MEI: Das Stimmvolk wusste, was es tat

Hätten die Stimmbürger besser Bescheid gewusst, wäre die MEI an der Urne gescheitert, heisst es seit der Abstimmung vom Februar 2014 immer wieder. Eine Studie der Universität Zürich zeigt das Gegenteil: Die Leute wussten sehr genau, was sie taten.

Als die Stimmbürger zur „Volksinitiative gegen die Masseneinwanderung“ ihr Votum abgaben, taten sie dies sehr bewusst. Das zeigt eine Studie der Forschungsstelle Sotomo an der Universität Zürich, die den Informiertheitsgrad der Stimmbürger bei 275 verschiedenen Abstimmungen untersucht hat. „Im Vergleich zu anderen Abstimmungen waren die Stimmenden bei der Masseneinwanderungsinitiative ausserordentlich gut informiert“, sagt Studienautor Thomas Milic. Seine Auswertungen zeigen, dass eine überwältigende Mehrheit von 84 Prozent der Stimmbürger beim Urnengang zur MEI über einen hohen Informiertheitsgrad verfügte.

Dieser Wert war deutlich grösser als jener bei den anderen Vorlagen, über die am 9. Februar 2014 abgestimmt wurde. Bei der Initiative „Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache“ wussten immerhin 60 Prozent, worum es ging. Die Vorlage über die Finanzierung der Eisenbahninfrastruktur (FABI) vermochte das Interesse der Stimmbürgerschaft weniger stark zu wecken; nur noch 56 Prozent waren gut über deren Inhalt informiert.

Passt zum Gesamttrend

 

Dass die Stimmbürger ausgerechnet über die MEI ausserordentlich gut Bescheid wussten, passt zu einem Gesamttrend: bei aussen- und migrationspolitischen Themen ist ein hoher Informationsgrad in der Bevölkerung üblich. Über solche Sachfragen wird inzwischen jährlich, zum Teil sogar mehrfach, abgestimmt“, sagt Milic. Der Stimmbürger kenne deshalb die Positionen der Parteien und wisse, welche Argumente vorgelegt werden. „Dem Stimmvolk ist das Thema sehr vertraut.“

Insgesamt variiert der Informationsgrad der Stimmbürger bei Abstimmungen sehr stark, wie die Sotomo-Studie zeigt. So wussten die Abstimmenden bei der Mieten-Initiative 2003, dem konstruktiven Referendum 2000 und der neuen Finanzordnung 2004 kaum über die Vorlagen Bescheid. Ganz anders beim Eherecht 1985, der Waffenschutzinitiative 2011 oder der Armeeabschaffung 1989: So gut wie bei diesen Vorlagen waren die Stimmberechtigten sonst nie informiert.

 90 Prozent haben bei der MEI korrekt gestimmt

Die Leute waren einfach nicht informiert – so hiess es nach der MEI-Abstimmung aus dem Lager der Verlierer. Aufgrund der fehlenden Informationen über Konsequenzen und einer irreführenden Kampagne der Befürworter hätten viele entgegen ihren wahren Präferenzen gestimmt.

Dieser Behauptung widerspricht die Studie allerdings deutlich. Erstens wusste der Souverän am 9. Februar 2014, dass eine Annahme der SVP-Initiative zu einem Bruch mit der EU und zu einer Gefährdung der bilateralen Verträge führen könnte. Unter den Befürwortern der Initiative gewichteten 83 Prozent die eigenständige Steuerung der Zuwanderung höher als die bilateralen Verträge. Damit nahmen sie das Risiko deren Kündigung bewusst in Kauf. Zweitens zeigt die Studie, dass 90 Prozent der Stimmenden einen korrekten Stimmentscheid fällten – das heisst, sie stimmten auch tatsächlich so ab, wie es den zum Ausdruck gebrachten Präferenzen entspricht.

Interessanterweise stimmten die Gegner der Masseneinwanderungsinitiative häufiger falsch ab (21 Prozent) als die Befürworter (8 Prozent). Bei 100 Prozent korrekten Stimmentscheiden wäre der Ja-Anteil also tendenziell höher als 50.3 Prozent ausgefallen.

 Trotzdem nochmal an die Urne?

Einer, der die Stimmbürger nach dem Urnengang für „zu wenig informiert“ hielt, ist Roger Nordmann. Der Vize-Fraktionschef der SP, forderte in der Frühjahrssession 2014 des Nationalrats eine Wiederholung der Volksabstimmung. Die Stimmbürgerschaft sei über mögliche Konsequenzen zu wenig informiert gewesen, weshalb es eine „Korrekturabstimmung“ brauche. Zahlreiche weitere Exponenten der SP, aber auch von Mitteparteien, äusserten sich ebenfalls dahingehend, dass die Stimmberechtigten schlecht über die Vorlage informiert gewesen seien.

Mit den Ergebnissen der Studie konfrontiert, meint Nordmann: „Die Initiative war für das Stimmvolk irreführend: Vor der Abstimmung beteuerte die SVP, dass sie nicht gegen die Bilateralen sei.“ Danach habe Blocher das Gegenteil gesagt. Da nun das Personenfreizügigkeitsabkommen und die anderen bilateralen Verträge auf der Kippe stehen, brauche es eine neue Abstimmung, welche Klarheit schaffe. „Es geht um die Frage, ob die Beschränkung der Zuwanderung für sämtliche Ausländer gelten soll oder nur für Personen aus Nicht-EU/EFTA-Staaten“, so Nordmann. Mit der zweiten Variante könnte das Personenfreizügigkeitsabkommen erhalten bleiben. Da sich die EU bisher weigerte mit der Schweiz darüber zu verhandeln, scheint eine erneute Abstimmung zur Klärung des bilateralen Verhältnisses zum jetzigen Zeitpunkt unumgänglich. 

Wie geht’s weiter – “Raus aus der Sackgasse”? 

In den nächsten Jahren wird das Stimmvolk möglicherweise gleich zwei Mal im Zusammenhang mit der MEI an die Urne gerufen. Im Falle des Zustandekommens eines fakultativen Referendums können die Schweizer Bürger an der Urne über die neue Gesetzgebung zur Umsetzung der MEI befinden.

Wird die soeben eingereichte RASA-Initiative für gültig erklärt und der Stimmbürgerschaft vorgelegt, zeigt sich spätestens dann, ob eine Umkehrung des Volksentscheids vom 8. Februar 2014 erfolgt.

Infobox: RASA-Initiative

Die Volksinitiative „Raus aus der Sackgasse!“ (kurz RASA-Initiative) verlangt die ersatzlose Streichung des Verfassungsartikels über die Zuwanderung und wurde am 27. Oktober 2015 bei der Bundeskanzlei eingereicht.

Ob sich die Stimmbürger dann für die Kontingentierung oder die Personenfreizügigkeit entscheiden werden, steht in den Sternen. Fest steht: Sie werden ihren Entscheid ausserordentlich gut informiert treffen.

Infobox: Daten

Informiertheit

In der Studie wurden Daten der VOX-Nachbefragung von rund 1500 Personen ausgewertet. Zur Messung der Informiertheit werden zwei VOX-Fragen herangezogen: Zum einen diejenige nach dem Vorlagentitel, zum anderen diejenige nach dem Vorlageninhalt. Eine Person, die sowohl Titel als auch Inhalt der betreffenden Abstimmung wiedergeben kann, wird der höchsten Informiertheits-Kategorie zugeordnet. Kennt eine Person entweder nur den Titel oder nur den Inhalt, gilt sie als mittel informiert. Jemand, der nicht weiss, worüber abgestimmt wurde, weist eine niedrige Informiertheit aus. Dieses Konzept der Informiertheit ist deshalb besonders geeignet, weil es seit 1981 angewendet wird und alle Vorlagen miteinander vergleichbar macht.

Korrekter Stimmentscheid

Die VOX-Analyse enthält pro Vorlage mehrere Pro- und Kontra-Argumente. Die Befragten können den einzelnen Argumenten (eher) zustimmen oder sie (eher) ablehnen. Stimmt eine Person beispielsweise sämtlichen Pro-Argumenten einer Initiative zu und lehnt alle Kontra-Argumente ab, müsste sie diese Initiative an der Urne annehmen. Legte sie aber ein Nein ein, stimmte sie gemessen an ihren Präferenzen falsch ab. Ein korrekter Stimmentscheid bedeutet, dass Personen, die inhaltlich zu einem Ja tendieren, die Vorlage auch tatsächlich angenommen hatten und umgekehrt.


Referenzen:

Foto: RASA/Raphael Hünerfauth

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