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Wie kompetent ist das Stimmvolk?

Céline Colombo
22nd Juni 2016

Sind Bürgerinnen und Bürger kompetent genug um an der Urne über komplexe politische Sachfragen zu entscheiden? Meine Analyse der Bürgerkompetenz in der Schweiz zeigt, dass rund ein Drittel der Stimmbürgerschaft den Stimmentscheid nicht mit vorlagenbezogenen Argumenten begründen kann. Und dass gebildete Stimmbürger nur bedingt kompetenter sind. 

In der Schweiz hat seit den 1970er Jahren nicht nur die Anzahl zur Abstimmung gelangter Volksinitiativen zugenommen, sondern auch die Anzahl angenommener Initiativen. Darunter auch immer mehr kontroverse Volksentscheide wie etwa das Minarettverbot oder zuletzt die Masseneinwanderungsinitiative. Immer wieder wurde dabei Kritik laut an der Kompetenz der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Doch ist diese Kritik gerechtfertigt?

Misst man die Kompetenz der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger daran, wie gut sie ihren Stimmentscheid rechtfertigen können, sieht es nicht so schlecht aus für das Schweizer Stimmvolk: Immerhin 70% der Befragten nennen mindestens ein vorlagenbezogenes Argument um ihren Entscheid zu begründen. Zu diesem Ergebnis komme ich in meiner Studie, für welche Abstimmungsentscheide für 34 Volksabstimmungen zwischen 2008 und 2012 analysiert wurden.

Abbildung 1:

Begruendung

Lediglich 22% geben keine Antwort auf die Frage nach den Gründen für ihren Stimmentscheid. Weitere 9% geben Antworten, welche sich nicht direkt auf die Vorlage beziehen, wie zum Beispiel, sie seien der Empfehlung ihrer Partei gefolgt.

Vor diesem Hintergrund scheinen die weitverbreiteten Befürchtungen von gänzlich ignoranten und hauptsächlich emotionsgetriebenen Bürgern übertrieben. Vielmehr spielen Argumente eine wesentliche Rolle für die politische Meinungsbildung. Allerdings wird auch sichtbar, dass nur 7% der Befragten über mehrere differenzierte Argumente verfügen. Zudem können jene 30% der Befragten, welche keine politikrelevanten Argumente nennen, durchaus entscheidend für den Ausgang der Abstimmung sein.

INFOBOX: Bürgerkompetenz

Während viele Untersuchungen zur Bürgerkompetenz aus den USA allgemeines Faktenwissen messen (wie zum Beispiel die Fragen „Wer ist aktuell AussenministerIn?“), schlagen Autoren wie Kriesi (2005) vor, sachspezifisches Wissen anstatt generelles politisches Wissen als Mass zu nehmen. In meiner Studie messe ich Bürgerkompetenz als die Fähigkeit, eine Entscheidung mit politikrelevanten Argumenten rechtfertigen zu können. Kompetent ist also ein Stimmbürger, der möglichst viele verschiedene und möglichst differenzierte Argumente für seine Entscheidung nennen kann (siehe Infobox zur Kompetenzmessung). 

Die Überlegung dahinter ist einerseits, dass Entscheidungen legitimer sind, wenn sie auf politikrelevanten Argumenten beruhen. Andererseits misst man mit einer Analyse der angegebenen Argumente, das „deliberative Potential“ der Stimmbürgerschaft, das heisst, inwiefern die Stimmenden über die nötigen Argumente verfügen, um sich an der öffentlichen Debatte zu beteiligen.

Interesse ist wichtiger als Bildung

Doch welches sind die kompetenten Bürgerinnen und Bürger? Sind dies ganz einfach die besser gebildeten oder sind das vor allem die motivierten und politisch interessierten?

In der Studie komme ich zum Ergebnis, dass das politische Interesse einen bedeutenden Einfluss auf die Kompetenz hat. Der Bildungsgrad erweist sich hingegen als nur bedingt relevant. Dies überrascht insofern, da Bildung in der politischen Psychologie oft als Hauptdeterminante des politischen Wissens gehandelt wird.

Man muss hier aber beachten, dass Personen mit niedriger Bildung oft gar nicht erst an Abstimmungen teilnehmen. Wenn sie aber tun, dann sind sie nicht per se weniger kompetent als Hochgebildete.

Intensive Medienkampagnen fördern Bürgerkompetenz

Ausserdem stellt sich die Frage, bei welchen Vorlagen die BürgerInnen besser informiert sind: Wenn die Abstimmungskampagne in den Medien besonders intensiv ist, wenn die Elite besonders polarisiert ist oder wenn das Thema besonders einfach ist? Die Studie kommt zum Ergebnis, dass intensive Medienkampagnen zur Kompetenzförderung der Stimmbürgerschaft beitragen. Stark polarisierte Eliten haben hingegen weniger kompetente Stimmende zur Folge.

Diese Resultate zeigen, dass die Elite und die Medien die Bürgerkompetenz in der Schweiz entscheidend beeinflussen. Der wichtigste Einflussfaktor ist jedoch die Komplexität des Themas: bei komplexen Themen haben die Befragten signifikant weniger gute Argumente zur Hand als bei relativ einfacheren Themen. Die Bürgerkompetenz resultiert also aus einem Zusammenspiel von individuellen Merkmalen der Abstimmenden, dem Verhalten der Elite und der Medien, sowie Merkmalen der jeweiligen Vorlage.

INFOBOX: Kompetenzmessung

Das in der Studie benutzte Kompetenzmass beruht auf einer Analyse einer offenen Frage in den Vox-Umfragen, welche vom Forschungsinstitut Gfs jeweils nach nationalen Volksabstimmungen bei 1000-1500 Schweizer BürgerInnen durchgeführt werden. Die Frage lautet „Welches sind die Hauptgründe, dass sie die Vorlage XY angenommen/abgelehnt haben“? Die Antworten auf diese Frage wurden, in Anlehnung an Milic (2009) und Steiner et al. (2004), wie in Tabelle 1 dargestellt codiert. Auf diese Weise ergibt sich ein Index der von 0 (keine Antwort) – 4 (mehrere, komplexe Argumente reicht). Um den Zusammenhang der so gemessenen Kompetenz mit verschiedenen Faktoren wie Bildung, Interesse oder Komplexität zu messen, wurden Mehrebenen-Regressionsanalysen durchgeführt.

Codierung

Hinweis: Dieser Beitrag ist eine Kurzzusammenfassung von Colombo, Céline (forthcoming). Justifications and Citizen Competence in Direct Democracy: A Multilevel Analysis. British Journal of Political Science. Verfügbar auf CJO2016. doi:10.1017/S0007123416000090.


Literatur:

  • Kriesi, Hanspeter.  2005.  Direct Democratic Choice: The Swiss Experience.  Lanham, MD: Lexington Books.

  • Milic, Thomas.  2009.  "Von Der Parteilichkeit Der Argumente." Paper presented at the Jahreskongress der Schweizerischen Vereinigung für Politische Wissenschaft, St. Gallen, 8.-9. January 2009.

  • Steiner, Jürg, André Bächtiger, Markus Spörndli, and Marco R. Steenbergen.  2004.  Deliberative Politics in Action: Analyzing Parliamentary Discourse. Edited by Robert E. Goodin, Theories of Institutional Design.  Cambridge: Cambridge University Press.

Titelbild: Flickr, Christine und Hagen Graf

Lektorat, Layout und Grafiken: Pascal Burkhard