Das SNF-Forschungsprojekt Renten2020: Hintergrund

Arbei­ten und einen Teil vom Lohn fürs Alter bei­sei­te legen. Das ist die Idee der Ren­ten­ver­si­che­rung. Moder­ne Wohl­fahrts­staa­ten haben über die letz­ten Jahr­zehn­te kom­ple­xe Sys­te­me ent­wi­ckelt, um allen ein Alter frei von mate­ri­el­len Sor­gen zu ermög­li­chen. Ver­än­de­run­gen der Gesell­schaft machen aller­dings Refor­men nötig. Auch der Bun­des­rat hat reagiert und will die Alters­vor­sor­ge refor­mie­ren. Wie dies gelin­gen kann, unter­su­chen wir in unse­rem gros­sen For­schungs­pro­jekt Ren­ten 2020 — Zukunft gestal­ten.

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Reform Altersvorsorge 2020

In der Schweiz ver­sucht der Bun­des­rat seit Ende 2014 das Reform­pro­jekt Alters­vor­sor­ge 2020 vor­an­zu­brin­gen. Es ist die umfas­sends­te und wich­tigs­te Reform der Alters­vor­sor­ge seit zwan­zig Jah­ren, sie soll die Alters­vor­sor­ge in der Schweiz län­ger­fris­tig finan­zi­ell sichern.

Auf Grund von demo­gra­fi­schen, wirt­schaft­li­chen und sozia­len Bedin­gun­gen sind moder­ne Wohl­fahrts­staa­ten gezwun­gen, Refor­men anzu­ge­hen. Für Poli­ti­ker stel­len sozi­al­po­li­ti­sche Refor­men aller­dings ein heis­ses Pflas­ter dar. Denn dem Druck auf die Staats­fi­nan­zen steht star­ker öffent­li­cher Wider­stand gegen Kür­zun­gen von Ren­ten oder höhe­ren Steu­er­ab­ga­ben gegenüber.

Zu den wich­tigs­ten Reform­punk­ten des Pro­jekts Alters­vor­sor­ge 2020 gehört die Höhe des Ren­ten­al­ters. So schlägt der Bun­des­rat vor, das Frau­en­ren­ten­al­ter um ein Jahr auf 65 Jah­re zu erhö­hen und es damit dem Ren­ten­al­ter der Män­ner anzu­glei­chen. Ein wei­te­rer Reform­punkt sieht die Sen­kung des Umwand­lungs­sat­zes der Pen­si­ons­kas­se von 6.8 auf 6 Pro­zent vor. Der Umwand­lungs­satz gibt vor, wie viel Pro­zent des Spar­gut­ha­bens jähr­lich als Ren­te aus­be­zahlt wird. Nach dem Vor­schlag des Bun­des­ra­tes soll die Sen­kung durch ein höhe­res Spar­gut­ha­ben aus­ge­gli­chen werden.

Die wei­te­ren Kern­ele­men­te der Reform sind die Erwei­te­rung des Zugangs zu Ren­ten aus der Pen­si­ons­kas­se für Teil­zeit­be­schäf­ti­ge und für Per­so­nen mit tie­fem Ein­kom­men, die Abschaf­fung der Wit­wen­ren­te sowie die Erhö­hung der Mehr­wert­steu­er um 1.5 Prozentpunkte.

INFOBOX: Die Alters­vor­sor­ge in der Schweiz: Das Dreisäulenprinzip
Im Schwei­ze­ri­schen Drei­säu­len­prin­zip der Alters­vor­sor­ge bil­den die Alters- und Hin­ter­blie­be­nen­ver­si­che­rung (AHV) und die Inva­li­den­ver­si­che­rung (IV) zusam­men die ers­te Säu­le als Grund­si­che­rung. Die Ren­ten­leis­tun­gen der AHV/IV sol­len den Pen­sio­nier­ten den Exis­tenz­be­darf sichern. Wenn nötig, hel­fen bestimm­te Ergän­zungs­leis­tun­gen (EL), den Lebens­be­darf zu finan­zie­ren. Die ers­te Säu­le wird aus Lohn­pro­zen­ten und Ein­la­gen finan­ziert und ist für alle obli­ga­to­risch, d.h. auch für Selbst­stän­di­g­er­wer­ben­de und Nicht­er­werbs­tä­ti­ge – z.B. Stu­die­ren­de oder Müt­ter und Väter, die den Haus­halt füh­ren und Kin­der betreuen.

Die ers­te Säu­le wird ergänzt durch die zwei­te Säu­le, die soge­nann­te Pen­si­ons­kas­se. In die beruf­li­che Alters‑, Hin­ter­las­se­nen- und Inva­li­den­vor­sor­ge (BVG) bezah­len nur Arbeit­neh­me­rin­nen und Arbeit­neh­mer ab einem bestimm­ten Ein­kom­men obli­ga­to­risch Bei­trä­ge ein.

Die ers­te und die zwei­te Säu­le der Alters­vor­sor­ge sol­len den Schwei­zer Rent­ne­rin­nen und Rent­nern min­des­tens 60 Pro­zent des zuletzt bezo­ge­nen Loh­nes sichern und die Fort­set­zung der gewohn­ten Lebens­hal­tung ermög­li­chen. Dar­über hin­aus gibt es noch die drit­te Säu­le. Die­se ist auf pri­va­ter Basis frei­wil­lig und dient der Deckung wei­ter­ge­hen­der Bedürf­nis­se nach der Pensionierung.

Die drei Pfei­ler bil­den zusam­men das Drei­säu­len­kon­zept, das seit 1972 in der Bun­des­ver­fas­sung ver­an­kert ist. Von der aktu­el­len Reform der Schwei­zer Alters­vor­sor­ge sind nur die ers­ten bei­den Säu­len betroffen. 

Der Stän­de­rat behan­del­te das Reform­pa­ket Alters­vor­sor­ge 2020 im Sep­tem­ber 2015. Er schlug als Aus­gleich zur Sen­kung des Umwand­lungs­sat­zes in der Pen­si­ons­kas­se die Erhö­hung der AHV-Ren­ten um 70 Fran­ken für Ein­zel­per­so­nen und bis zu 226 Fran­ken für Ehe­paa­re pro Monat vor. Die­ser Vor­schlag ist die bedeu­tends­te Abwei­chung vom Reform­pa­ket des Bun­des­rats. Zudem sprach sich der Stän­de­rat auch für Bei­be­hal­tung der Wit­wen­ren­te sowie für eine Erhö­hung der Mehr­wert­steu­er um maxi­mal 1 statt 1.5 Pro­zent­punk­te aus.

In der Herbst­ses­si­on 2016 wur­de die Vor­la­ge im Natio­nal­rat debat­tiert. Die Ein­füh­rung einer Schul­den­brem­se, die auch eine schritt­wei­se Erhö­hung des Ren­ten­al­ters auf 67 Jah­re beinhal­tet, wur­de kon­tro­vers dis­ku­tiert, schliess­lich aber in eine sepa­ra­te Vor­la­ge her­aus­ge­löst. Die vom Stän­de­rat vor­ge­schla­ge­ne Erhö­hung der AHV-Ren­ten um 70 Fran­ken wur­de aus der Vor­la­ge ent­fernt. Statt­des­sen beschloss der Natio­nal­rat auf Antrag der FDP einen ande­ren Mecha­nis­mus zur Kom­pen­sa­ti­on von Ren­ten­ein­bus­sen, der die voll­stän­di­ge Abschaf­fung des Koor­di­na­ti­ons­ab­zu­ges vor­sieht. Die Kos­ten­fol­gen die­ses in letz­ter Minu­te ein­ge­brach­ten Vor­schla­ges sind aller­dings noch nicht voll­stän­dig geklärt. Vie­le Beob­ach­ter sehen noch Klä­rungs­be­darf, dem sich der Stän­de­rat anneh­men dürfte.

Sozialpolitische Reformen haben einen schweren Stand 

Die letz­te erfolg­rei­che Reform der 1. Säu­le (AHV) gelang 1995. Die Bevöl­ke­rung stimm­te in der 10. AHV Revi­si­on für einen Sys­tem­wech­sel hin zu indi­vi­du­el­len, geschlechts­neu­tra­len Ren­ten und für die Erhö­hung des Frau­en­ren­ten­al­ters auf 64 Jah­re. Seit­her sind zwei Ver­su­che, die Alters­vor­sor­ge an die demo­gra­fi­schen, wirt­schaft­li­chen und sozia­len Ver­än­de­run­gen anzu­pas­sen, geschei­tert. Die ers­te Vor­la­ge zur 11. AHV Revi­si­on (Erhö­hung Frau­en­ren­ten­al­ters auf 65) wur­de 2004 in einer Volks­ab­stim­mung abge­lehnt. Die zwei­te Vor­la­ge im Jahr 2010 wur­de, aus Angst vor einer wei­te­ren Nie­der­la­ge an der Urne, bereits im Par­la­ment fal­len gelassen.

In der 2. Säu­le (BVG) gelang die letz­te Reform im Jahr 2003 (Erhö­hung BVG-Ren­ten­al­ter für Frau­en 64, Sen­kung Min­destum­wand­lungs­satz auf 6.8 Pro­zent, Sen­kung BVG-Ein­tritts­schwel­le, Gleich­stel­lung Mann und Frau). Ein Kür­zungs­ver­such der Ren­ten aus der 2. Säu­le im Jahr 2010 wur­de in einer Volks­ab­stim­mung jedoch klar abge­lehnt.

Die aktu­el­le Reform von Bun­des­rat Alain Ber­set ist ein Ver­such, aus den Erfah­run­gen der letz­ten zwan­zig Jah­re zu ler­nen. Das Erfolgs­re­zept der gelun­ge­nen Refor­men von 1995 (AHV) und 2003 (BVG) ist die Kom­bi­na­ti­on von Kür­zun­gen und Kom­pen­sa­tio­nen. Im Gegen­satz dazu lag der Fokus bei den geschei­ter­ten Vor­la­gen von 2004 (AHV) und 2010 (AHV/BVG) vor­nehm­lich auf Kürzungen.

Die Reform Alters­vor­sor­ge 2020 hat des­halb zum Ziel, die ers­te und die zwei­te Säu­le in einem Pro­jekt gleich­zei­tig zu refor­mie­ren. So kann eine Kür­zung in einem Bereich und eine Kom­pen­sa­ti­on an einer ande­ren Stel­le kom­bi­niert wer­den; die Erhö­hung des Frau­en­al­ters auf 65 Jah­re wird bei­spiels­wei­se mit dem erwei­ter­ten Zugang zu Ren­ten aus der zwei­ten Säu­le für Teil­zeit­an­ge­stell­te kom­pen­siert. Ob die­se Stra­te­gie erfolg­reich umge­setzt wer­den kann, hängt davon ab, wie die Bevöl­ke­rung die vor­ge­schla­ge­nen Kür­zun­gen bzw. die Kom­pen­sa­tio­nen gewichtet.

Wohlfahrtsstaatenpolitik ist mehrdimensional

Soll eine sozi­al­po­li­ti­sche Reform gelin­gen, müs­sen Kür­zun­gen mit geziel­ten Kom­pen­sa­tio­nen ver­knüpft wer­den. Denn Wohl­fahrts­staa­ten­po­li­tik ist mehr­di­men­sio­nal. Das heisst, die Bevöl­ke­rung ist nicht bloss für oder gegen eine kom­ple­xe sozi­al­po­li­ti­sche Reform, denn die­se umfas­sen häu­fig ver­schie­de­ne Ele­men­te. Die meis­ten Men­schen befür­wor­ten eini­ge Aspek­te der Reform, wäh­rend sie ande­re Aspek­te ableh­nen. Bei der Ent­schei­dung über das Gesamt­pa­ket müs­sen die­se Prä­fe­ren­zen des­halb gegen­ein­an­der abge­wo­gen werden.

In der Regel stösst die Sen­kung des Umwand­lungs­sat­zes der Pen­si­ons­kas­sen­gut­ha­ben in der zwei­ten Säu­le bei der Bevöl­ke­rung auf Ableh­nung. Wenn die­se Mass­nah­men aber zum Bei­spiel mit einem Aus­gleich durch ein höhe­res Spar­gut­ha­ben kom­bi­niert wird, kann dies die Zustim­mung erhö­hen. Die­se Mehr­di­men­sio­na­li­tät ermög­licht Kom­pro­mis­se inner­halb eines Reform­pa­kets, was sich die Poli­tik zu Nut­zen machen kann.

Die Schwie­rig­keit dabei ist es, die rela­ti­ve Wich­tig­keit, wel­che ein­zel­ne Per­so­nen oder sozia­le Grup­pen von Per­so­nen ein­zel­nen Mass­nah­men zuschrei­ben, zu ken­nen. Unser mehr­jäh­ri­ges For­schungs­pro­jekt Ren­ten 2020 – Zukunft gestal­ten setzt genau da an. Das Ziel der Unter­su­chung ist es, her­aus­zu­fin­den wie die aktu­el­le Ren­ten­re­form des Bun­des­rats gestal­tet sein soll­te, um von der Bevöl­ke­rung unter­stützt zu werden.

INFOBOX: For­schungs­pro­jekt Ren­ten 2020 — Zukunft gestalten
Das For­schungs­pro­jekt Ren­ten 2020 — Zukunft gestal­ten beglei­tet den Pro­zess der vom Bun­des­rat ange­stos­se­nen Reform der Altersvorsorge.

Dazu füh­ren wir eine soge­nann­te Panel­um­fra­ge in drei Wel­len durch. Das heisst, wir befra­gen zu drei ver­schie­de­nen Zeit­punk­ten die­sel­ben zufäl­lig aus­ge­wähl­ten Schwei­zer Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger mit­tels eines Online-Fra­ge­bo­gens zu ihren Ein­stel­lun­gen zur Alters­vor­sor­ge. Spe­zi­ell ist dabei, dass wir uns einer soge­nann­ten Con­joint-Ana­ly­se bedienen.

Die Con­joint-Ana­ly­se ist ein inno­va­ti­ver Ansatz zur Erfor­schung der öffent­li­chen Mei­nung. Die Con­joint-Ana­ly­se ist eine Umfra­ge­me­tho­de, mit der gemes­sen wird, wie sich die Unter­stüt­zung für Refor­men ver­än­dert, wenn sich die Zusam­men­set­zung des Reform­pa­kets ändert. Sie funk­tio­niert so, dass die befrag­ten Per­so­nen jeweils zwei, vom Com­pu­ter zufäl­lig gene­rier­te Reform­pa­ke­te ver­glei­chen und bewer­ten  müs­sen. Ein Reform­pa­ket besteht immer aus sechs Reform­ele­men­ten (z.B. Ren­ten­al­ter), wel­che jeweils eine von drei Aus­prä­gun­gen anneh­men (z.B. Erhö­hung auf 65 Jah­re für Frau­en; sie­he unten­ste­hen­de Tabelle). 

Wäh­rend unse­rer Befra­gung müs­sen sich die Teil­neh­men­den bei­spiels­wei­se zwi­schen einem Reform­pa­ket A, wel­ches Ren­ten­al­ter 67, Bei­be­hal­tung des Umwand­lungs­sat­zes sowie eine AHV-Ren­ten­er­hö­hung vor­schlägt und einem Reform­pa­ket B, wel­ches die Bei­be­hal­tung des Ren­ten­al­ters, eine Sen­kung des Umwand­lungs­sat­zes und kei­ne AHV-Ren­ten­er­hö­hung beinhal­tet, ent­schei­den. Wie bei einer rich­ti­gen Abstim­mungs­si­tua­ti­on ist es dabei nicht mög­lich, z.B. gegen alle Kür­zun­gen und nur für einen Leis­tungs­aus­bau zu votie­ren. Die Befrag­ten kön­nen ein Reform­pa­ket nur als Gan­zes anneh­men oder ablehnen.

Der Vor­teil einer sol­chen Con­joint-Ana­ly­se gegen­über einer her­kömm­li­chen Befra­gung liegt dar­in, dass sie näher an real zu tref­fen­den Ent­schei­dun­gen liegt. Wie bei einer Abstim­mung wer­den die Befrag­ten mit einem Reform­pa­ket bestehend aus meh­re­ren Kom­po­nen­ten kon­fron­tiert und kön­nen sich nur für oder gegen die Reform als Gan­zes, nicht aber für oder gegen ein­zel­ne Kom­po­nen­ten der Reform aussprechen.

Dadurch, dass die Pake­te vom Com­pu­ter zufäl­lig gene­riert wer­den, ist es mög­lich, Aus­sa­gen dar­über zu machen, wie sich ver­schie­de­ne Zusam­men­set­zun­gen des Reform­pa­kets aus den ein­zel­nen Kom­po­nen­ten auf die Zustim­mung aus­wir­ken. Eben­so ist es mög­lich, die Ergeb­nis­se nach Par­tei­an­hän­ger­schaft, Alters­grup­pen und Geschlecht aufzuschlüsseln.

Tabelle: Reformbestandteile und Ausprägungen dieser Bestandteile

Graph 2

Die Resul­ta­te der ers­ten Wel­le unse­rer Unter­su­chung fin­den sich hier: Ren­ten­al­ter 67 hat im Volk schwe­ren Stand

INFOBOX: Das For­schungs­team von Ren­ten 2020
Das For­schungs­pro­jekt wird am Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Zürich unter der Lei­tung von Prof. Dr. Sil­ja Häu­ser­mann durch­ge­führt. Wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­ten­de sind Dr. Deni­se Tra­ber und Tho­mas Kurer. Micha­el Ping­ge­ra ist Hilfs­as­sis­tent. Das Pro­jekt wird vom Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds finan­ziert. News zum Pro­jekt wer­den auch auf Twit­ter geteilt. 
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