Die Wahlen 2015 waren die stabilsten Wahlen seit 1963

In den Medi­en erhielt man nach den Wah­len 2015 den Ein­druck, es hät­ten grös­se­re poli­ti­sche Ver­schie­bun­gen statt­ge­fun­den. Dem ist nicht so. Die Wah­len 2015 brach­ten die gerings­ten Ver­än­de­run­gen der Wäh­ler­an­tei­le seit 1967. Die poli­ti­schen Blö­cke sind in der Schweiz sehr sta­bil. Ver­än­de­rungs­po­ten­ti­al hat aber die poli­ti­sche Dyna­mik und die neue, wenn auch knap­pe Mehr­heit von SVP und FDP zusam­men mit klei­nen Rechts­par­tei­en im Natio­nal­rat. Wobei völ­lig unklar ist, ob die Par­tei­en die­se auch nut­zen werden.

Bemerkenswerte Ergebnisse 2015

Nach­dem die SVP 2011 zu den Ver­lie­ren gehör­te, erziel­te sie bei den Natio­nal­rats­wah­len 2015 wie­der einen deut­li­chen Anstieg, was einem Rekord gleich­kommt: 29,4 Pro­zent Wäh­ler­an­tei­le erreich­te seit der Ein­füh­rung des Pro­por­zes 1919 noch nie eine Par­tei in der Schweiz. Über 28 Pro­zent Wäh­ler­an­teil erhiel­ten neben der SVP (2007 und 2015) nur der Frei­sinn 1919 und 1923 sowie die Sozi­al­de­mo­kra­ten 1931 und 1943.

Bemer­kens­wert war bei den Wah­len 2015, dass die Gewin­ne der SVP für ein­mal nicht zulas­ten der FDP gin­gen. Die FDP konn­te zum ers­ten Mal seit 1987 ihren Wäh­ler­an­teil um 1,3 Pro­zent­punk­te stei­gern und damit einen lan­gen Abwärts­trend bre­chen. Die FDP ist aller­dings mit dem dritt­schlech­tes­ten Resul­tat aller Zei­ten immer noch weit von ihren Glanz­zei­ten ent­fernt und hat zudem ihr Wahl­ziel, stär­ker als die SP zu wer­den, klar verfehlt.

Ansons­ten war bei den Wah­len 2015 vor allem die Kon­stanz bemer­kens­wert: Die CVP ver­lor nur wenig, die SP blieb kon­stant und der „Ein­bruch“ bei den Grü­nen und der BDP betrug gera­de ein­mal 1,3 Pro­zent­punk­te, bei der GLP 0,8 Prozentpunkte.

Stabilste Wahlen seit 1967

Im lang­jäh­ri­gen Ver­gleich gehö­ren die Natio­nal­rats­wah­len 2015 zu den sta­bils­ten in den letz­ten Jahr­zehn­ten. Die Vola­ti­li­tät, ein Mass, das die Ver­än­de­run­gen im Par­tei­en­sys­tem zwi­schen zwei Wahl­gän­gen misst, betrug 4,9 Pro­zent (sie­he Abbil­dung 1). Einen tie­fe­ren Wert wur­de das letz­te Mal 1963 ver­zeich­net, das war kurz nach der Ent­ste­hung der Zauberformel.

Nach der Ein­füh­rung des Pro­por­zes 1919 blieb das Par­tei­en­sys­tem der Schweiz erst ein­mal recht sta­bil. In den 1930er und 1940er Jah­ren kam es zu ers­ten grös­se­ren Tur­bu­len­zen durch neue Par­tei­en am rech­ten Rand und dem neu gegrün­de­ten Lan­des­ring der Unab­hän­gi­gen in der poli­ti­schen Mit­te. Danach wur­de die Sta­bi­li­tät lau­fend grös­ser. Die Vola­ti­li­tät war bei der Ein­füh­rung der Zau­ber­for­mel 1959 am gerings­ten über­haupt in den letz­ten hun­dert Jah­ren.  Nur 1,2 Pro­zent Wäh­ler­an­tei­le wech­sel­ten von 1955 und 1959 von einer Par­tei zur anderen.

Ende der 1960er Jah­re führ­te zuerst der Auf­stieg rech­ter Par­tei­en wie den Repu­bli­ka­nern und der Natio­na­len Akti­on für Volk und Hei­mat (den spä­te­ren Schwei­zer Demo­kra­ten) zu einem Anstieg der Vola­ti­li­tät. Ab den 70er Jah­ren war die Ent­ste­hung vie­ler lin­ker Par­tei­en, wie der POCH und ande­ren grü­nen, femi­nis­ti­schen oder alter­na­ti­ven Par­tei­en für den Anstieg der Vola­ti­li­tät verantwortlich.

Ab den 1990er Jah­ren trug der Auf­stieg der SVP mass­geb­lich zum Anstieg der Vola­ti­li­tät bei. Die SVP ver­dräng­te klei­ne­re rech­te Par­tei­en und mach­te der FDP und CVP die kon­ser­va­ti­ve Wäh­ler­schaft kon­ti­nu­ier­lich abspens­tig. Zu den gröss­ten Ver­schie­bun­gen seit 1919 kam es 2011, als mit der BDP und der GLP zwei rela­tiv neue Par­tei­en zusam­men auf über 10 Pro­zent Wäh­ler­an­tei­le kamen, die ent­spre­chend bei allen ande­ren Par­tei­en ver­lo­ren gingen.

Abbildung 1:

volatilitaet

INFOBOX: Vola­ti­li­tät
Die Vola­ti­li­tät ist ein übli­ches Mass, um die Sta­bi­li­tät eines Par­tei­en­sys­tems zu mes­sen. Basis sind die Ver­schie­bun­gen aller Par­tei­en zwi­schen zwei Wahl­gän­gen. Die abso­lu­ten Ver­lus­te und Gewin­ne an Wäh­ler­an­tei­len aller Par­tei­en wer­den dabei zusam­men­ge­zählt. Die­ser Wert wird dann durch zwei geteilt, da Gewin­ne einer Par­tei zwin­gend zu Ver­lus­ten bei ande­ren Par­tei­en führen.
Hohe Blockstabilität

Gross ist in der Schweiz auch die Sta­bi­li­tät zwi­schen den poli­ti­schen Blö­cken, der Lin­ken auf der einen Sei­te und den bür­ger­li­chen Par­tei­en auf der ande­ren Sei­te (sie­he Abbil­dung 2). Die Links-Rechts-Unter­schei­dung war zwi­schen 1919 und den 1990er Jah­ren — bevor die Umwäl­zun­gen im bür­ger­li­chen Lager began­nen — die wich­tigs­te poli­ti­sche Kon­flikt­li­nie in der Schweiz. Der Wäh­ler­an­teil der Lin­ken schwank­te, nach­dem sich das Par­tei­en­sys­tem Anfang der 1930er Jah­re gefes­tigt hat­te, zwi­schen 25 und 32 Pro­zent, jener der bür­ger­li­chen Par­tei­en nach dem zwei­ten Welt­krieg zwi­schen 60 und 65 Prozent. 

Auch die Ver­schie­bun­gen zwi­schen den poli­ti­schen Blö­cken waren 2015 beschei­den. Die lin­ken Par­tei­en haben ins­ge­samt 1,2 Pro­zent­punk­te an Wäh­ler­an­tei­len ver­lo­ren, der Bür­ger­block hat zwei Pro­zent­punk­te zuge­legt. Erd­rut­sche sehen anders aus.

Umfas­sen­de Umwäl­zun­gen gab es in den letz­ten 30 Jah­ren vor allem inner­halb des bür­ger­li­chen Lagers. Der SVP gelang es, ab 1995 ihren Wäh­ler­an­teil auf Kos­ten von CVP und FDP mas­siv aus­zu­bau­en und vom Juni­or­part­ner zur domi­nie­ren­den Kraft im bür­ger­li­chen Lager zu wer­den. Damit ein­her ging eine Neu­aus­rich­tung aller bür­ger­li­chen Par­tei­en. In der SVP wur­de der mode­ra­te Flü­gel zuneh­mend mar­gi­na­li­siert, bei der CVP und FDP brach der natio­nal-kon­ser­va­ti­ve Teil der Wäh­ler­schaft weg und wech­sel­te zur SVP, sodass die­se bei­den Par­tei­en seit der Jahr­hun­dert­wen­de immer häu­fi­ger „Mit­te-Par­tei­en” genannt werden.

Abbildung 2:

staerke

Anmer­kung: Unter den Lin­ken sind SP, Grü­ne sowie diver­se klei­ne­re lin­ke Par­tei­en zusam­men­ge­fasst. „Bür­ger­li­che“ fas­sen die Wäh­ler­an­tei­le von FDP, CVP, BDP, LPS zusam­men. „Mitte/Andere“ sind GLP, EVP, LdU sowie diver­se Kleinst­par­tei­en. SVP/Rechte umfas­sen die SVP sowie wei­te­re klei­ne Par­tei­en am rech­ten Rand.

Veränderung durch neue Dynamik im Nationalrat

Nur die Ver­schie­bun­gen bei den Wäh­ler­an­tei­len recht­fer­ti­gen es also kaum, nach den Wah­len 2015 von einer gros­sen Wen­de zu sprechen.

Ver­än­de­rungs­po­ten­ti­al gibt es aber in der Schwei­zer Poli­tik durch­aus, in ers­ter Linie durch die neu­en Mehr­heits­ver­hält­nis­se im Natio­nal­rat und wahr­schein­lich bald auch im Bun­des­rat. Die 101 Sit­ze, die die SVP und FDP zusam­men mit den klei­ne­ren Rechts­par­tei­en im Natio­nal­rat errei­chen, sind ein Novum. Das führt dazu, dass in der kom­men­den Legis­la­tur die FDP Mehr­heits­be­schaf­fe­rin ist und nicht mehr die CVP oder ande­re Mit­te­par­tei­en. Dies gilt zwar nur für den Natio­nal­rat und nicht für den Stän­de­rat, doch es gäbe zumin­dest dem Natio­nal­rat eine Veto­po­si­ti­on in Fra­gen, bei denen sich die FDP und SVP einig sind.

Inwie­fern die­se Mehr­heit zum Tra­gen kommt, ist aller­dings offen. Sie spielt theo­re­tisch vor allem bei jenen The­men, in denen sich die bei­den Par­tei­en inhalt­lich nahe sind, etwa in der Wirt­schafts- und Sozi­al­po­li­tik. Und auch da gibt es noch erheb­li­ches Kon­flikt­po­ten­ti­al. Die SVP ist sich wenig gewohnt, auf ande­re Par­tei­en zuzu­ge­hen und sich sel­ber Mehr­hei­ten zu orga­ni­sie­ren. Beharrt sie auf Maxi­mal­for­de­run­gen, wird sie die FDP kaum dazu brin­gen, mit ihr zusam­men­zu­ar­bei­ten. Und auch die FDP wird sich hüten, eine all­zu enge Bin­dung mit der SVP ein­zu­ge­hen, son­dern dar­auf ach­ten, im Hin­blick auf die nächs­ten Wah­len ein eigen­stän­di­ges Pro­fil zu wahren. 


Foto: DeFacto

image_pdfimage_print