Wie kompetent ist das Stimmvolk?

Sind Bür­ge­rin­nen und Bür­ger kom­pe­tent genug um an der Urne über kom­ple­xe poli­ti­sche Sach­fra­gen zu ent­schei­den? Mei­ne Ana­ly­se der Bür­ger­kom­pe­tenz in der Schweiz zeigt, dass rund ein Drit­tel der Stimm­bür­ger­schaft den Stimm­ent­scheid nicht mit vor­la­gen­be­zo­ge­nen Argu­men­ten begrün­den kann. Und dass gebil­de­te Stimm­bür­ger nur bedingt kom­pe­ten­ter sind. 

In der Schweiz hat seit den 1970er Jah­ren nicht nur die Anzahl zur Abstim­mung gelang­ter Volks­in­itia­ti­ven zuge­nom­men, son­dern auch die Anzahl ange­nom­me­ner Initia­ti­ven. Dar­un­ter auch immer mehr kon­tro­ver­se Volks­ent­schei­de wie etwa das Mina­rett­ver­bot oder zuletzt die Mas­sen­ein­wan­de­rungs­in­itia­ti­ve. Immer wie­der wur­de dabei Kri­tik laut an der Kom­pe­tenz der Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger. Doch ist die­se Kri­tik gerechtfertigt?

Misst man die Kom­pe­tenz der Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger dar­an, wie gut sie ihren Stimm­ent­scheid recht­fer­ti­gen kön­nen, sieht es nicht so schlecht aus für das Schwei­zer Stimm­volk: Immer­hin 70% der Befrag­ten nen­nen min­des­tens ein vor­la­gen­be­zo­ge­nes Argu­ment um ihren Ent­scheid zu begrün­den. Zu die­sem Ergeb­nis kom­me ich in mei­ner Stu­die, für wel­che Abstim­mungs­ent­schei­de für 34 Volks­ab­stim­mun­gen zwi­schen 2008 und 2012 ana­ly­siert wurden.

Abbildung 1:

Begruendung

Ledig­lich 22% geben kei­ne Ant­wort auf die Fra­ge nach den Grün­den für ihren Stimm­ent­scheid. Wei­te­re 9% geben Ant­wor­ten, wel­che sich nicht direkt auf die Vor­la­ge bezie­hen, wie zum Bei­spiel, sie sei­en der Emp­feh­lung ihrer Par­tei gefolgt.

Vor die­sem Hin­ter­grund schei­nen die weit­ver­brei­te­ten Befürch­tun­gen von gänz­lich igno­ran­ten und haupt­säch­lich emo­ti­ons­ge­trie­be­nen Bür­gern über­trie­ben. Viel­mehr spie­len Argu­men­te eine wesent­li­che Rol­le für die poli­ti­sche Mei­nungs­bil­dung. Aller­dings wird auch sicht­bar, dass nur 7% der Befrag­ten über meh­re­re dif­fe­ren­zier­te Argu­men­te ver­fü­gen. Zudem kön­nen jene 30% der Befrag­ten, wel­che kei­ne poli­tik­re­le­van­ten Argu­men­te nen­nen, durch­aus ent­schei­dend für den Aus­gang der Abstim­mung sein.

INFOBOX: Bür­ger­kom­pe­tenz

Wäh­rend vie­le Unter­su­chun­gen zur Bür­ger­kom­pe­tenz aus den USA all­ge­mei­nes Fak­ten­wis­sen mes­sen (wie zum Bei­spiel die Fra­gen „Wer ist aktu­ell Aus­sen­mi­nis­te­rIn?“), schla­gen Autoren wie Krie­si (2005) vor, sach­spe­zi­fi­sches Wis­sen anstatt gene­rel­les poli­ti­sches Wis­sen als Mass zu neh­men. In mei­ner Stu­die mes­se ich Bür­ger­kom­pe­tenz als die Fähig­keit, eine Ent­schei­dung mit poli­tik­re­le­van­ten Argu­men­ten recht­fer­ti­gen zu kön­nen. Kom­pe­tent ist also ein Stimm­bür­ger, der mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne und mög­lichst dif­fe­ren­zier­te Argu­men­te für sei­ne Ent­schei­dung nen­nen kann (sie­he Info­box zur Kompetenzmessung). 

Die Über­le­gung dahin­ter ist einer­seits, dass Ent­schei­dun­gen legi­ti­mer sind, wenn sie auf poli­tik­re­le­van­ten Argu­men­ten beru­hen. Ande­rer­seits misst man mit einer Ana­ly­se der ange­ge­be­nen Argu­men­te, das „deli­be­ra­ti­ve Poten­ti­al“ der Stimm­bür­ger­schaft, das heisst, inwie­fern die Stim­men­den über die nöti­gen Argu­men­te ver­fü­gen, um sich an der öffent­li­chen Debat­te zu beteiligen. 

Interesse ist wichtiger als Bildung

Doch wel­ches sind die kom­pe­ten­ten Bür­ge­rin­nen und Bür­ger? Sind dies ganz ein­fach die bes­ser gebil­de­ten oder sind das vor allem die moti­vier­ten und poli­tisch interessierten?

In der Stu­die kom­me ich zum Ergeb­nis, dass das poli­ti­sche Inter­es­se einen bedeu­ten­den Ein­fluss auf die Kom­pe­tenz hat. Der Bil­dungs­grad erweist sich hin­ge­gen als nur bedingt rele­vant. Dies über­rascht inso­fern, da Bil­dung in der poli­ti­schen Psy­cho­lo­gie oft als Haupt­de­ter­mi­nan­te des poli­ti­schen Wis­sens gehan­delt wird.

Man muss hier aber beach­ten, dass Per­so­nen mit nied­ri­ger Bil­dung oft gar nicht erst an Abstim­mun­gen teil­neh­men. Wenn sie aber tun, dann sind sie nicht per se weni­ger kom­pe­tent als Hochgebildete.

Intensive Medienkampagnen fördern Bürgerkompetenz

Aus­ser­dem stellt sich die Fra­ge, bei wel­chen Vor­la­gen die Bür­ge­rIn­nen bes­ser infor­miert sind: Wenn die Abstim­mungs­kam­pa­gne in den Medi­en beson­ders inten­siv ist, wenn die Eli­te beson­ders pola­ri­siert ist oder wenn das The­ma beson­ders ein­fach ist? Die Stu­die kommt zum Ergeb­nis, dass inten­si­ve Medi­en­kam­pa­gnen zur Kom­pe­tenz­för­de­rung der Stimm­bür­ger­schaft bei­tra­gen. Stark pola­ri­sier­te Eli­ten haben hin­ge­gen weni­ger kom­pe­ten­te Stim­men­de zur Folge.

Die­se Resul­ta­te zei­gen, dass die Eli­te und die Medi­en die Bür­ger­kom­pe­tenz in der Schweiz ent­schei­dend beein­flus­sen. Der wich­tigs­te Ein­fluss­fak­tor ist jedoch die Kom­ple­xi­tät des The­mas: bei kom­ple­xen The­men haben die Befrag­ten signi­fi­kant weni­ger gute Argu­men­te zur Hand als bei rela­tiv ein­fa­che­ren The­men. Die Bür­ger­kom­pe­tenz resul­tiert also aus einem Zusam­men­spiel von indi­vi­du­el­len Merk­ma­len der Abstim­men­den, dem Ver­hal­ten der Eli­te und der Medi­en, sowie Merk­ma­len der jewei­li­gen Vorlage.

INFOBOX: Kom­pe­tenz­mes­sung

Das in der Stu­die benutz­te Kom­pe­tenz­mass beruht auf einer Ana­ly­se einer offe­nen Fra­ge in den Vox-Umfra­gen, wel­che vom For­schungs­in­sti­tut Gfs jeweils nach natio­na­len Volks­ab­stim­mun­gen bei 1000–1500 Schwei­zer Bür­ge­rIn­nen durch­ge­führt wer­den. Die Fra­ge lau­tet „Wel­ches sind die Haupt­grün­de, dass sie die Vor­la­ge XY angenommen/abgelehnt haben“? Die Ant­wor­ten auf die­se Fra­ge wur­den, in Anleh­nung an Milic (2009) und Stei­ner et al. (2004), wie in Tabel­le 1 dar­ge­stellt codiert. Auf die­se Wei­se ergibt sich ein Index der von 0 (kei­ne Ant­wort) – 4 (meh­re­re, kom­ple­xe Argu­men­te reicht). Um den Zusam­men­hang der so gemes­se­nen Kom­pe­tenz mit ver­schie­de­nen Fak­to­ren wie Bil­dung, Inter­es­se oder Kom­ple­xi­tät zu mes­sen, wur­den Meh­re­be­nen-Regres­si­ons­ana­ly­sen durchgeführt.

Codierung

Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist eine Kurz­zu­sam­men­fas­sung von Colom­bo, Céli­ne (forth­co­m­ing). Jus­ti­fi­ca­ti­ons and Citi­zen Com­pe­tence in Direct Demo­cra­cy: A Mul­ti­le­vel Ana­ly­sis. Bri­tish Jour­nal of Poli­ti­cal Sci­ence. Ver­füg­bar auf CJO2016. doi:10.1017/S0007123416000090.


Lite­ra­tur:

  • Krie­si, Hans­pe­ter.  2005.  Direct Demo­cra­tic Choice: The Swiss Expe­ri­ence.  Lan­ham, MD: Lex­ing­ton Books.

  • Milic, Tho­mas.  2009.  “Von Der Par­tei­lich­keit Der Argu­men­te.” Paper pre­sen­ted at the Jah­res­kon­gress der Schwei­ze­ri­schen Ver­ei­ni­gung für Poli­ti­sche Wis­sen­schaft, St. Gal­len, 8.–9. Janu­a­ry 2009.

  • Stei­ner, Jürg, André Bäch­ti­ger, Mar­kus Spörndli, and Mar­co R. Steen­ber­gen.  2004.  Deli­be­ra­ti­ve Poli­tics in Action: Ana­ly­zing Par­lia­men­ta­ry Dis­cour­se. Edi­ted by Robert E. Goo­din, Theo­ries of Insti­tu­tio­nal Design.  Cam­bridge: Cam­bridge Uni­ver­si­ty Press.

Titel­bild: Flickr, Chris­ti­ne und Hagen Graf

Lek­to­rat, Lay­out und Gra­fi­ken: Pas­cal Burkhard

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