Das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union (EU) ist angespannt. Nicht nur im Bezug auf die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Die EU verlangt von der Schweiz schon viel länger, den bilateralen Verträgen einen institutionellen Rahmen zu geben, welcher unter anderem die Übernahme von neuem EU-Recht in den Bereichen der bilateralen Verträge regeln soll.
Um diese Forderung nach einem Rahmenabkommen zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Funktionsweise der Schweizer Europapolitik in der Vergangenheit. Bereits heute geht der bilaterale Weg mit gesetzgeberischen Tätigkeiten einher, welche in der Schweizer Öffentlichkeit nicht diskutiert werden.
Die Schweizer Stimmbevölkerung lehnte im Dezember 1992 das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ab. Gleichzeitig vollendete die EU ihr ambitioniertestes Projekt, den einheitlichen Binnenmarkt. Die Schweizer Politik befürchtete daraufhin wirtschaftliche Nachteile und schlug einen anderen Weg ein: Die rechtliche Anbindung an die europäische Integration mithilfe von Abkommen mit der EU und der selektiven Übernahme von EU-Recht ins Schweizer Landesrecht. Diese Politik hatten die Schweiz und andere EU-Nichtmitgliedsländer wie z.B. Norwegen oder Schweden seit den 1970er Jahren verfolgt.
Der bilaterale Weg der Schweiz
Der bilaterale Weg unterscheidet sich von einer Mitgliedschaft der EU vor allem in zwei Punkten: in der Selektivität der Integration und in der Entscheidungsfindung über neue Regelübernahmen. Das heisst, die Schweiz entscheidet von Fall zu Fall über eine rechtliche Integration und ist nach wie vor in keine supranationalen Entscheidungsstrukturen der EU eingebunden. Das bedeutet, dass keine Vertreter der Schweiz mitbestimmen, wenn im Europäischen Rat oder im Europaparlament neue Richtlinien oder Verordnungen der EU verabschiedet werden.
Bilaterale Verträge werden regelmässig revidiert
Eine Untersuchung der ETH Zürich zeigt, wie sich diese selektive rechtliche Integration über die Zeit entwickelt hat. Die Daten ermöglichen zwar keinen Vergleich des Ausmasses der Europäischen Integration der Schweiz mit andern Europäischen Ländern. Sie bestätigen aber, was aus Juristenkreisen schon lange zu vernehmen ist: Die bilateralen Verträge bedürfen regelmässiger Revisionen, um ihre Funktion zu erfüllen. Solche Revisionen fanden statt, obwohl die Schweiz grösstenteils rechtlich nicht dazu verpflichtet ist und von Fall zu Fall über eine weitere rechtliche Integration entscheidet.
Die wichtigsten Schritte beschliesst das Parlament – das Volk stimmt nicht jedes Mal ebenfalls ab
Die Schweiz nimmt an einigen der zentralen Politiken der EU teil, beispielsweise an der Personenfreizügigkeit, dem Schengenraum und dem als Dublin-Abkommen bekannten Erstasylabkommen. Zudem haben die Schweiz und die EU zahlreiche Abkommen abgeschlossen, die den gegenseitigen Marktzugang erleichtern. Bekannt sind das Freihandelsabkommen von 1972 und die Abkommen der Bilateralen I, mit denen technische Handelshemmnisse abgebaut und das öffentliche Beschaffungswesen sowie der Land- und Luftverkehr liberalisiert wurden. Die Bilateralen II umfassen hingegen mehrheitlich Kooperationsabkommen. Über die meisten dieser Verträge hat die Schweizer Stimmbevölkerung an der Urne abgestimmt.
Diese bekannten Verträge bilden aber lediglich einen Teil des gesamten Vertragswerks zwischen der Schweiz und der EU. Das gesamte Vertragswerk ist grösser als die beiden Vertragspakete. Neben den Bilateralen I und II hat das Schweizer Parlament zwischen 1990 und 2010 zehn weiteren neuen Abkommen zugestimmt. Beispiele sind Abkommen zur Vereinfachung des grenzüberschreitenden Güterverkehrs (Transitabkommen, Zollsicherheit, Amtshilfe) oder zur Kooperation mit Euratom. Zudem beschloss das Parlament zwei Totalrevisionen und fünf Teilrevisionen von bilateralen Verträgen.
Totalrevisionen sind üblich für Kooperationsabkommen im Bereich Bildung und Forschung, meist als Reaktion auf ein neues mehrjähriges EU-Rahmenprogramm. Teilrevidiert wurden das Luftverkehrsabkommen, das Personenfreizügigkeitsabkommen anlässlich der Erweiterungen der EU und das Freihandelsabkommen im Rahmen der Bilateralen II im Bereich der verarbeiteten Landwirtschaftsprodukte. Diese Reformen dürften die wichtigsten Schritte der Schweizer Europapolitik gewesen sein, da sie alle vom Parlament beschlossen wurden. Gemäss Bundesverfassung hat das Parlament immer dann das letzte Wort, wenn ein Staatsvertrag neue rechtsetzende Bestimmungen enthält.
Mehr Vertragsrevisionen und mehr Umsetzungsmassnahmen seit 2004
Nun verlangt die EU von der Schweiz eine Regelung, nach der diese Verträge regelmässig an neues EU-Recht angepasst würden. In der Schweiz ist eine solche institutionelle Regelung höchst umstritten, weil sie, wie es schon der EWR getan hätte, die Schweiz zu einer Rechtsübernahme ohne Mitbestimmungsrecht verpflichten würde. Eine Analyse der Entwicklungen der Schweizer Europapolitik zwischen 1990 und 2010 zeigt jedoch, dass eine solche Integrationsdynamik schon in der Vergangenheit stattfand.
Bundesrat verabschiedet mehr Vertragsrevisionen als das Parlament
Hervorzuheben sind zwei Entwicklungen. Zum einen wurden seit 2004 jährlich mehr bilaterale Verträge oder Vertragsrevisionen vom Bundesrat verabschiedet als vom Parlament. Bei den 22 neuen Verträgen, die der Bundesrat abgeschlossen hat, handelt es sich beispielsweise um Kooperationen im Bereich klinischer Studien, Meteorologie, Bildung (ERASMUS), oder um die Teilnahme an der Mission Althea in Bosnien und Herzegovina.
Bei den 152 Teilrevisionen handelt es sich grösstenteils um Entscheidungen von Gemischten Ausschüssen. Gemischte Ausschüsse setzen sich aus Vertretern der Schweiz und der EU zusammen und haben häufig die Kompetenz, die Anhänge der Abkommen zu ändern, in denen direkt auf EU-Recht verwiesen wird. Neben den Marktzugangsabkommen der Bilateralen I wurden auch ältere Abkommen, wie das Freihandelsabkommen, das Protokoll über Ursprungserzeugnisse und das Abkommen über die Uhrenindustrie revidiert. Das am häufigsten revidierte Abkommen ist allerdings die Schengenassoziierung. Allein in den ersten drei Jahren (2008-2010) wurde das Abkommen 42 mal ergänzt.
Zum andern hat sich die Bedeutung von bilateralen Verträgen im Vergleich zur Übernahme von EU-Recht in Bundesgesetze verändert. In den 1990er Jahren waren Übernahmen von EU-Regeln ins Landesrecht häufiger als Verabschiedungen oder Revisionen von bilateralen Verträgen. Seit 2004 ist das umgekehrt. Ausserdem sind Übernahmen von EU-Recht im Landesrecht heute häufiger Umsetzungsmassnahmen von bilateralen Verträgen als dies in den 1990er Jahren der Fall war. Wir beobachten also eine Formalisierung des bilateralen Weges, da Verträge immer wichtiger geworden sind. Wir beobachten ebenfalls eine Dynamisierung, da seit dem Inkrafttreten der Bilateralen I die Anzahl der Vertragsrevisionen und der Umsetzungsmassnahmen im Landesrecht zugenommen hat.
Fehlende öffentliche Diskussion
Diese Entwicklungen sind nicht überraschend, da die Verträge mit Gemischten Ausschüssen und neuerdings dynamischen Klauseln institutionelle Regeln für die Revision beinhalten. Zudem haben Juristinnen und Juristen darauf hingewiesen, dass der „autonome Nachvollzug“ an Bedeutung verlieren wird, wenn die Beziehungen zur EU zunehmend vertraglich geregelt sind. Die Entwicklungen sind trotzdem bemerkenswert, da sie in einer Zeit stattfanden, in der immer mehr Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Schweiz die Europapolitik des Bundesrates ablehnen.
Ob ein institutionelles Rahmenabkommen zu noch häufigeren Vertragsrevisionen führen wird, kann auf Basis der Untersuchung der ETH nicht vorhergesehen werden. Die Daten zeigen aber, dass der bilaterale Weg schon heute mehr gesetzgeberische Tätigkeit bedeutet als die bekannten Verträge. Dies wird in der Öffentlichkeit zu wenig diskutiert und reflektiert. Die Diskussion um das institutionelle Rahmenabkommen zwingt die Schweiz, diese Entwicklung zu diskutieren und ihr eventuell eine transparente rechtliche Basis zu geben.
Referenzen:
- Epiney, Astrid, Beate Metz und Benedikt Parker (2012). Zur Parallelität der Rechtsentwicklung in der EU und in der Schweiz. Ein Beitrag zur rechtlichen Tragweite der “Bilateralen Abkommen”. Zürich: Schulthess Juristische Medien.
- Jenni, Sabine (2015). Switzerland’s regulatory European integration. Between tacit consensus and noisy dissensus. Swiss Political Science Review 21(4).
- Jenni, Sabine (In Vorbereitung). Switzerland’s Differentiated European Integration. The Last Gallic Village? Basingstoke: Palgrave Macmillan.
- Thürer, Daniel, Weber Rolf H., Wolfgang Portmann und Andreas Kellerhals (Herausgeber) (2007). Bilaterale Verträge I & II Schweiz – EU. Handbuch. Zürich: Schulthess.
Weblinks:
Foto: DeFacto