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Sind Gemeindeversammlungen noch zeitgemäss?

Andreas Ladner
21st Juli 2016

In vier von fünf Schweizer Gemeinden wird bei Gemeindeversammlungen über lokale politische Geschäfte entschieden – doch immer weniger Stimmbürgerinnen und -bürger gehen überhaupt hin. Junge und Neuzugezogene sind besonders untervertreten. Westschweizer und Tessiner Gemeinden setzen grösstenteils auf lokale Parlamente. In der Deutschschweiz ist hingegen kein Trend in diese Richtung zu erkennen.

Ganz ähnlich wie an den weltbekannten Landsgemeinden in den Kantonen Appenzell-Innerrhoden und Glarus entscheiden auch in vier von fünf Schweizer Gemeinden die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger über den Grossteil ihrer politischen Geschäfte an einer Versammlung. In den restlichen Gemeinden, vor allem in der Westschweiz und in den Städten, tritt anstelle der Versammlung ein lokales Parlament. Nur ganz wenige Gemeinden kennen weder Versammlung noch Parlament und erledigen sämtliche Geschäfte an der Urne, oder haben sowohl eine Versammlung wie auch ein Parlament.

Insgesamt werden in der Schweiz pro Jahr schätzungsweise gegen 4000 solche Versammlungen durchgeführt, welche von rund 300‘000 Personen besucht werden. Die Beteiligungszahlen für die einzelnen Versammlungen sind jedoch weniger erfreulich. Sie sinken von etwas mehr als 20 Prozent in den kleinsten Gemeinden auf ein paar wenige Prozente in den grössten Gemeinden. In den letzten 30 Jahren sind sie zudem konstant rückläufig.

Gesamtschweizerisch werden für etwas mehr als der Hälfte der Bevölkerung lokale Geschäfte im Versammlungssystem entschieden. Wer diese Versammlungen besucht und wie sie verlaufen, ist erstaunlicherweise wenig bekannt. Zu einer medial breiteren Berichterstattung kommt es nur in Ausnahmefällen, beispielsweise wenn es um grosse Landgeschäfte oder den Bau von umstrittenen Infrastruktur- oder Tourismusanlagen geht, welche die ganz Gemeinde in Aufruhr versetzen.

Unser in periodischen Abständen durchgeführtes Gemeindemonitoring vermag, zumindest ansatzweise, Einblick in die Vielfältigkeit des Versammlungssystems in den Gemeinden der Schweiz zu vermitteln.*

Wer nimmt an Gemeindeversammlungen teil?

Hinsichtlich der Repräsentativität der an den Gemeindeversammlungen anwesend und über die Geschicke der Gemeinde bestimmenden Bürgerinnen und Bürger bestätigt sich die anekdotische Evidenz von der Dominanz der Alteingesessenen und der älteren Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Untervertreten sind gemäss unserer Erhebung vor allem die jüngeren Einwohnerinnen und Einwohner (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1:

Abbildung 1

Die schwache Beteiligung der Jungen erstaunt wenig, da ihre Teilnahmewerte auch bei Abstimmungen und Wahlen deutlich tiefer liegen. Zu erstaunen vermag allenfalls, dass es kaum Gemeinden gibt, in denen die Jungen nicht untervertreten sind. Ebenfalls sehr häufig untervertreten sind Neuzugezogene. Häufiger untervertreten als übervertreten, aber immerhin noch in der Mehrheit der Gemeinden angemessen vertreten, sind Frauen, Personen mit hohem Bildungsgrad und höherem Einkommen, Gewerbetreibende, Landwirte, Parteimitglieder und Vereinsmitglieder. In einem etwas grösseren Teil der Gemeinden übervertreten sind schliesslich die älteren Personen, Hauseigentümer und Alteingesessene. Der Graben zwischen den Alteingesessenen und den Neuzugezogen verschärft sich zudem mit zunehmender Gemeindegrösse.

Ganz ähnlich lässt sich auch zeigen, dass die Untervertretung der Jugendlichen und der Frauen mit der Gemeindegrösse eher zunimmt. Ob es die grössere soziale Kontrolle, traditionelle Verhaltensmuster oder ein stärkerer Gemeinschaftssinn sind, welche in kleinen Gemeinden bei diesen beiden Gruppen zu weniger schlechten Teilnahmewerten führen, lässt sich aus den Daten nicht herauslesen. Sicher kann jedoch nicht umgekehrt geschlossen werden, dass die Versammlungsdemokratie in grösseren Gemeinden eine weniger verzerrte Teilnehmendenzusammensetzung kennt.

Eine höhere Bildung wird häufig als eine der zentralen Variablen zur Förderung der Wahl- und Abstimmungsteilnahme genannt. Interessanterweise scheint dies bei der Versammlungsdemokratie nicht zwingend der Fall zu sein. Besser Gebildete sind, folgt man der Einschätzung der Gemeindeschreiber, angemessen vertreten oder in ein paar wenigen Gemeinden leicht untervertreten, und dieses Muster bleibt über sämtliche Gemeindegrössenkategorien hinweg ziemlich konstant. Offenbar haben Versammlungen im Verhältnis zu Wahlen und Abstimmungen keinen Elite-Bias. Dafür gewinnen Parteivertreter mit zunehmender Gemeindegrösse an Bedeutung und sind in den grössten Gemeinden häufig übervertreten.

Wird diskutiert und gestritten?

In unserer Befragung baten wir die Gemeindeschreiber anzugeben, wie viele Leute sich jeweils an den Diskussionen beteiligten respektive wie häufig es zu umstrittenen Ergebnissen oder besonders stark und einseitig mobilisierenden Versammlungen kommt.

Sicher falsch ist die Vorstellung, dass an den Gemeindeversammlungen alle miteinander diskutieren und gemeinsam nach einer Lösung suchen. Fast könnte man sagen, dass es sich auch hier vielmehr um einen quasi Parlamentsbetrieb handelt, bei dem lediglich die Fraktionssprecher das Wort ergreifen. Der Unterschied besteht allenfalls darin, dass es für Aussenstehende nicht immer ganz klar ist, welche Interessen und politischen Vorstellungen hinter den Wortmeldungen stecken.

Man kann jedoch auch nicht behaupten, dass an der Gemeindeversammlung keine Politik gemacht wird oder dass hier lediglich den Anträgen der Gemeindeexekutive zugestimmt wird. Es gibt keine Gemeinde, in der es an den Gemeindeversammlungen nie zu Wortmeldungen kommt (vgl. Abbildung 2). Und es kommt in zwischen 80 und 90 Prozent der Versammlungsgemeinden, wenn auch nicht sehr häufig, zu knappen Entscheidungen, unerwarteten Ergebnissen und zur Ablehnung von Anträge der Gemeindeexekutive. Noch etwas häufiger kommt es zu Versuchen von Vereinen, Parteien und Interessengruppen, durch die Mobilisierung ihrer Anhänger die Entscheidungen der Versammlung zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Abbildung 2:

Abbildung 2

Insgesamt zeigen unsere Resultate, dass es vor allem in Gemeinden mit mehr als 10‘000 Einwohnern häufiger zu animierten Versammlungen kommt. Kantone, in denen dies zudem eher der Fall ist, sind NW, SH, GR und ZG, Kantone, in denen dies eher selten der Fall ist, sind ZH, BE, VS, TI und OW.

Wie zeitgemäss sind solche Versammlungen?

Gemeindeversammlungen als Urform der Demokratie geniessen auch heute noch eine grosse Popularität. Die tiefen und rückläufigen Besucherzahlen lassen jedoch an der Legitimität der an ihnen gefällten Entscheidungen Zweifel aufkommen. Dennoch ist – zumindest in der Deutschschweiz – kein Trend Richtung Gemeindeparlamente zu erkennen. Trotz Bevölkerungswachstum und Gemeindefusionen hat sich die Zahl der Gemeindeparlamente kaum erhöht, was die Bedeutung dieser Form der direktdemokratischen Mitwirkung untermauert.

Angesichts der teilweise gerechtfertigten Einwände bezüglich ihrer Demokratietauglichkeit in einer sich wandelnden Gesellschaft, gilt es sicherzustellen, dass Gemeindeversammlungen gewisse Mindestanforderungen erfüllen. Eine grosse Mehrheit der Versammlungsgemeinden (rund 90 Prozent) sehen bereits heute die Möglichkeit vor, dass über heikle Themen geheim abgestimmt werden kann. In knapp der Hälfte der Gemeinden kann zu einem Entscheid der Gemeindeversammlung auch eine Urnenabstimmung beantragt werden, sei diese direkt an der Versammlung, bevor der Entscheid gefällt wird, oder nach der Versammlung im Sinne eines „Referendums“ gegen den Versammlungsentscheid. Solche Vorkehrungen garantieren, dass die an der Gemeindeversammlungen gefällten Entscheidungen nicht zu einer Diktatur einer kleinen lokalen Minderheit verkommen und die Gemeindeversammlung als Institution zum Fällen von breit abgestützten und legitimierten lokalpolitischen Entscheidungen beibehalten werden kann.

Gemeindegrösse und Gemeindeparlament

Im Hinblick auf eine Gemeindefusion – die ja teilweise zu einer deutlichen Vergrösserung der Einwohnerzahlen führt – stellt sich immer wieder auch die Frage, ob es für die neue Gemeinde nicht angezeigt wäre, von einem Versammlungssystem zu einem System mit Gemeindeparlament zu wechseln. Der Blick auf die Gemeinden mit Gemeindeparlament in der Schweiz und die Entwicklung über die letzten Jahre hinweg zeigt jedoch, dass auch sehr grosse Gemeinden noch an einem Versammlungssystem festhalten und dass Fusionen nicht zwingend zu mehr Gemeindeparlamenten geführt haben. Ob Gemeindeversammlung oder Gemeindeparlament ist zuerst einmal eine Frage demokratietheoretischer Präferenzen.

In der Westschweiz und im Tessin dominiert eindeutig das Parlamentssystem. In den Kantonen GE und NE haben alle Gemeinden ein lokales Parlament und im Waadtland und im Tessin gibt es keine Gemeinden mit mehr als 1000 Einwohnern, die kein Parlament haben (vgl. Abbildung 3). In den Kanton Fribourg, Bern, Jura und Wallis wechseln bereits mittelgrossen Gemeinden zu einem Parlament und in den übrigen Deutschschweizer Kantonen wird ab einer Grösse von 10‘000 Einwohner die Einführung eines Gemeindeparlaments diskutiert. Besonders zurückhaltend diesbezüglich ist man im Kanton Zürich, wo in etwa der Hälfte der rund 30 Gemeinden mit über 10‘000 Einwohnern noch das Versammlungssystem existiert.

Abbildung 3:

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Dieser Beitrag bezieht sich auf: Ladner, Andreas (2016). Gemeindeversammlung und Gemeindeparlament. Überlegungen und empirische Befunde zur Ausgestaltung der Legislativfunktion in den Schweizer Gemeinden. Lausanne: Cahier de l'IDHEAP Nr. 292. ISBN 978-2-940390-79-3.

* Seit 1988 werden in den Schweizer Gemeinden auf Initiative verschiedener Universitätsinstitute in Abständen von 5 bis 7 Jahren gesamtschweizerische Befragungen zur politischen Organisation und zur lokalen Politik durchgeführt. An diesen Befragungen beteiligen sich jeweils zwischen 60 und 85 Prozent der Gemeinden. Die nächste Befragung findet in den kommenden Monaten statt.


Titelbild: Flickr.

Lektorat, Layout und Grafiken: Pascal Burkhard