tet die­sel­be Posi­ti­on am Abstim­mungs­tag fast immer ein Nein.

Nein bedeutet Nein. Ja hingegen nicht immer Ja.

Wie Stimm­ent­schei­de und Posi­ti­ons­be­zü­ge zusam­men­hän­gen, wird in Gra­fik 1 unter­sucht. Sie zeigt, wie sich die Wahr­schein­lich­keit der Annah­me einer Initia­ti­ve bei unter­schied­li­chen Posi­tio­nen verändert.

Die Gra­fik ist durch zwei graue Trenn­li­ni­en in vier Qua­dran­ten unter­teilt. Die ver­ti­ka­le Linie unter­teilt ableh­nen­de (lin­ke Qua­dran­ten) von befür­wor­ten­den (rech­te Qua­dran­ten) Posi­tio­nen. Je wei­ter die Wer­te von der Trenn­li­nie ent­fernt sind, des­to stär­ker ist die Position.

Die hori­zon­ta­le Linie trennt Wäh­le­rin­nen, bei wel­chen eine Ableh­nung wahr­schein­lich ist (unte­re Qua­dran­ten), von Wäh­le­rin­nen, bei wel­chen eine Annah­me der Vor­la­ge wahr­schein­lich ist (obe­re Qua­dran­ten). Die Ana­ly­se basiert auf den letz­ten zehn Volks­in­itia­ti­ven der 49. Legislaturperiode.

Gra­fik 1: Posi­ti­on und Annah­me-Wahr­schein­lich­keit ver­schie­de­ner Volks­in­itia­ti­ven (10 Vorlagen)

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Legende:
Quelle: VOX-Daten.
Interpretation: Position Argumente: ‑12 = starke Ablehnung, 12 = starke Zustimmung. Farbige Linien = Vorlagen mit SRG-SSR-Trenddaten, schwarze Linien = Vorlagen ohne SRG-SSR-Trenddaten.

Die Ergeb­nis­se ver­deut­li­chen den engen Zusam­men­hang zwi­schen Posi­ti­ons­be­zü­gen und Stimm­ent­scheid. Je stär­ker eine Wäh­le­rin den Argu­men­ten einer Initia­ti­ve zustimmt, des­to wahr­schein­li­cher stimmt sie auch der Vor­la­ge zu. Dabei zeigt sich, dass eine neu­tra­le oder leicht befür­wor­ten­de Hal­tung für ein Ja an der Urne nor­ma­ler­wei­se nicht ausreicht.

Mit einer Aus­nah­me durch­que­ren alle Lini­en den rech­ten, unte­ren Qua­dran­ten. Obwohl also den Argu­men­ten der Vor­la­ge zuge­stimmt wird, ist eine Ableh­nung der Initia­ti­ve wahr­schein­lich. In die­sem Zusam­men­hang wird manch­mal von inkor­rek­ten (Milic 2012) oder inkon­sis­ten­ten (Lanz und Nai 2015) Ent­schei­den gesprochen.

Gra­fik 1 ver­deut­licht wei­ter, dass nicht alle Vor­la­gen den glei­chen Vor­sprung benö­ti­gen. So ist ein Ja zur Pau­schal­be­steue­rungs-Initia­ti­ve bei leich­ter argu­men­ta­ti­ver Befür­wor­tung schon wahr­schein­lich. Bei der ECO­POP-Initia­ti­ve wird die hori­zon­ta­le Trenn­li­nie hin­ge­gen erst bei einer deut­lich höhe­ren argu­men­ta­ti­ven Zustim­mung überschritten. 

Zwei Thesen zum Nein-Trend von Initiativen 

Posi­ti­ons­be­zü­ge und Stimm­ent­scheid sind also eng ver­knüpft. Im Wis­sen dar­um, dass die meis­ten Volks­in­itia­ti­ven im Ver­lauf der Kam­pa­gne an Zustim­mung ver­lie­ren, las­sen sich zwei The­sen for­mu­lie­ren. Ers­tens könn­te der Nein-Trend ent­ste­hen, weil Vor­la­gen mit zuneh­men­der Dau­er der Kam­pa­gne argu­men­ta­ti­ve immer weni­ger über­zeu­gen. Zwei­tens könn­te sich der Effekt der (Ja-)Positionsbezüge auf den Stimm­ent­scheid abschwä­chen. Bei gleich­blei­ben­der Argu­men­te­hal­tung wird ein Nein dadurch immer wahr­schein­li­cher. Die­se The­sen wer­den anhand der SRG SSR Trend­da­ten unter­sucht. Auf­grund der Daten­la­ge redu­ziert sich die Anzahl unter­such­ter Vor­la­gen von zehn auf vier. 

Hohe Stabilität der Positionen 

Zur ers­ten The­se: Gra­fik 2 bil­det die Ver­tei­lun­gen (Kur­ven) und Mit­tel­wer­te (ver­ti­ka­le Lini­en) der Posi­tio­nen in den drei Umfra­ge­wel­len ab. Die Posi­tio­nen zeich­nen sich durch hohe Sta­bi­li­tät aus. Dies ist ins­be­son­de­re bei der ECO­POP-Initia­ti­ve und der MwSt-Initia­ti­ve der Fall. Bei bei­den Vor­la­gen blei­ben die mitt­le­ren Posi­ti­ons­be­zü­ge in allen Umfra­ge­wel­len stabil.

Bei der Pau­schal­be­steue­rungs-Initia­ti­ve und der Fami­li­en-Initia­ti­ve ist ein leicht nega­ti­ver Trend fest­stell­bar (von befür­wor­tend zu ableh­nend). Die­se Ver­än­de­rung ist jedoch nicht beson­ders ausgeprägt. 

Gra­fik 2: Häu­fig­keits­ver­tei­lung und Mit­tel­wert der Argu­men­te 4 aus­ge­wähl­ter Volks­in­itia­ti­ven (unge­wich­tet)

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Legende:
Quelle: VOX-Daten, SRG-SSR-Trenddaten
Interpretation: Position Argumente: ‑15 = maximale Ablehnung, 15 = maximale Zustimmung. Violette Linien = erste SRG-SSR-Welle, gelbe Linien = zweite SRG-SSR-Welle, schwarze Linien = VOX (“dritte Welle”).
Schwindende Wirkung von Ja-Positionen 

Wen­den wir uns nun der zwei­ten The­se zu (Gra­fik 3). Bei drei der vier Initia­ti­ven (MwSt-Initia­ti­ve, ECO­POP-Initia­ti­ve, Fami­li­en-Initia­ti­ve) ver­schiebt sich der Anstieg der Wahr­schein­lich­kei­ten mit jeder Wel­le wei­ter nach rechts. Dies bedeu­tet, dass eine Ja-Stim­me bei gleich­blei­ben­der Posi­ti­on immer unwahr­schein­li­cher wird. Genügt vor der Abstim­mung über die MwSt-Initia­ti­ve eine leicht ableh­nen­de Hal­tung für eine Annah­me der Vor­la­ge, bedeu­tet die­sel­be Posi­ti­on nach der Abstim­mung eine Annah­me­wahr­schein­lich­keit von nur gera­de 20 Prozent.

Gra­fik 3: Posi­ti­on und Annah­me-Wahr­schein­lich­keit 4 aus­ge­wähl­ter Volks­in­itia­ti­ven (unge­wich­tet)

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Legende:
Quelle: VOX-Daten, SRG-SSR-Trenddaten
Interpretation: Position Argumente: ‑12 = starke Ablehnung, 12 = starke Zustimmung. Violette Linien = erste SRG-SSR-Welle, gelbe Linien = zweite SRG-SSR-Welle, schwarze Linien = VOX (“dritte Welle”).

Damit ein Ja wahr­schein­lich ist, müss­ten Wäh­le­rin­nen eine klar posi­ti­ve Posi­ti­on ein­neh­men. Bei der ECO­POP-Initia­ti­ve und der Fami­li­en-Initia­ti­ve ist die­ses Mus­ter etwas weni­ger aus­ge­prägt. Den­noch wir­ken befür­wor­ten­de Posi­tio­nen auch da mit zuneh­men­dem Kam­pa­gnen­ver­lauf weni­ger stark auf den Ja-Ent­scheid. Die­ser Befund gilt auch für die Pau­schal­be­steue­rungs-Initia­ti­ve. Aller­dings sind hier die Unter­schie­de zwi­schen den Wel­len wenig aus­ge­prägt und lie­gen inner­halb des sta­tis­ti­schen Fehlerbereichs. 

Fazit 

Wel­ches Fazit kön­nen wir aus die­ser Ana­ly­se zie­hen? Zunächst bestä­ti­gen sich frü­he­re Befun­de, die ein enges Zusam­men­spiel zwi­schen Posi­ti­ons­be­zü­gen und Stimm­ent­scheid beob­ach­ten. In Bezug auf die For­schung zu korrekten/konsistenten Ent­schei­den lässt sich fest­stel­len, dass wohl die meis­ten inkorrekten/inkonsistenten Ent­schei­dun­gen dem Mus­ter „Befür­wor­tung Argu­men­te, Ableh­nung Vor­la­ge“ und nicht „Ableh­nung Argu­men­te, Befür­wor­tung Vor­la­ge“ folgen.

Dies steht im Ein­klang mit der Theo­rie, dass Wäh­le­rin­nen risi­ko­scheu sind. Im Zwei­fels­fall wird eine Initia­ti­ve also abge­lehnt. Fer­ner gibt die Ana­ly­se Auf­schluss dar­über, war­um Initia­ti­ven im Ver­lauf der Kam­pa­gne an Zustim­mung verlieren.

So zeigt sich, dass etwa die MwSt-Initia­ti­ve und die ECO­POP-Initia­ti­ve argu­men­ta­tiv nicht an Boden ver­lo­ren haben. Hin­ge­gen genü­gen leicht befür­wor­ten­de Posi­tio­nen gegen Ende des Abstim­mungs­kamp­fes nicht mehr für ein Ja an der Urne. Dies ist für Initi­an­tin­nen eine ver­hee­ren­de Ent­wick­lung, wel­che zum Schei­tern der Vor­la­gen bei­tra­gen kann. Natür­lich sind die­se Resul­ta­te auf­grund der gerin­gen Anzahl unter­such­ter Abstim­mun­gen mit Vor­sicht zu genies­sen. Offen bleibt auch, war­um Ja-Posi­tio­nen an Wir­kung ver­lie­ren. Mög­li­cher­wei­se mani­fes­tiert sich die Risi­ko­aver­si­on erst mit fort­schrei­ten­der Kam­pa­gne. Viel­leicht gewich­ten Wäh­le­rin­nen am Abstim­mungs­tag Nein-Argu­men­te auch stär­ker als Ja-Argu­men­te. Dadurch wür­den weni­ge kri­ti­sche Posi­tio­nen die ins­ge­samt wohl­wol­len­de Ein­stel­lung gegen­über dem Anlie­gen über­schat­ten und es zum Schei­tern bringen. 


Anmer­kun­gen

  • Der Autor bedankt sich bei Marc Bühl­mann für die Ein­la­dung zum APS Jubi­lä­um, bei Dea­na Gariup, Pas­cal Sciar­ni und Micha­el Stre­bel für ihre Kom­men­ta­re und bei Clau­de Long­champ, Lukas Gol­der, Urs Bie­ri, Mar­ti­na Mous­son und Ste­phan Tschö­pe für die Bereit­stel­lung der SRG SSR Trenddaten.
  • Zusatz­in­for­ma­tio­nen zum Arti­kel kön­nen hier ein­ge­se­hen wer­den. Das Doku­ment “appendix_LANZ16.pdf” ent­hält Details zur Aus­wahl der Abstim­mun­gen, Mes­sung der Varia­blen, den sta­tis­ti­schen Model­len und der Berech­nung der Wahr­schein­lich­kei­ten. Fer­ner wer­den eini­ge Zusatz­ana­ly­sen prä­sen­tiert. Zusätz­lich zum Appen­dix wer­den Repli­ka­ti­ons­ma­te­ria­li­en (R‑Skripte) und die auf­be­rei­te­ten VOX-Daten (“MERGED_DATA.dta”) bereit­ge­stellt. Der Zugang zu den SRG-SSR-Trend­da­ten ist aus ver­trag­li­chen Grün­den nicht mög­lich (“vertrag_LANZ16.pdf”).

Lite­ra­tur  

  • Lanz, Simon und Ales­san­dro Nai (2015). Vote as you think: Deter­mi­nants of con­sis­tent decisi­on making in direct demo­cra­cy. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review, 21(1):119–139.  
  • Milic, Tho­mas (2012). Cor­rect voting in direct legis­la­ti­on. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review, 18(4):399–427.    

Titel­bild: Pla­kat­wand in Basel, auf­ge­nom­men von Metro Centric (CC-BY)

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