Volksrechte auf Bundesebene: die Schweiz als Vorbild!?

In Deutsch­land wer­den immer mehr Stim­men laut, die mehr Par­ti­zi­pa­ti­ons­mög­lich­kei­ten für das Volk auf Bun­des­ebe­ne for­dern. Wäh­rend die Schweiz zwar als Vor­bild aner­kannt, jedoch nicht kopiert wer­den soll, hofft man, ein Vor­ge­hen wie in Öster­reich ver­hin­dern zu können.

Bei der fei­er­li­chen Kon­sti­tu­ie­rung des 18. Deut­schen Bun­des­ta­ges am 22. Okto­ber 2013 führ­te Bun­des­tags­prä­si­dent Nor­bert Lam­mert aus: “Die Kul­tur einer par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie kommt weni­ger dar­in zum Aus­druck, dass am Ende Mehr­hei­ten ent­schei­den, son­dern dar­in, dass Min­der­hei­ten eige­ne Rechts­an­sprü­che haben, die weder der Bil­li­gung noch der Geneh­mi­gung durch die jewei­li­ge Mehr­heit unter­lie­gen. Die Min­der­heit muss wis­sen, dass am Ende die Mehr­heit ent­schei­det, was gilt, und die Mehr­heit muss akzep­tie­ren, dass bis dahin – und dar­über hin­aus – die Min­der­heit jede Mög­lich­keit haben muss, ihre Ein­wän­de, ihre Vor­schlä­ge, wenn eben mög­lich auch ihre Alter­na­ti­ven zur Gel­tung zu bringen.”

Roger Wil­lem­sen, der ein Jahr lang das deut­sche Par­la­ment von der Zuschau­er­tri­bü­ne aus beob­ach­te­te und sei­ne Ein­drü­cke 2014 in sei­nem Buch “Das Hohe Haus” schil­der­te, knüpft an die Aus­sa­ge an und reflek­tiert zunächst: “Das Par­la­ment also ist der Ort, an dem glei­cher­ma­ßen die Ent­schei­dun­gen fal­len und an dem die Legi­ti­mi­tät der Ent­schei­dun­gen gewähr­leis­tet wird”, um dann hin­zu­zu­fü­gen: “Aber reprä­sen­tie­ren die The­men des Par­la­men­tes not­wen­dig die der Gesell­schaft, oder trägt nicht schon die Vor­macht der Par­tei­po­li­tik und ihrer Inter­es­sen zur Ent­po­li­ti­sie­rung einer Gesell­schaft bei, die sich von den The­men, den Mehr­heits­ver­hält­nis­sen, dem Stil des Hohen Hau­ses nicht ver­tre­ten fühlt?”

Beteiligungsstau” im Bundestag

Die auf­ge­wor­fe­ne Fra­ge von Wil­lem­sen trifft das Herz des Par­la­men­tes; er spricht eine The­se inner­halb der Über­kom­men­heit der Par­la­men­te an, die besagt, dass die­se immer weni­ger dazu geeig­net sei­en, rele­van­te gesell­schaft­li­che Anlie­gen ange­mes­sen auf­zu­grei­fen. Hat der Bür­ger den Ein­druck, “sei­ne” poli­ti­schen The­men wür­den nicht in der par­la­men­ta­risch-media­len Are­na beach­tet, so hat der reprä­sen­ta­ti­ve Par­la­men­ta­ris­mus ein ernst zu neh­men­des Pro­blem. In der aktu­el­len Legis­la­tur­pe­ri­ode, so Lam­mert im März 2017 gegen­über dem Deutsch­land­funk, sei­en unter­schied­li­che Stim­mun­gen, Mei­nun­gen und Strö­mun­gen der Gesell­schaft im Bun­des­tag nicht immer erkenn­bar gewe­sen. Claus Leg­ge­wie und Patri­zia Nanz for­mu­lie­ren es in einem Auf­satz poin­tier­ter, sie machen einen “Betei­li­gungs­stau” aus, “ange­sichts einer Poli­tik, die von den Regie­ren­den als alter­na­tiv­los beschrie­ben” wird. Es über­rascht denn auch nicht, wenn die AfD gemäss ihrem ers­ten Grund­satz­pro­gramm dem Volk das Recht geben will, über vom Par­la­ment beschlos­se­ne Geset­ze abstim­men zu lassen.

Indes­sen ist die For­de­rung nach mehr Par­ti­zi­pa­ti­on auf Bun­des­ebe­ne kein Allein­stel­lungs­merk­mal der AfD. Je nach poli­ti­scher “Groß­wet­ter­la­ge”, for­dern Par­tei­en unter­schied­li­cher Fär­bung mehr Bür­ger­be­tei­li­gung. Sogar die in die­ser Fra­ge bis­her eher zurück­hal­ten­de CSU star­te­te die ers­te Mit­glie­der­be­fra­gung in ihrer Geschich­te mit der Fra­ge, ob sie sich für Volks­ent­schei­de auf Bun­des­ebe­ne ein­set­zen sol­le (68 Pro­zent bejah­ten die Fra­ge) und zwar just nach dem Ent­scheid des Bun­des­ta­ges im Juni 2016, wel­cher den Geset­zes­ent­wurf der Frak­ti­on Die Lin­ke ablehn­te, die mit Volks­in­itia­ti­ven, Volks­be­geh­ren und Volks­ent­schei­den mehr Bür­ger­be­tei­li­gung auf Bun­des­ebe­ne ermög­li­chen wollte.

Schweizer Vorbild?

Was bei der Debat­te um mehr Volks­rech­te, die nicht nur in Deutsch­land, son­dern bei­spiels­wei­se auch in Öster­reich geführt wird, auf­fällt, ist, dass Par­tei­en, die im poli­ti­schen Spek­trum eher rechts bis ganz rechts anzu­sie­deln sind, mal kla­rer, mal sub­ti­ler das Volk als Kor­rek­tiv von Par­la­ments­ent­schei­den begrei­fen. Die Abkehr von einem reprä­sen­ta­ti­ven Par­la­men­ta­ris­mus hin zu mehr direk­ter Demo­kra­tie wird ver­bun­den mit einem gene­rel­len Unbe­ha­gen gegen­über poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen und deren Reprä­sen­tan­ten. Spä­tes­tens, wenn eine der­ar­ti­ge Auf­fas­sung mit dem Ver­weis auf die Schweiz ver­knüpft wird – die AfD spricht in ihrem Grund­satz­pro­gramm expli­zit von Volks­ab­stim­mun­gen “nach Schwei­zer Vor­bild” –, muss der Blick auf die schwei­ze­ri­sche Pra­xis gerich­tet werden.

Die Schweiz mit ihrer Tra­di­ti­on von Volks­rech­ten, wie dem Refe­ren­dum und der Volks­in­itia­ti­ve, kann sicher­lich als Inspi­ra­ti­on für eine stär­ke­re Betei­li­gung des Bür­gers die­nen. Aller­dings ste­hen die Spe­zi­fi­ka des Schwei­zer poli­ti­schen Sys­tems – wie bei­spiels­wei­se, dass stets die vier gro­ßen Par­tei­en die Regie­rung bil­den, dass der klas­si­sche Dua­lis­mus Regierung/Opposition kei­ne Rol­le spielt, dass kei­ne Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts­bar­keit besteht – einer unver­än­der­ten Über­nah­me in ein ande­res, etwa ein par­la­men­ta­ri­sches poli­ti­sches Sys­tem, entgegen. 

«Die Schweiz kapie­ren, nicht kopie­ren

Ralf-Uwe Beck, Bun­des­spre­cher von “Mehr Demo­kra­tie” anläss­lich der Pres­se­kon­fe­renz zum Volks­be­geh­rens­be­richt 2017

 

Die Schweiz kann aber nicht als Refe­renz für die­je­ni­gen poli­ti­schen Akteu­re her­an­ge­zo­gen wer­den, wel­che die Absicht hegen, mit­tels Volks­rech­ten den Par­la­men­ta­ris­mus zu schwä­chen oder die­se sogar als des­sen Alter­na­ti­ve zu beschwö­ren. Dies wäre zudem ein gefähr­li­cher Weg: Man kön­ne schnell eine Demo­kra­tie rui­nie­ren, sag­te unlängst der His­to­ri­ker Andre­as Röd­der im “Spie­gel”, wenn der demo­kra­ti­sche Kon­sens ver­lo­ren gehe. Der Blick muss nicht weit in die geo­gra­fi­sche Fer­ne schwei­fen, um in dra­ma­ti­scher Wei­se zu sehen, wie schnell poli­ti­sche Insti­tu­tio­nen zu Ali­bi­ein­rich­tun­gen ver­kom­men können.

Die schwei­ze­ri­sche Pra­xis ist bezüg­lich Par­la­men­ta­ris­mus und Volks­rech­ten eine ande­re: Im Lau­fe der Zeit hat sich ein Regie­rungs­sys­tem ent­wi­ckelt, in wel­chem der Sou­ve­rän, die Legis­la­ti­ve und die Exe­ku­ti­ve nach kla­ren Vor­ga­ben zusam­men­ar­bei­ten. Auch die ver­brei­te­te Auf­fas­sung, Refe­ren­den (50’000 Bür­ger kön­nen ein Gesetz zur Abstim­mung brin­gen) sei­en gene­rell als Kri­tik gegen­über Par­la­ments­be­schlüs­sen zu ver­ste­hen, ver­flüch­tigt sich bei genaue­rem Hin­se­hen: Über neun­zig Pro­zent der Beschlüs­se des Par­la­men­tes tre­ten ohne Refe­ren­den in Kraft und letzt­lich wer­den nur drei Pro­zent der Beschlüs­se durch eine Volks­ab­stim­mung abge­lehnt. Die­se Zah­len ver­deut­li­chen einer­seits die prä­ven­ti­ve Wir­kung eines Refe­ren­dums, ande­rer­seits die star­ke Legi­ti­mi­tät und Akzep­tanz, wel­che Par­la­ments­be­schlüs­se erzeugen.

Nicht wie Österreich

Unter­schied­li­che Grün­de mögen für mehr Par­ti­zi­pa­ti­on auf deut­scher Bun­des­ebe­ne spre­chen. Die­se Debat­te wird nun­mehr wei­ter­ge­hen. Die­ser Dis­kurs soll­te aber tun­lichst anders als im öster­rei­chi­schen Par­la­ment gestal­tet wer­den. Bei­na­he ein Jahr lang hat sich dort die Enquete­kom­mis­si­on damit beschäf­tigt, wie die Demo­kra­tie in Öster­reich gestärkt oder neu gedacht wer­den kann. Der Natio­nal­rat nahm im Sep­tem­ber 2015 Kennt­nis von den Emp­feh­lun­gen der Kom­mis­si­on. Sowohl ihr Zustan­de­kom­men als auch ihr mate­ri­el­ler Gehalt ern­te­ten laut­star­ken Wider­spruch. Die Regie­rungs­frak­tio­nen – bestehend aus der SPÖ und ÖVP – lehn­ten ernst­haft gemein­te ple­bis­zi­tä­re Ele­men­te auf Bun­des­ebe­ne ab und setz­ten sich mit einem unver­hoh­len macht­po­li­ti­schen Ent­scheid durch. Die Oppo­si­ti­ons­par­tei­en betrach­te­ten die Emp­feh­lun­gen kri­tisch bis gänz­lich ableh­nend, ja sie wur­den glei­cher­ma­ßen gar als ein Rück­schritt ein­ge­stuft, was der neu­tra­le Beob­ach­ter mehr als nach­voll­zie­hen kann.

Kurz­weg: Wie ein Dis­kurs geführt wird, sagt viel über ein Par­la­ment aus, wie es Lam­mert zu Recht bei der kon­sti­tu­ie­ren­den Sit­zung 2013 sag­te. Die Par­la­men­ta­ri­er müs­sen zudem bei den Bür­gern fort­wäh­rend um die Akzep­tanz des Par­la­men­tes wer­ben. Wie die reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie mit mehr Par­ti­zi­pa­ti­on der Bür­ger ergänzt wer­den kann, muss Gegen­stand der kom­men­den Amts­dau­er sein – Aus­gang unge­wiss. Aber ein Impe­ra­tiv muss bedin­gungs­los gel­ten: Die Schwä­chung des Par­la­men­tes ist kei­ne Option.

Das Gegen­teil – die Stär­kung des Deut­schen Bun­des­ta­ges – ist drin­gend not­wen­dig und erlaubt kei­nen Auf­schub: die Stär­kung in sei­nen Ent­schei­dungs­mög­lich­kei­ten, in Euro­pa­an­ge­le­gen­hei­ten, im Zulas­sen einer Frak­ti­ons­plu­ra­li­tät, in der Umkehr der for­cier­ten poli­ti­schen Alter­na­tiv­lo­sig­keit, im Auf­bre­chen von ein­ge­schlif­fe­nen Mus­tern, wel­che den Ple­nar­de­bat­ten ein Stück der ritua­li­sier­ten Vor­her­seh­bar­keit neh­men. Dadurch wür­de die poli­tisch-gesell­schaft­li­che Debat­te wie­der dort leb­haft geführt, wo die demo­kra­tisch legi­ti­mier­te öffent­li­che Are­na ist: im Deut­schen Bun­des­tag.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag erschien am 28. März 2017 im Glob­Kult­Ma­ga­zin.

Bild: Wiki­me­dia Com­mons.

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