Dem Röstigraben auf der Spur

Seit gut 100 Jah­ren wird über den Rösch­ti­gra­ben gespro­chen, aber was umfasst er genau? Eine Ana­ly­se aller eid­ge­nös­si­schen Abstim­mungs­re­sul­ta­te auf Gemein­de­ebe­ne seit 1960 erlaubt es, sein Aus­mass, sei­ne Ent­wick­lung und sei­ne mög­li­chen Ursa­chen bes­ser zu verstehen.

Der Begriff «Rösch­ti­gra­ben» kann ers­tens als Syn­onym für die ter­ri­to­ria­le Gren­ze zwi­schen der deutsch- und der fran­zö­sisch­spra­chi­gen Schweiz schlecht­hin ver­stan­den wer­den. Die Saa­ne (frz. Sari­ne) etwa bil­det so eine Grenze.

Zwei­tens wer­den damit kul­tu­rel­le Unter­schie­de bezeich­net, die zwar durch eine jeweils ande­re Spra­che gekenn­zeich­net sind, aber eigent­lich genau­so gut davon los­ge­löst bestehen könn­ten. Die­se zei­gen sich in durch­schnitt­li­chen Dif­fe­ren­zen zwi­schen den Sprach­re­gio­nen in Sachen Vor­stel­lun­gen zu Arbeit, Fami­lie, Frei­zeit, Staat etc.

In sei­ner drit­ten Bedeu­tung bezeich­net der Rösch­ti­gra­ben jene Unter­schie­de in den poli­ti­schen Ansich­ten zwi­schen Roman­die und Deutsch­schweiz, die sich übli­cher­wei­se in eid­ge­nös­si­schen Volks­ab­stim­mun­gen mani­fes­tie­ren. Wie bei der zwei­ten Bedeu­tung geben hier ein­zig durch­schnitt­li­che Zustim­mungs­ra­ten in der einen wie der ande­ren Sprach­grup­pe den Aus­schlag. Die­se las­sen sich wie bei der ers­ten Bedeu­tung auf­grund des Ter­ri­to­ria­li­täts­prin­zips (cui­us regio, eius lin­gua) geo­gra­phisch ein­gren­zen. Auf die­se drit­te Bedeu­tung stüt­zen wir uns hier.

Ausmass

Berech­nen wir mit­hil­fe der Resul­ta­te aller eid­ge­nös­si­schen Abstim­mun­gen seit 1960 für jede Gemein­de die Dif­fe­renz ihrer Ja-Antei­le zum Gesamt­re­sul­tat der ande­ren Sprach­re­gi­on (Abbil­dung 1), sehen wir erst ein­mal beträcht­li­che geo­gra­phi­sche Unter­schie­de. So betra­gen out­re-Sari­ne, also öst­lich der Sprach­gren­ze, die höchs­ten durch­schnitt­li­chen Dif­fe­ren­zen zur Roman­die über alle Abstim­mun­gen hin­weg bis zu 27 Pro­zent­punk­te (Unte­ri­berg SZ, See­hof BE, Alp­thal SZ). In der Roman­die wei­sen die Gemein­den Lajoux (JU), Saul­cy (JU) und Mau­raz (VD) die höchs­te Abwei­chung (17 bis 18 Pro­zent­punk­te) zu «der» Deutsch­schweiz auf.

Abbil­dung 1: Kar­to­gra­phie des Röschtigrabens

 

Quelle: Eigene Darstellung basierend auf BFS (2021). Anmerkung: Gezeigt sind durchschnittliche absolute Differenzen im Abstimmungsverhalten einer Gemeinde zum Gesamtresultat der anderen Sprachregion, 1960–2021 (N= 464 Abstimmungen, ca. 200 Gemeinden)

Die Stär­ke des Rösch­ti­gra­ben vari­iert aber nicht nur zwi­schen den Gemein­den, son­dern auch zwi­schen den Vor­la­gen. Die höchs­ten Wer­te tre­ten im Bereich «Land­wirt­schaft» (durch­schnitt­lich 16 Pro­zent­punk­te Stimm­dif­fe­renz) auf, gefolgt von den The­men Aus­sen­po­li­tik sowie Bil­dung und For­schung (je über 14). Am nied­rigs­ten sind die Unter­schie­de im Bereich öffent­li­che Finan­zen mit unter 10 Pro­zent­punk­ten Stimm­dif­fe­renz sowie in Wirt­schaft und Ener­gie (je 11).

Neben die­sen the­ma­ti­schen Unter­schie­den lässt sich auch eine leich­te Abnah­me der Stimm­dif­fe­renz über die Zeit von durch­schnitt­lich über 16 Pro­zent­punk­ten auf gegen 12 Pro­zent beob­ach­ten. Jedoch ist die abneh­men­de Ten­denz gröss­ten­teils auf die hohen Durch­schnitts­wer­te in den 1960er Jah­ren mit jähr­li­chen Spit­zen­wer­ten bis 24 Pro­zent­punk­ten (1969) zurück­zu­füh­ren; seit­her sind die Wer­te rela­tiv sta­bil. Im Schnitt ist der Rösch­ti­gra­ben also nicht tie­fer geworden.

Abbil­dung 2: Der Rösch­ti­gra­ben nach aus­ge­wähl­ten Poli­tik­be­rei­chen, pro Jahrzehnt

Anmerkung: Liniendiagramm, das die durchschnittliche (absolute) Abweichung aller Gemeinden zu Abstimmungen ausgewählter Themenbereiche über die Jahrzehnte zeigt
Mögliche Erklärungen

Was erklärt die­se star­ken ter­ri­to­ria­len und the­ma­ti­schen Unter­schie­de? Einen ers­ten Ansatz bil­det die Spra­che sel­ber. So las­sen sich an sprach­li­chen immer auch gewis­se kul­tu­rel­le Unter­schie­de fest­ma­chen. Sind die­se für den Rösch­ti­gra­ben (mit-)verantwortlich, soll­te der Anteil fran­zö­sisch­spra­chi­ger (bzw. deutsch­spra­chi­ger) Per­so­nen in einer Gemein­de deren Unter­schied zur Deutsch­schweiz (bzw. Roman­die) vergrössern.

Zwei­tens könn­ten gewis­se Unter­schie­de in den Hal­tun­gen der Roman­die gegen­über der Deutsch­schweiz auf die Nähe zu Frank­reich zurück­ge­führt wer­den. Fran­ko­pho­ne hät­ten vor allem ande­re poli­ti­sche Prä­fe­ren­zen als Ger­ma­no­pho­ne, wenn die­se durch die Nähe zu Frank­reich «hin­über­ge­schwappt» sind oder ver­stärkt wer­den. In die­sem Fall müss­ten Gemein­den der Roman­die umso stär­ker vom Deutsch­schwei­zer Abstim­mungs­ver­hal­ten abwei­chen, je näher sie sich an der Gren­ze zu Frank­reich befinden.

Eine drit­te Erklä­rung für das Auf­tre­ten des Rösch­ti­gra­bens bezieht sich auf den Sta­tus der Roman­die als demo­gra­fi­sche Min­der­heit. Damit kön­nen einer­seits bestimm­te Ängs­te ein­her­ge­hen, z. B. vor einer wirt­schaft­li­chen, kul­tu­rel­len oder poli­ti­schen Domi­nanz der Mehr­heit. Ande­rer­seits wären damit auch bestimm­te Wün­sche ver­bun­den, z. B. nach staat­li­chen Unter­stüt­zungs­mass­nah­men zum Erhalt der Spra­che etwa im Medi­en- und Kulturbereich.

Vier­tens folgt die Sprach­gren­ze in der Schweiz bekannt­lich gera­de nicht den Kan­tons­gren­zen bzw. nicht immer. Ver­schie­de­ne inner­kan­to­na­le Gemein­sam­kei­ten – Par­tei­en, Per­sön­lich­kei­ten, Schu­len oder staat­li­che Leis­tun­gen – könn­ten somit zwi­schen­sprach­li­che Unter­schie­de dämp­fen oder ganz zum Ver­schwin­den bringen.

Als Letz­tes könn­te auch die räum­li­che Nähe zur ande­ren Sprach­re­gi­on mit einer per­so­nel­len und men­ta­len Ver­bun­den­heit ein­her­ge­hen, even­tu­ell gar mit ent­spre­chen­den Aus­wir­kun­gen auf die poli­ti­schen Prä­fe­ren­zen. Somit soll­ten sowohl Sprach­grenz- wie auch Gemein­den aus zwei­spra­chi­gen Kan­to­nen gerin­ge­re Dif­fe­ren­zen zur ande­ren Sprach­re­gi­on auf­wei­sen als Gemein­den aus ein­spra­chi­gen Kan­to­nen und sol­che, die wei­ter von der Sprach­gren­ze ent­fernt liegen.

Ergebnisse

Tabel­le 1 zeigt die Resul­ta­te unse­rer Meh­re­be­nen-Model­le (für Details sie­he Buchkapitel).

Tabel­le 1: Erklä­run­gen für die Stimm­dif­fe­renz zur ande­ren Sprach­re­gi­on (Aus­zug der Resultate)

 Modell
Roman­die
Modell
Deutsch­schweiz
Anteil Fran­zö­sisch­spra­chi­ge (log)0,72***
(0,04)
 
Anteil Deutsch­spra­chi­ge (log) 0,00
(0,03)
Ein­kom­men pro Kopf
(in CHF 1’000, log)
–0,01
(0,01)
–0,02
(0,02)
Zwei­spra­chi­ger Kan­ton
(RK: ein­spra­chi­ger Kanton)
0,35
(2,21)
–7,73***
(1,55)
Distanz zur Sprach­gren­ze
(in Std.)
3,43***
(0,66)
–1,85***
(0,49)
Distanz zur Lan­des­gren­ze
(in Std.)
–13,96***
(1,54)
–1,31
(1,02)
N: Fäl­le
N: Gemein­den.
N: Vor­la­gen
281’014
635
463
620’746
1’417
463
Marg. R2 /
Kond. R2
0,131 /
0,248
0,178 /
0,316
AIC792’4651’673’137
* p<0.05 ** p<0.01 *** p<0.001.

Quel­le: Eige­ne Berech­nun­gen mit Daten von BFS (2021), log=logarithmiert. Koef­fi­zi­en­ten der Kon­troll­va­ria­blen nicht aufgeführt.

 

In der Roman­die sind die Unter­schie­de zur Deutsch­schweiz dort am gröss­ten, wo anteils­mäs­sig mehr Fran­ko­pho­ne woh­nen, und je wei­ter weg von der Sprach­gren­ze bzw. je näher an der Gren­ze zu Frank­reich sich eine Gemein­de befindet.

In der Deutsch­schweiz dage­gen sind die Unter­schie­de zur Roman­die umso grös­ser, je näher an der Sprach­gren­ze sich eine Gemein­de befin­det. Der Anteil Deutsch­spra­chi­ger und die Distanz zur Gren­ze mit deutsch­spra­chi­gen Nach­bar­län­dern haben kei­nen signi­fi­kan­ten Einfluss.

In bei­den Regio­nen sind die Unter­schie­de zur jeweils ande­ren Sprach­re­gi­on klei­ner in zwei­spra­chi­gen Kan­to­nen, was wir auf insti­tu­tio­na­li­sier­te gemein­sa­me Kon­tak­te zurück­füh­ren. Wirt­schaft­li­che Fak­to­ren spie­len nir­gends eine Rol­le; dage­gen sind die Unter­schie­de in grös­se­ren Gemein­den eher geringer.

Fazit

Ins­ge­samt gibt es somit zwar teils gros­se und signi­fi­kan­te Unter­schie­de zwi­schen den Sprach­re­gio­nen, der Rösch­ti­gra­ben wird aber wohl kaum zum Grab der Schweiz wer­den – wie von den Medi­en gemein­hin befürch­tet wird.

Ers­tens bestehen hüben wie drü­ben ver­bin­den­de Fak­to­ren in Form von Wirt­schafts­kraft, Reli­gi­on oder Urba­ni­sie­rung. Zwei­tens fehlt eine poli­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on der sprach­re­gio­na­len Unter­schie­de à la Scot­tish Natio­nal Par­ty – und wird auch kaum ent­ste­hen, denn para­do­xer­wei­se führt gera­de die direk­te Demo­kra­tie dazu, dass alle Orga­ni­sa­ti­on in der gan­zen Schweiz – nicht nur in ein­zel­nen Regio­nen – auf Stim­men­fang gehen. Drit­tens bewoh­nen die Schwei­zer Fran­ko­pho­nen nicht bloss eine ein­zi­ge, staats­recht­lich aner­kann­te Com­mu­n­au­té fran­çai­se wie etwa in Bel­gi­en, son­dern ver­tei­len sich auf vier offi­zi­ell ein- und drei zwei­spra­chi­ge Kantone.

Schliess­lich ist die Deutsch­schweiz oft­mals intern hete­ro­ge­ner als gegen­über den ande­ren Sprach­re­gio­nen: Die zahl­rei­chen Stol­per­stei­ne zur Ein­füh­rung des Lehr­plan 21 las­sen grüs­sen. Somit bleibt der Rösch­ti­gra­ben eine zwar wich­ti­ge und punk­tu­ell gar ent­schei­den­de poli­ti­sche Kluft. Er wirkt aber gera­de auch als War­nung vor dem Abgrund einigend.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist die schrift­li­che Kurz­fas­sung des Buch­ka­pi­tels «Den Rösch­ti­gra­ben ver­mes­sen: Brei­te, Tie­fe, Dau­er­haf­tig­keit», in: Schaub Hans-Peter/­Bühl­mann Marc (Hrsg.). Direk­te Demo­kra­tie in der Schweiz. Direk­te Demo­kra­tie in der Schweiz, Neue Erkennt­nis­se aus der Abstim­mungs­for­schung. Zürich: Seis­mo. S. 137 – 158.

Bild: wiki­me­dia commons

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