Bereits zum dritten Mal in Folge erzielt Deutschland in diesem Jahr eine „schwarze Null“ im Staatshaushalt. Das ist politisch gewollt. Man verspricht sich von einem ausgeglichenen Budget mehr Möglichkeiten für zukünftige Investitionen. Doch diese Annahme ist falsch, wie mein Vergleich von sechs Überschussländern der Vergangenheit zeigt.
Im Falle eines Haushaltsüberschusses investieren Staaten kaum in die Gestaltung der Zukunft. So erhöhen sie weder die Ausgaben für Bildung und Forschung noch stecken sie mehr Geld in die öffentliche Infrastruktur. Stattdessen führen Überschüsse im Staatshaushalt vor allem zu Steuersenkungen, wovon nur einige wenige profitieren.
«Staaten investieren bei einem Haushaltsüberschuss kaum in die Gestaltung der Zukunft. Überschüsse führen vor allem zu Steuersenkungen, wovon nur wenige profitieren.»
Lukas Haffert
“Alternativlos” als Rechtfertigung für unpopuläre Massnahmen der Politik
In vielen Demokratien ist der gestalterische Einfluss der Politik auf grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen seit Jahren rückläufig. Politische Entscheidungen erscheinen darum immer öfter als Ergebnis nicht verhandelbarer Sachzwänge statt als Resultat ergebnisoffener Debatten. Vor allem umstrittene Maßnahmen wie Sparpakete oder Reformen von Sozialprogrammen werden von Regierungen in vielen Fällen als “alternativlos” verkauft.
Fiskalische Demokratie geht verloren
Einer der wichtigsten Gründe für den Rückgang politischer Gestaltungskraft ist der Anstieg der Staatsverschuldung und der damit verbundene Verlust finanzieller Spielräume von Regierungen. In den Worten des amerikanischen Politikwissenschaftlers Paul Pierson leben wir in einem „Zeitalter permanenter Austerität“. Damit ist gemeint, dass Regierungen zunehmend damit beschäftigt sind, für Entscheidungen der Vergangenheit zu bezahlen anstatt neue, auf die Zukunft gerichtete Entscheidungen zu treffen (Pierson 1998).
Diese Entwicklung kann als Verlust fiskalischer Demokratie interpretiert werden. Das heisst, dass die obligatorischen Ausgaben immer grösser werden, die auf Beschlüssen vergangener Generationen beruhen. Gleichzeitig werden die neuen Ausgaben, über die Parlamente im Jetzt entscheiden können, immer kleiner (Grafik 1). Diese Entwicklung führt unter anderem zu einem Rückgang der öffentlichen Investitionen.
Abbildung 1:
Die “schwarze Null” als Antwort?
Dieser Verlust staatlicher Gestaltungsfähigkeit hat negative Konsequenzen. Zum einen gefährden fehlende Investitionen in Bildung oder Infrastruktur den Wohlstand einer Gesellschaft, was wiederum schwer wiegende Probleme der Generationengerechtigkeit aufwirft. Zum anderen breiten sich Politikverdrossenheit und sinkende Wahlbeteiligung aus, weil breite Bevölkerungsschichten das Gefühl haben, es mache „eh keinen Unterschied“, welche Partei man wähle (Schäfer und Streeck 2013).
Staaten tun folglich gut daran, ihre Handlungsfähigkeit wieder zurückzugewinnen. Doch wie ist das zu bewerkstelligen? Die Politik der „schwarzen Null“ in Form einer nachhaltigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte scheint die Lösung zu sein. Ihre Logik basiert auf einem einfachen Umkehrschluss: Da steigende Verschuldung zu sinkender Handlungsfähigkeit führt, muss sinkende Verschuldung zu einem Wiederanstieg der Handlungsfähigkeit führen. Man geht allgemein davon aus, dass wieder zwischen politischen Alternativen entschieden werden kann, wenn auf der Ausgabenseite wieder mehr Spielraum herrscht. Doch stimmt das?
Von den Erfahrungen anderer Länder lernen
Um die Plausibilität dieser Erwartungen beurteilen zu können, habe ich die Erfahrungen von sechs Ländern mit Haushaltsüberschüssen untersucht. Denn in den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren gelang es Australien, Dänemark, Finnland, Kanada, Neuseeland und Schweden ihre Haushalte für mehr als ein Jahrzehnt fast permanent im Überschuss zu halten. Dadurch konnten sie ihre Staatsverschuldung deutlich reduzieren, was zur Folge hatte, dass auch ihre Zinslast erheblich sank und sie wieder grössere Spielräume im Budget gewannen (Abbildung 2).
Abbildung 2:
Doch diese Spielräume wurden kaum für neue, zukunftsorientierte Gestaltungsausgaben genutzt. Weder erhöhten diese Länder ihre Infrastrukturinvestitionen, noch steckten sie mehr Geld in Bildung, Forschung oder Familienpolitik. Stattdessen floss der Grossteil ihrer Überschüsse in Steuersenkungen. Das war zwar durchaus im Sinne der Einkommensteuerzahler, insbesondere aus der oberen Mittelschicht. Doch Steuersenkungen verschaffen der Politik keine dauerhaften neuen Gestaltungsspielräume.
Die Politik der „schwarzen Null“ blieb stark von den Entscheidungen der Konsolidierung geprägt. Dieselben Maßnahmen und Reformen, die es ermöglichten, überhaupt erst Überschüsse zu erzielen, trugen zugleich dazu bei, ihre Verwendung im Sinne der progressiven Konsolidierungsthese zu verhindern.
Schuldenbremsen und ähnliche Massnahmen, die eingeführt wurden, um die Staatsverschuldung zu bekämpfen, banden der Politik auch unter völlig veränderten Bedingungen die Hände. Diejenigen Politikfelder, die wie die weichen Investitionen (z.B. Ausgaben für Bildung) einen besonders grossen Teil der Konsolidierungslasten schultern mussten, profitierten deshalb besonders wenig von den Überschüssen. (Abbildung 3).
Abbildung 3:
Permanente Überschüsse bedeuten permanente Austerität
Meine Analysen zeigen, dass die sechs Überschussländer eine zutiefst risikoscheue Fiskalpolitik betrieben. Aus Angst, ihre politische Handlungsfreiheit zu missbrauchen, beschränkten sich die Länder durch neue fiskalische Regeln so sehr, dass dies selbst eine maßvolle Verwendung ihrer neugewonnen Möglichkeiten behinderte.
Da die Staaten zukünftige Generationen nicht mit Schulden belasten wollten, unterließen sie Investitionen in den Kapitalstock, der diesen Generationen dereinst vererbt werden würde. Aus Angst, Leistungen in der Zukunft nicht mehr finanzieren zu können, kürzten sie sie in der Gegenwart.
Auf die Wirkung der “schwarzen Null” ist kein Verlass
Wer an einem langfristig gestaltungsfähigen Staat und einem Wiederausbau fiskalischer Demokratie interessiert ist, sollte sich daher nicht auf die Wirkung der „schwarzen Null“ verlassen. Denn im Zeitalter permanenter Austerität bleibt die Gestaltungsfähigkeit des Staates von zwei Seiten strukturell beschränkt: Zum einen vom permanenten Abwärtsdruck auf die Steuereinnahmen, der von Globalisierung und der Sorge um ökonomische Wettbewerbsfähigkeit ausgelöst wird, zum anderen vom permanenten Aufwärtsdruck auf die Kosten der Vergangenheit, der vom demografischen Wandel ausgeht.
Diese beiden Tendenzen werden aber von der „schwarzen Null“ in keiner Weise gelöst. Diese bietet zwar eine erfolgreiche Kur für die Symptome permanenter Austerität. Deren eigentlichen Ursachen beseitigt sie jedoch nicht.
Hinweis: Dieser Beitrag beruht auf dem Buch Die schwarze Null. Über die Schattenseiten ausgeglichener Haushalte von Lukas Haffert, erschienen 2016 im Suhrkamp Verlag.
Referenz:
- Pierson, Paul (1998). Irresistible Forces, Immovable Objects: Post-industrial Welfare States Confront Permanent Austerity. Journal of European Public Policy 5, 539-560.
- Schäfer, Armin und Wolfgang Streeck (2013). “Introduction”, in: Armin Schäfer und Wolfgang Streeck (Hrsg.). Politics in the Age of Austerity. Cambridge: Polity, 1-25.
Titelbild: Tobias Koch, Wikimedia Commons.
Graphiken: Salim Brüggemann
Lektorat: Sarah Bütikofer