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Das Milizsystem oder die Frage nach der Professionalisierung

Michael Strebel
9th Oktober 2015

Das Milizsystem ist nicht mehr das, was es einmal war. Die Diskussion um dieses System ist in der Wissenschaft, der Publizistik oder in Verbänden seit einigen Jahren ein Dauerbrenner. Die Kräfte ausschliesslich auf eine Vitalisierung des Milizsystems zu konzentrieren, reichen gemäss Michael Strebel aber nicht aus. Vielmehr stellt sich die grundsätzliche Frage, ob nicht ein anderer Ansatz verfolgt werden sollte und der Weg der Professionalisierung vielleicht gar der besser wäre.

„Man kann nicht mit kleinen Pflästerli ein System erhalten, welches vielleicht im Mark verfault ist und nicht mehr funktioniert“, gab der Aargauer Regierungsrat Urs Hofmann im Jahr 2014 in einem Interview zu bedenken. Der Soziologe Meuli kam aufgrund seiner Forschung zur Gemeindepolitik schon früher zur einer ähnlichen Einschätzung: 

«Es kracht noch nicht, aber es ächzt im Gebälk des Milizsystems.»

Urs Meuli, Soziologe 

Das Milizsystem - unter Druck und vor Wiederbelebungsversuchen

Das Milizsystem ist seit einigen Jahren in den Fokus von Wissenschaft, Publizistik oder Verbänden gerückt. Die Diskussion über die Zukunft dieses Systems findet darum auch regelmässig in Parteipapieren oder parlamentarischen Debatten Eingang. 

Der Dachverband der Schweizer Wirtschaft, Economiesuisse, lancierte zusammen mit dem Schweizerischen Arbeitgeberverband im Juni 2015 eine von über 200 Firmen und Organisationen unterzeichnete Erklärung, um am Schweizer Milizprinzip festzuhalten und dieses aktiv zu fördern. 

Veränderte Rahmenbedingungen

Diese und andere Bemühungen um eine Wiederbelebung und Aufrechterhaltung des Milizsystems sind die Folge davon, dass sich die Rahmenbedingungen für die Ausübung eines politischen Mandats auf allen Ebenen merklich verändert haben.

Im Kontext des oben erwähnten Appells fragte die Neue Zürcher Zeitung den Präsidenten von Economiesuisse nach dem Grund für den Appell zugunsten des Milizprinzips. „In den letzten Jahren haben sich Wirtschaftsverantwortliche tendenziell aus der Politik zurückgezogen“, erwiderte dieser und fuhr fort:

«Wir stellen eine zunehmende Professionalisierung des Parlamentes fest. Das ist keine gute Entwicklung

Heinz Karrer, Präsident Economiesuisse

Die Untersuchung von Bütikofer zum Milizsystem bestätigt, dass eine Professionalisierung im Gang ist: Die Anzahl der Vollzeitpolitiker hat über die letzten Legislaturperioden beachtlich zugenommen, und zwar im National- wie auch im Ständerat. Wie ist diese Entwicklung zu beurteilen? 

Professionalisierung? Braucht es nicht!

Das Missbehagen gegenüber der zunehmenden Professionalisierung schimmert ebenfalls bei einigen Politikerinnen und Politikern durch. So führte eine Zürcher Nationalrätin in ihrer Erst-August-Rede aus: „Die Politiker müssen Prioritäten setzen. Da fast alle eidgenössischen und kantonalen Parlamentarier neben ihrer politischen Tätigkeit einen Beruf ausüben, sind sie oft in Zeitnot. Ein Glück für die Bevölkerung! So sind die Politiker gezwungen, sich auf die wichtigsten Probleme zu beschränken. Wie im Berufsleben eben, man muss effizient und organisiert sein“.

Aussage wie diese – weitere liessen ohne weiteres aufführen – vermitteln mal subtil, mal klar und deutlich: Professionalisierung ist in einigen Kreisen unerwünscht. Diejenigen Politiker, die dennoch diesen Weg einschlagen, werden als „Professionelle“ abqualifiziert, als bürgerfern bezeichnet und despektierlich als Teil der Classe politique betrachtet. Aber wäre – gerade aus institutioneller Sicht – nicht auch eine andere Betrachtungsweise naheliegend?

Kontrapunkt: Professionalisierung in jedem Berufszweig – also auch in der Politik

Es drängt sich die Frage auf, warum die im Berufsleben allgemein gemachten Erfahrungen und Beobachtungen nicht auch auf die Politik zutreffen sollten: Die Prozesse werden komplexer, die Themen anspruchsvoller, die Kadenz wird höher, die Problemlösung umfangreicher wie vielseitiger, die Spezialisierung ist weiterhin zunehmend. Dies alles gilt auch für die Politik. Milizpolitiker sind von diesen laufenden Veränderungen doppelt betroffen: im Beruf wie in der Politik – eine gewaltige Herausforderung.

Die Parlamente und die Parlamentarier sehen sich mit der dauernden Herausforderung konfrontiert, dass sie in der Lage sein müssen, ihre Rechte auch auszuüben, ihre Interessen durchzusetzen und das Ungleichgewicht zwischen ihnen und der Exekutive zu reduzieren. Sie sollen nicht nur dem Vorgegebenen zunicken und dadurch in eine rein vollziehende Rolle geraten.

Parlamentarier müssen über ausreichende zeitliche Ressourcen verfügen, um ihr Mandat gewissenhaft wahrnehmen zu können. So lässt sich der Tendenz, dass das Parlament in seiner Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion marginalisiert wird und die Parlamentarier lediglich noch als Statisten auf der „politischen Bühne“ agieren können, entgegensteuern.

Nichts ist sicher! Es braucht den Mut zur Professionalisierung

Folglich muss das Gebot gelten: mehr Professionalität wagen. „Das Sichere ist nicht sicher. So wie es ist, bleibt es nicht“, sagte schon Bertold Brecht, und diese Aussage trifft auch auf das Milizsystem zu. Gewiss, über die damit einhergehenden Veränderungen, und mehr noch, über die damit verbundenen Konsequenzen braucht es einen gesellschaftspolitischen Diskurs.

Die Kräfte ausschliesslich auf eine Vitalisierung des Milizsystems zu konzentrieren, reichen nicht aus. Vielmehr stellt sich die grundsätzliche Frage, ob nicht ein anderer Ansatz verfolgt werden sollte. Die Möglichkeiten der Parlamente – auf Bundes- wie auch auf Kantonsebene – müssen vermehrt diskutiert und wahrgenommen werden: Wie kann das Parlament unter den heutigen Bedingungen in vielen Politikfeldern noch als ernstzunehmendes Gegenüber der Exekutive fungieren (oder in diese Rolle hineinwachsen), damit politische Entscheide kompetent gefällt werden können? An macht- und wirkungslosen Parlamentariern haben die Bürgerinnen und Bürger kein Interesse. Wird der hier vertretene Ansatz verfolgt, so wird sich allmählich zeigen, dass das Milizsystem, das sich früher unter anderen Bedingungen durchaus bewährte, heute im 21. Jahrhundert in seiner Absolutheit kaum mehr die beste aller Varianten darstellen dürfte.

Nicht zuletzt sollten Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Öffentlichkeit selbstbewusst vertreten, dass es für ihre Professionalisierung, und damit die Professionalisierung des Parlamentes, sehr wohl gute Gründe gibt. Professionalität ist eine gebührende, unausweichliche Notwendigkeit angesichts der sich dramatisch veränderten Rahmenbedingungen, damit das Parlament (selbstredend trifft dies auch auf die Exekutive zu) seine verfassungsmässigen Rechten und Pflichten de facto – und nicht nur pro forma – ausüben kann.

Hinweis: Dieser Text erschien in einer ausführlicheren Fassung bereits in Parlament, dem Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen 2015/2, S. 41-44.


Referenzen

Foto: Parlamentsdienste 3003 Bern, parlament.ch