In Polen schwächt die neu gewählte Regierung das Verfassungsgericht. Die EU erwägt als Reaktion den Einsatz eines ihrer machtvollsten Sanktionsmittel. Dabei haben mehrere westeuropäische Demokratien schwächere Verfassungsgerichte als Polen – darunter auch die Schweiz. Wieso also die Aufregung?
Der Aufschrei war gross als die neu gewählte polnische Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) Ende 2015 eine Reform des polnischen Verfassungsgerichts angekündigt hat.
Die Reform umfasst, dass das Verfassungsgericht in Zukunft eine Zweidrittelmehrheit anstatt einer einfachen Mehrheit braucht, damit es ein Urteil fällen kann. Ausserdem müssen neu dreizehn, nicht mehr bloss neun, der fünfzehn Verfassungsrichter anwesend sein. Diese Änderungen schwächen formal gesehen das polnische Verfassungsgericht, denn es erschwert ihm ein Urteil fällen zu können.
Die Reaktion auf die Reform erfolgte sofort. Sanktionen gegen Polen wurden gefordert, sogar die Aktivierung des sogenannten EU-Rechtsstaatsmechanismus, eines erst 2014 eingeführten und bisher noch nicht angewandten politischen Mittels der EU. Dieser Mechanismus würde in der letzten Konsequenz einem EU-Mitgliedsstaat seine Stimmrechte entziehen. So drastisch ist die Aktivierung dieses Mechanismus, dass er von der ehemaligen EU-Justizkommissarin Viviane Reding als „Nuklearoption“ der EU bezeichnet worden ist: Kaum eine Waffe im Arsenal der EU ist stärker.
Dabei weisen zahlreiche westeuropäische Demokratien schwächere Verfassungsgerichte auf als Polen. Reagiert die EU unverhältnismässig oder misst sie gar in Bezug auf West- und Osteuropa mit verschiedenen Ellen?
Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa
Die Stärke der europäischen Verfassungsgerichte variiert beachtlich, wie die folgende Abbildung deutlich macht.
Abbildung 1:
Polen verfügt im europäischen Vergleich rein formal betrachtet tatsächlich über ein relativ starkes Verfassungsgericht – ein stärkeres als beispielsweise die Staaten Luxemburg, Grossbritannien und Frankreich.
Sowohl der Politikwissenschaftler Arend Lijphart (2012) als auch der Rechtswissenschaftler Robert L. Maddex (2014) sprechen im Fall von Finnland, den Niederlanden, der Schweiz und Grossbritannien gar von einer komplett fehlenden Verfassungsgerichtsbarkeit, obwohl kaum jemand den demokratischen und rechtsstaatlichen Charakter dieser Länder in Frage stellen dürfte.
Abbildung 2:
Ursprünge und Funktionen unterschiedlich starker Verfassungsgerichtsbarkeit
Meine eigene Untersuchung von 23 EU-Mitgliedstaaten deutet darauf hin, dass die Ursprünge besonders starker Verfassungsgerichte in Europa darin zu suchen sind, dass man nach einer autokratischen oder diktatorischen Vergangenheit den gelungenen Übergang zur liberalen Demokratie sicherstellen wollte. In der neuen demokratischen Verfassung festgehaltene Errungenschaften wie Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung sollten nie wieder zur Disposition stehen, ungeachtet der zukünftigen politischen Kräfteverhältnisse. Ein Verfassungsgericht sollte dies als Wachhund der Demokratie sicherstellen und wurde mit starken formalen Kompetenzen ausgestattet.
Vieles spricht dafür, dass sich die Entstehung schwacher Verfassungsgerichte in Europa auf der anderen Seite durch das weitgehende Ausbleiben solcher historischer Erschütterungen erklären lässt.
Wo keine oder kaum Abstürze der Demokratie vorgekommen sind, sah man offenbar auch weniger Bedarf nach einem starken Verfassungsgericht. So wurde beispielsweise in der Schweiz mit ihrer relativ ungebrochenen Verfassungskontinuität seit der Bundesstaatsgründung eine sehr schwache Verfassungsgerichtsbarkeit institutionalisiert.
«Die historische Herausbildung schwacher Verfassungsgerichtsbarkeit steht demnach nicht per se für schwache Demokratiequalität, eher für Demokratiekontinuität.»
Samuel Huber
In der politikwissenschaftlichen Literatur besteht bereits eine Vielzahl an Erklärungsansätzen zur Entstehung unterschiedlich starker Verfassungsgerichtsbarkeit. In meiner Bachelorarbeit habe ich diese Erklärungstheorien mit Hilfe von „Qualitative Comparative Analysis“ (QCA), einer computerbasierten und auf formaler Logik begründeten sozialwissenschaftlichen Methode überprüft. Dafür habe ich zunächst Kombinationen von Bedingungen aus den Theorien abgeleitet, welche gegeben sein müssten sofern die Theorien zutreffen. Für die Messung dieser Bedingungen habe ich auf eine breite Auswahl an sozialwissenschaftlichen Datensätzen zurückgegriffen.
Die Angst vor der „Putinisierung“ Osteuropas
Polens Verfassungsgericht dürfte also rein formal gesehen auch in Zukunft nicht zu den schwächsten Europas zählen. Ausserdem bedeuten schwache Verfassungsgerichte nicht per se schlechte Demokratiequalität. Es ist denn auch eher das umfassendere politische Klima in Polen, welches der EU Sorge bereitet und ihre drastische Reaktion erklärbar macht.
So wurde in Polen zusammen mit der Schwächung des Verfassungsgerichts ein neues und umstrittenes Mediengesetz erlassen, welches den Einfluss der neuen Regierung auf die Medien stärkt. Ausserdem wurden fünf neue, regimetreue Verfassungsrichter gewählt.
Die neue polnische Regierung hat also den politischen Zugriff auf die Justiz und die Medien umfassend erhöht. Die formale Schwächung des Verfassungsgerichts stellt bloss eines von mehreren Elementen in diesem Prozess dar. Polen reiht sich damit aus Sicht der EU nach Ungarn und Russland in einen drohenden Rechtsrutsch autoritärer und illiberaler Prägung ein. Diese Entwicklung wird von Vertretern der EU und der polnischen Opposition besorgt als „Putinisierung“ oder „Orbanisierung“ Osteuropas bezeichnet. Es ist diese politische Grosswetterlage, welche die Reaktion der EU – und die ungleiche Beurteilung schwacher und starker Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen West- und Osteuropa – verständlich macht.
Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz wird oft als eine „beschränkte“ bezeichnet. Anders als in den meisten anderen Demokratien lassen sich in der Schweiz vom nationalen Parlament beschlossene, verfassungswidrige Bundesgesetze nicht durch ein Verfassungsgericht aufheben. Dies auch im Fall eines Verstosses eines Bundesgesetzes gegen den in der Bundesverfassung festgehaltenen Menschenrechtskatalog.
„Beschränkt“ aber vorhanden ist eine Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz hingegen in Ansätzen durchaus: So überprüft das Bundesgericht kantonale Gesetze und auf nationaler Ebene zumindest Verordnungen auf ihre Verfassungsmässigkeit. Ausserdem hat die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK unterzeichnet. Dadurch ergibt sich im Fall von Menschenrechtsverletzungen die Möglichkeit einer Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR.
Die Frage wie stark die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz ausgeprägt sein soll, ist zudem einer der langlebigsten Zankäpfel der schweizerischen Parlamentsgeschichte. Seit den 1920er Jahren wurde sie nahezu alle fünf bis zehn Jahre im Parlament behandelt. Und der Zankapfel dürfte uns erhalten bleiben: Nachdem das Parlament zum letzten Mal im Jahr 2012 eine Stärkung der schweizerischen Verfassungsgerichtsbarkeit abgelehnt hat, steht das Thema nach einer Motion aus dem Jahr 2014 demnächst erneut zur Debatte.
Literatur:
Kneip, S. (2008). „Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich“, in: Becker, M. und R. Zimmerling (Hrsg.). Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen, Prozesse, Politikinhalte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 631-655.
Lijphart, A. (2012). Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries. New Haven & London: Yale University Press.
Maddex, R. L. (2014). Constitutions of the World. London: Routledge.
Titelbild: Proteste gegen die neue Regierung in Warschau, Polen. 15. Dezember 2015. Quelle: Wikimedia Commons.
Lektorat, Grafiken und Layout: Pascal Burkhard