Das Milizsystem oder die Frage nach der Professionalisierung

Das Miliz­sys­tem ist nicht mehr das, was es ein­mal war. Die Dis­kus­si­on um die­ses Sys­tem ist in der Wis­sen­schaft, der Publi­zis­tik oder in Ver­bän­den seit eini­gen Jah­ren ein Dau­er­bren­ner. Die Kräf­te aus­schliess­lich auf eine Vita­li­sie­rung des Miliz­sys­tems zu kon­zen­trie­ren, rei­chen gemäss Micha­el Stre­bel aber nicht aus. Viel­mehr stellt sich die grund­sätz­li­che Fra­ge, ob nicht ein ande­rer Ansatz ver­folgt wer­den soll­te und der Weg der Pro­fes­sio­na­li­sie­rung viel­leicht gar der bes­ser wäre.

Man kann nicht mit klei­nen Pfläs­ter­li ein Sys­tem erhal­ten, wel­ches viel­leicht im Mark ver­fault ist und nicht mehr funk­tio­niert“, gab der Aar­gau­er Regie­rungs­rat Urs Hof­mann im Jahr 2014 in einem Inter­view zu beden­ken. Der Sozio­lo­ge Meu­li kam auf­grund sei­ner For­schung zur Gemein­de­po­li­tik schon frü­her zur einer ähn­li­chen Einschätzung: 

«Es kracht noch nicht, aber es ächzt im Gebälk des Milizsystems.»

Urs Meu­li, Soziologe 

Das Milizsystem — unter Druck und vor Wiederbelebungsversuchen

Das Miliz­sys­tem ist seit eini­gen Jah­ren in den Fokus von Wis­sen­schaft, Publi­zis­tik oder Ver­bän­den gerückt. Die Dis­kus­si­on über die Zukunft die­ses Sys­tems fin­det dar­um auch regel­mäs­sig in Par­tei­pa­pie­ren oder par­la­men­ta­ri­schen Debat­ten Eingang. 

Der Dach­ver­band der Schwei­zer Wirt­schaft, Eco­no­mie­su­is­se, lan­cier­te zusam­men mit dem Schwei­ze­ri­schen Arbeit­ge­ber­ver­band im Juni 2015 eine von über 200 Fir­men und Orga­ni­sa­tio­nen unter­zeich­ne­te Erklä­rung, um am Schwei­zer Miliz­prin­zip fest­zu­hal­ten und die­ses aktiv zu fördern. 

Veränderte Rahmenbedingungen

Die­se und ande­re Bemü­hun­gen um eine Wie­der­be­le­bung und Auf­recht­erhal­tung des Miliz­sys­tems sind die Fol­ge davon, dass sich die Rah­men­be­din­gun­gen für die Aus­übung eines poli­ti­schen Man­dats auf allen Ebe­nen merk­lich ver­än­dert haben.

Im Kon­text des oben erwähn­ten Appells frag­te die Neue Zür­cher Zei­tung den Prä­si­den­ten von Eco­no­mie­su­is­se nach dem Grund für den Appell zuguns­ten des Miliz­prin­zips. „In den letz­ten Jah­ren haben sich Wirt­schafts­ver­ant­wort­li­che ten­den­zi­ell aus der Poli­tik zurück­ge­zo­gen“, erwi­der­te die­ser und fuhr fort:

«Wir stel­len eine zuneh­men­de Pro­fes­sio­na­li­sie­rung des Par­la­men­tes fest. Das ist kei­ne gute Ent­wick­lung

Heinz Kar­rer, Prä­si­dent Economiesuisse

Die Unter­su­chung von Büti­ko­fer zum Miliz­sys­tem bestä­tigt, dass eine Pro­fes­sio­na­li­sie­rung im Gang ist: Die Anzahl der Voll­zeit­po­li­ti­ker hat über die letz­ten Legis­la­tur­pe­ri­oden beacht­lich zuge­nom­men, und zwar im Natio­nal- wie auch im Stän­de­rat. Wie ist die­se Ent­wick­lung zu beurteilen? 

Professionalisierung? Braucht es nicht!

Das Miss­be­ha­gen gegen­über der zuneh­men­den Pro­fes­sio­na­li­sie­rung schim­mert eben­falls bei eini­gen Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­kern durch. So führ­te eine Zür­cher Natio­nal­rä­tin in ihrer Erst-August-Rede aus: „Die Poli­ti­ker müs­sen Prio­ri­tä­ten set­zen. Da fast alle eid­ge­nös­si­schen und kan­to­na­len Par­la­men­ta­ri­er neben ihrer poli­ti­schen Tätig­keit einen Beruf aus­üben, sind sie oft in Zeit­not. Ein Glück für die Bevöl­ke­rung! So sind die Poli­ti­ker gezwun­gen, sich auf die wich­tigs­ten Pro­ble­me zu beschrän­ken. Wie im Berufs­le­ben eben, man muss effi­zi­ent und orga­ni­siert sein“.

Aus­sa­ge wie die­se – wei­te­re lies­sen ohne wei­te­res auf­füh­ren – ver­mit­teln mal sub­til, mal klar und deut­lich: Pro­fes­sio­na­li­sie­rung ist in eini­gen Krei­sen uner­wünscht. Die­je­ni­gen Poli­ti­ker, die den­noch die­sen Weg ein­schla­gen, wer­den als „Pro­fes­sio­nel­le“ abqua­li­fi­ziert, als bür­ger­fern bezeich­net und despek­tier­lich als Teil der Clas­se poli­tique betrach­tet. Aber wäre – gera­de aus insti­tu­tio­nel­ler Sicht – nicht auch eine ande­re Betrach­tungs­wei­se naheliegend?

Kontrapunkt: Professionalisierung in jedem Berufszweig – also auch in der Politik

Es drängt sich die Fra­ge auf, war­um die im Berufs­le­ben all­ge­mein gemach­ten Erfah­run­gen und Beob­ach­tun­gen nicht auch auf die Poli­tik zutref­fen soll­ten: Die Pro­zes­se wer­den kom­ple­xer, die The­men anspruchs­vol­ler, die Kadenz wird höher, die Pro­blem­lö­sung umfang­rei­cher wie viel­sei­ti­ger, die Spe­zia­li­sie­rung ist wei­ter­hin zuneh­mend. Dies alles gilt auch für die Poli­tik. Miliz­po­li­ti­ker sind von die­sen lau­fen­den Ver­än­de­run­gen dop­pelt betrof­fen: im Beruf wie in der Poli­tik – eine gewal­ti­ge Herausforderung.

Die Par­la­men­te und die Par­la­men­ta­ri­er sehen sich mit der dau­ern­den Her­aus­for­de­rung kon­fron­tiert, dass sie in der Lage sein müs­sen, ihre Rech­te auch aus­zu­üben, ihre Inter­es­sen durch­zu­set­zen und das Ungleich­ge­wicht zwi­schen ihnen und der Exe­ku­ti­ve zu redu­zie­ren. Sie sol­len nicht nur dem Vor­ge­ge­be­nen zuni­cken und dadurch in eine rein voll­zie­hen­de Rol­le geraten.

Par­la­men­ta­ri­er müs­sen über aus­rei­chen­de zeit­li­che Res­sour­cen ver­fü­gen, um ihr Man­dat gewis­sen­haft wahr­neh­men zu kön­nen. So lässt sich der Ten­denz, dass das Par­la­ment in sei­ner Gesetz­ge­bungs- und Kon­troll­funk­ti­on mar­gi­na­li­siert wird und die Par­la­men­ta­ri­er ledig­lich noch als Sta­tis­ten auf der „poli­ti­schen Büh­ne“ agie­ren kön­nen, entgegensteuern.

Nichts ist sicher! Es braucht den Mut zur Professionalisierung

Folg­lich muss das Gebot gel­ten: mehr Pro­fes­sio­na­li­tät wagen. „Das Siche­re ist nicht sicher. So wie es ist, bleibt es nicht“, sag­te schon Ber­told Brecht, und die­se Aus­sa­ge trifft auch auf das Miliz­sys­tem zu. Gewiss, über die damit ein­her­ge­hen­den Ver­än­de­run­gen, und mehr noch, über die damit ver­bun­de­nen Kon­se­quen­zen braucht es einen gesell­schafts­po­li­ti­schen Diskurs.

Die Kräf­te aus­schliess­lich auf eine Vita­li­sie­rung des Miliz­sys­tems zu kon­zen­trie­ren, rei­chen nicht aus. Viel­mehr stellt sich die grund­sätz­li­che Fra­ge, ob nicht ein ande­rer Ansatz ver­folgt wer­den soll­te. Die Mög­lich­kei­ten der Par­la­men­te – auf Bun­des- wie auch auf Kan­tons­ebe­ne – müs­sen ver­mehrt dis­ku­tiert und wahr­ge­nom­men wer­den: Wie kann das Par­la­ment unter den heu­ti­gen Bedin­gun­gen in vie­len Poli­tik­fel­dern noch als ernst­zu­neh­men­des Gegen­über der Exe­ku­ti­ve fun­gie­ren (oder in die­se Rol­le hin­ein­wach­sen), damit poli­ti­sche Ent­schei­de kom­pe­tent gefällt wer­den kön­nen? An macht- und wir­kungs­lo­sen Par­la­men­ta­ri­ern haben die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger kein Inter­es­se. Wird der hier ver­tre­te­ne Ansatz ver­folgt, so wird sich all­mäh­lich zei­gen, dass das Miliz­sys­tem, das sich frü­her unter ande­ren Bedin­gun­gen durch­aus bewähr­te, heu­te im 21. Jahr­hun­dert in sei­ner Abso­lut­heit kaum mehr die bes­te aller Vari­an­ten dar­stel­len dürfte.

Nicht zuletzt soll­ten Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er in der Öffent­lich­keit selbst­be­wusst ver­tre­ten, dass es für ihre Pro­fes­sio­na­li­sie­rung, und damit die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung des Par­la­men­tes, sehr wohl gute Grün­de gibt. Pro­fes­sio­na­li­tät ist eine gebüh­ren­de, unaus­weich­li­che Not­wen­dig­keit ange­sichts der sich dra­ma­tisch ver­än­der­ten Rah­men­be­din­gun­gen, damit das Par­la­ment (selbst­re­dend trifft dies auch auf die Exe­ku­ti­ve zu) sei­ne ver­fas­sungs­mäs­si­gen Rech­ten und Pflich­ten de fac­to – und nicht nur pro for­ma – aus­üben kann.

Hin­weis: Die­ser Text erschien in einer aus­führ­li­che­ren Fas­sung bereits in Par­la­ment, dem Mit­tei­lungs­blatt der Schwei­ze­ri­schen Gesell­schaft für Par­la­ments­fra­gen 2015/2, S. 41–44.


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Foto: Par­la­ments­diens­te 3003 Bern, parlament.ch

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