Sind Gemeindeversammlungen noch zeitgemäss?

In vier von fünf Schwei­zer Gemein­den wird bei Gemein­de­ver­samm­lun­gen über loka­le poli­ti­sche Geschäf­te ent­schie­den – doch immer weni­ger Stimm­bür­ge­rin­nen und ‑bür­ger gehen über­haupt hin. Jun­ge und Neu­zu­ge­zo­ge­ne sind beson­ders unter­ver­tre­ten. West­schwei­zer und Tes­si­ner Gemein­den set­zen gröss­ten­teils auf loka­le Par­la­men­te. In der Deutsch­schweiz ist hin­ge­gen kein Trend in die­se Rich­tung zu erkennen.

Ganz ähn­lich wie an den welt­be­kann­ten Lands­ge­mein­den in den Kan­to­nen Appen­zell-Inner­rho­den und Gla­rus ent­schei­den auch in vier von fünf Schwei­zer Gemein­den die Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger über den Gross­teil ihrer poli­ti­schen Geschäf­te an einer Ver­samm­lung. In den rest­li­chen Gemein­den, vor allem in der West­schweiz und in den Städ­ten, tritt anstel­le der Ver­samm­lung ein loka­les Par­la­ment. Nur ganz weni­ge Gemein­den ken­nen weder Ver­samm­lung noch Par­la­ment und erle­di­gen sämt­li­che Geschäf­te an der Urne, oder haben sowohl eine Ver­samm­lung wie auch ein Parlament.

Ins­ge­samt wer­den in der Schweiz pro Jahr schät­zungs­wei­se gegen 4000 sol­che Ver­samm­lun­gen durch­ge­führt, wel­che von rund 300‘000 Per­so­nen besucht wer­den. Die Betei­li­gungs­zah­len für die ein­zel­nen Ver­samm­lun­gen sind jedoch weni­ger erfreu­lich. Sie sin­ken von etwas mehr als 20 Pro­zent in den kleins­ten Gemein­den auf ein paar weni­ge Pro­zen­te in den gröss­ten Gemein­den. In den letz­ten 30 Jah­ren sind sie zudem kon­stant rückläufig.

Gesamt­schwei­ze­risch wer­den für etwas mehr als der Hälf­te der Bevöl­ke­rung loka­le Geschäf­te im Ver­samm­lungs­sys­tem ent­schie­den. Wer die­se Ver­samm­lun­gen besucht und wie sie ver­lau­fen, ist erstaun­li­cher­wei­se wenig bekannt. Zu einer medi­al brei­te­ren Bericht­erstat­tung kommt es nur in Aus­nah­me­fäl­len, bei­spiels­wei­se wenn es um gros­se Land­ge­schäf­te oder den Bau von umstrit­te­nen Infra­struk­tur- oder Tou­ris­mus­an­la­gen geht, wel­che die ganz Gemein­de in Auf­ruhr versetzen.

Unser in peri­odi­schen Abstän­den durch­ge­führ­tes Gemein­de­mo­ni­to­ring ver­mag, zumin­dest ansatz­wei­se, Ein­blick in die Viel­fäl­tig­keit des Ver­samm­lungs­sys­tems in den Gemein­den der Schweiz zu vermitteln.*

Wer nimmt an Gemeindeversammlungen teil?

Hin­sicht­lich der Reprä­sen­ta­ti­vi­tät der an den Gemein­de­ver­samm­lun­gen anwe­send und über die Geschi­cke der Gemein­de bestim­men­den Bür­ge­rin­nen und Bür­ger bestä­tigt sich die anek­do­ti­sche Evi­denz von der Domi­nanz der Alt­ein­ge­ses­se­nen und der älte­ren Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger. Unter­ver­tre­ten sind gemäss unse­rer Erhe­bung vor allem die jün­ge­ren Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner (vgl. Abbil­dung 1).

Abbildung 1:

Abbildung 1

Die schwa­che Betei­li­gung der Jun­gen erstaunt wenig, da ihre Teil­nah­me­wer­te auch bei Abstim­mun­gen und Wah­len deut­lich tie­fer lie­gen. Zu erstau­nen ver­mag allen­falls, dass es kaum Gemein­den gibt, in denen die Jun­gen nicht unter­ver­tre­ten sind. Eben­falls sehr häu­fig unter­ver­tre­ten sind Neu­zu­ge­zo­ge­ne. Häu­fi­ger unter­ver­tre­ten als über­ver­tre­ten, aber immer­hin noch in der Mehr­heit der Gemein­den ange­mes­sen ver­tre­ten, sind Frau­en, Per­so­nen mit hohem Bil­dungs­grad und höhe­rem Ein­kom­men, Gewer­be­trei­ben­de, Land­wir­te, Par­tei­mit­glie­der und Ver­eins­mit­glie­der. In einem etwas grös­se­ren Teil der Gemein­den über­ver­tre­ten sind schliess­lich die älte­ren Per­so­nen, Haus­ei­gen­tü­mer und Alt­ein­ge­ses­se­ne. Der Gra­ben zwi­schen den Alt­ein­ge­ses­se­nen und den Neu­zu­ge­zo­gen ver­schärft sich zudem mit zuneh­men­der Gemeindegrösse.

Ganz ähn­lich lässt sich auch zei­gen, dass die Unter­ver­tre­tung der Jugend­li­chen und der Frau­en mit der Gemein­de­grös­se eher zunimmt. Ob es die grös­se­re sozia­le Kon­trol­le, tra­di­tio­nel­le Ver­hal­tens­mus­ter oder ein stär­ke­rer Gemein­schafts­sinn sind, wel­che in klei­nen Gemein­den bei die­sen bei­den Grup­pen zu weni­ger schlech­ten Teil­nah­me­wer­ten füh­ren, lässt sich aus den Daten nicht her­aus­le­sen. Sicher kann jedoch nicht umge­kehrt geschlos­sen wer­den, dass die Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie in grös­se­ren Gemein­den eine weni­ger ver­zerr­te Teil­neh­men­den­zu­sam­men­set­zung kennt.

Eine höhe­re Bil­dung wird häu­fig als eine der zen­tra­len Varia­blen zur För­de­rung der Wahl- und Abstim­mungs­teil­nah­me genannt. Inter­es­san­ter­wei­se scheint dies bei der Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie nicht zwin­gend der Fall zu sein. Bes­ser Gebil­de­te sind, folgt man der Ein­schät­zung der Gemein­de­schrei­ber, ange­mes­sen ver­tre­ten oder in ein paar weni­gen Gemein­den leicht unter­ver­tre­ten, und die­ses Mus­ter bleibt über sämt­li­che Gemein­de­grös­sen­ka­te­go­rien hin­weg ziem­lich kon­stant. Offen­bar haben Ver­samm­lun­gen im Ver­hält­nis zu Wah­len und Abstim­mun­gen kei­nen Eli­te-Bias. Dafür gewin­nen Par­tei­ver­tre­ter mit zuneh­men­der Gemein­de­grös­se an Bedeu­tung und sind in den gröss­ten Gemein­den häu­fig übervertreten.

Wird diskutiert und gestritten?

In unse­rer Befra­gung baten wir die Gemein­de­schrei­ber anzu­ge­ben, wie vie­le Leu­te sich jeweils an den Dis­kus­sio­nen betei­lig­ten respek­ti­ve wie häu­fig es zu umstrit­te­nen Ergeb­nis­sen oder beson­ders stark und ein­sei­tig mobi­li­sie­ren­den Ver­samm­lun­gen kommt.

Sicher falsch ist die Vor­stel­lung, dass an den Gemein­de­ver­samm­lun­gen alle mit­ein­an­der dis­ku­tie­ren und gemein­sam nach einer Lösung suchen. Fast könn­te man sagen, dass es sich auch hier viel­mehr um einen qua­si Par­la­ments­be­trieb han­delt, bei dem ledig­lich die Frak­ti­ons­spre­cher das Wort ergrei­fen. Der Unter­schied besteht allen­falls dar­in, dass es für Aus­sen­ste­hen­de nicht immer ganz klar ist, wel­che Inter­es­sen und poli­ti­schen Vor­stel­lun­gen hin­ter den Wort­mel­dun­gen stecken.

Man kann jedoch auch nicht behaup­ten, dass an der Gemein­de­ver­samm­lung kei­ne Poli­tik gemacht wird oder dass hier ledig­lich den Anträ­gen der Gemein­de­exe­ku­ti­ve zuge­stimmt wird. Es gibt kei­ne Gemein­de, in der es an den Gemein­de­ver­samm­lun­gen nie zu Wort­mel­dun­gen kommt (vgl. Abbil­dung 2). Und es kommt in zwi­schen 80 und 90 Pro­zent der Ver­samm­lungs­ge­mein­den, wenn auch nicht sehr häu­fig, zu knap­pen Ent­schei­dun­gen, uner­war­te­ten Ergeb­nis­sen und zur Ableh­nung von Anträ­ge der Gemein­de­exe­ku­ti­ve. Noch etwas häu­fi­ger kommt es zu Ver­su­chen von Ver­ei­nen, Par­tei­en und Inter­es­sen­grup­pen, durch die Mobi­li­sie­rung ihrer Anhän­ger die Ent­schei­dun­gen der Ver­samm­lung zu ihren Guns­ten zu beeinflussen.

Abbildung 2:

Abbildung 2

Ins­ge­samt zei­gen unse­re Resul­ta­te, dass es vor allem in Gemein­den mit mehr als 10‘000 Ein­woh­nern häu­fi­ger zu ani­mier­ten Ver­samm­lun­gen kommt. Kan­to­ne, in denen dies zudem eher der Fall ist, sind NW, SH, GR und ZG, Kan­to­ne, in denen dies eher sel­ten der Fall ist, sind ZH, BE, VS, TI und OW.

Wie zeitgemäss sind solche Versammlungen?

Gemein­de­ver­samm­lun­gen als Urform der Demo­kra­tie genies­sen auch heu­te noch eine gros­se Popu­la­ri­tät. Die tie­fen und rück­läu­fi­gen Besu­cher­zah­len las­sen jedoch an der Legi­ti­mi­tät der an ihnen gefäll­ten Ent­schei­dun­gen Zwei­fel auf­kom­men. Den­noch ist – zumin­dest in der Deutsch­schweiz – kein Trend Rich­tung Gemein­de­par­la­men­te zu erken­nen. Trotz Bevöl­ke­rungs­wachs­tum und Gemein­de­fu­sio­nen hat sich die Zahl der Gemein­de­par­la­men­te kaum erhöht, was die Bedeu­tung die­ser Form der direkt­de­mo­kra­ti­schen Mit­wir­kung untermauert.

Ange­sichts der teil­wei­se gerecht­fer­tig­ten Ein­wän­de bezüg­lich ihrer Demo­kra­tie­taug­lich­keit in einer sich wan­deln­den Gesell­schaft, gilt es sicher­zu­stel­len, dass Gemein­de­ver­samm­lun­gen gewis­se Min­dest­an­for­de­run­gen erfül­len. Eine gros­se Mehr­heit der Ver­samm­lungs­ge­mein­den (rund 90 Pro­zent) sehen bereits heu­te die Mög­lich­keit vor, dass über heik­le The­men geheim abge­stimmt wer­den kann. In knapp der Hälf­te der Gemein­den kann zu einem Ent­scheid der Gemein­de­ver­samm­lung auch eine Urnen­ab­stim­mung bean­tragt wer­den, sei die­se direkt an der Ver­samm­lung, bevor der Ent­scheid gefällt wird, oder nach der Ver­samm­lung im Sin­ne eines „Refe­ren­dums“ gegen den Ver­samm­lungs­ent­scheid. Sol­che Vor­keh­run­gen garan­tie­ren, dass die an der Gemein­de­ver­samm­lun­gen gefäll­ten Ent­schei­dun­gen nicht zu einer Dik­ta­tur einer klei­nen loka­len Min­der­heit ver­kom­men und die Gemein­de­ver­samm­lung als Insti­tu­ti­on zum Fäl­len von breit abge­stütz­ten und legi­ti­mier­ten lokal­po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen bei­be­hal­ten wer­den kann.

Gemein­de­grös­se und Gemeindeparlament

Im Hin­blick auf eine Gemein­de­fu­si­on – die ja teil­wei­se zu einer deut­li­chen Ver­grös­se­rung der Ein­woh­ner­zah­len führt – stellt sich immer wie­der auch die Fra­ge, ob es für die neue Gemein­de nicht ange­zeigt wäre, von einem Ver­samm­lungs­sys­tem zu einem Sys­tem mit Gemein­de­par­la­ment zu wech­seln. Der Blick auf die Gemein­den mit Gemein­de­par­la­ment in der Schweiz und die Ent­wick­lung über die letz­ten Jah­re hin­weg zeigt jedoch, dass auch sehr gros­se Gemein­den noch an einem Ver­samm­lungs­sys­tem fest­hal­ten und dass Fusio­nen nicht zwin­gend zu mehr Gemein­de­par­la­men­ten geführt haben. Ob Gemein­de­ver­samm­lung oder Gemein­de­par­la­ment ist zuerst ein­mal eine Fra­ge demo­kra­tie­theo­re­ti­scher Präferenzen.

In der West­schweiz und im Tes­sin domi­niert ein­deu­tig das Par­la­ments­sys­tem. In den Kan­to­nen GE und NE haben alle Gemein­den ein loka­les Par­la­ment und im Waadt­land und im Tes­sin gibt es kei­ne Gemein­den mit mehr als 1000 Ein­woh­nern, die kein Par­la­ment haben (vgl. Abbil­dung 3). In den Kan­ton Fri­bourg, Bern, Jura und Wal­lis wech­seln bereits mit­tel­gros­sen Gemein­den zu einem Par­la­ment und in den übri­gen Deutsch­schwei­zer Kan­to­nen wird ab einer Grös­se von 10‘000 Ein­woh­ner die Ein­füh­rung eines Gemein­de­par­la­ments dis­ku­tiert. Beson­ders zurück­hal­tend dies­be­züg­lich ist man im Kan­ton Zürich, wo in etwa der Hälf­te der rund 30 Gemein­den mit über 10‘000 Ein­woh­nern noch das Ver­samm­lungs­sys­tem existiert.

Abbildung 3:

Graph 3


Die­ser Bei­trag bezieht sich auf: Lad­ner, Andre­as (2016). Gemein­de­ver­samm­lung und Gemein­de­par­la­ment. Über­le­gun­gen und empi­ri­sche Befun­de zur Aus­ge­stal­tung der Legis­la­tiv­funk­ti­on in den Schwei­zer Gemein­den. Lau­sanne: Cahier de l’IDHEAP Nr. 292. ISBN 978–2‑940390–79‑3.

* Seit 1988 wer­den in den Schwei­zer Gemein­den auf Initia­ti­ve ver­schie­de­ner Uni­ver­si­täts­in­sti­tu­te in Abstän­den von 5 bis 7 Jah­ren gesamt­schwei­ze­ri­sche Befra­gun­gen zur poli­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on und zur loka­len Poli­tik durch­ge­führt. An die­sen Befra­gun­gen betei­li­gen sich jeweils zwi­schen 60 und 85 Pro­zent der Gemein­den. Die nächs­te Befra­gung fin­det in den kom­men­den Mona­ten statt.


Titel­bild: Flickr.

Lek­to­rat, Lay­out und Gra­fi­ken: Pas­cal Burkhard

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