Eingeschätzte Kampagnenintensität im Vorfeld eidgenössischer Abstimmungen – Viel Kompetenz und Selbstopfereffekte

Seit kurzer Zeit sind dank neuer Politikfinanzierungsregeln die politischen Werbeausgaben im Vorfeld von Volksabstimmungen bekannt. Der Werbeaufwand, aber auch die Dominanz von Pro- oder Contra-Lager in den Wochen vor einem Urnengang lassen sich nun also messen. Doch wie nehmen eigentlich Bürgerinnen und Bürger die Intensität einer Abstimmungskampagne wahr? Und entspricht diese Perzeption dem messbaren Werbeaufkommen? Diese Fragen haben wir uns im Rahmen des Forschungsprojektes DDS21 gestellt.

Sehr gute Einschätzung der gesamten Kampagnenintensität

Konkret haben wir uns im Nachgang der letzten beiden Urnengänge (vom 3. März und vom 9. Juni 2024) bei jeweils mehr als 1’000 Personen nach ihrem Empfinden zur Intensität der Abstimmungskampagnen für die sechs Vorlagen (13. AHV-Rente, Renten-Initiative, sowie Prämien-Entlastungs-Initiative, Stromgesetz, Kostenbremse-Initiative, Stopp Impfpflicht) erkundigt.1

Sodann haben wir diese Einschätzungen der Befragten mit zwei Grössen verglichen, mit denen sich die tatsächlichen Kampagnenintensitäten schätzen lassen: Zum einen sind dies die von der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) ausgewiesenen Werbeausgaben (Schlussrechnungen); zum anderen das von Année Politique Suisse seit rund 10 Jahren ausgewiesene Inserateaufkommen.2

Tabelle 1: Werbeausgaben, Inserateaufkommen und eingeschätzte Intensität bei den 6 Vorlagen der Abstimmungen vom 3. März und vom 9. Juni 2024

VorlageWerbeausgaben total (EFK; in Mio. CHF)Inserateaufkommen (APS)Eingeschätze Intensität
13. AHV-Rente6.9402073.30
Renten-Initiative1.336442.59
Stromgesetz5.9732833.04
Kostenbremse-Initiative3.344622.69
Prämien-Entlastungs-Initiative2.154702.78
Stopp Impfpflicht0.09922.36
Schnitt*3.3082202.79

* Bei den Werbeausgaben berechnet sich der Durchschnitt aus allen fünf bisher ausgewiesenen Schlussrechnungen; das mittlere Inserateaufkommen ergibt sich aus allen 98 bisher von APS analysierten Inseratekampagnen zwischen 2013 und 2024; Stand: Juni 2024); eingeschätzte Intensität: Mittelwert aus der abgefragten Intensität (stark unterdurchschnittlich = 1 bis stark überdurchschnittlich = 5)

Aufgrund der in der Tabelle 1 ausgewiesenen Resultate ist den Befragten insgesamt ein recht gutes Empfinden hinsichtlich der Intensität der verschiedenen Kampagnen zu attestieren. Die Einschätzung der Intensität der Kampagnen kurz vor den Abstimmungen im März bzw. im Juni gleicht der tatsächlich messbaren Intensität. In beiden Fällen schätzen die Befragten jene Werbekampagnen am intensivsten ein, die auch tatsächlich die grössten Budgets bzw. das stärkste Inseratevolumen aufweisen (13. AHV-Rente bzw. Stromgesetz). Aber auch über die beiden Zeitspannen hinweg entspricht die Rangfolge der geschätzten Intensität der verschiedenen Kampagnen jener der objektiven Masse.

«Self-Victimisation» bei der Einschätzung der Werbeintensität von Ja- und Nein-Lager

Aus diesem ersten Befund könnte geschlossen werden, dass Bürgerinnen und Bürger ein ziemlich gutes Gespür haben für die Intensität politischer Abstimmungskampagnen. Eine solche Folgerung erweist sich jedoch als wenig stichhaltig. Tatsächlich sind wir bei der genaueren Betrachtung der Einschätzungen der Kampagnenintensität auf ein Phänomen gestossen, welches wir «Selbstopfer-Effekt» (Self-Victimisation) nennen.

Wir haben die Befragten nämlich nicht nur um eine Einschätzung der gesamten Intensität der Abstimmungskampagnen gebeten, sondern sie auch gefragt, ob ihrer Meinung nach stärker für eine der beiden Seiten geworben wurde.3

Auch die Intensität der Werbung pro Lager lässt sich aufgrund der transparent gemachten Werbeausgaben und der Inseratekampagnen bestimmen und den abgefragten Einschätzungen gegenüberstellen.

Im Gegensatz zur Einschätzung der Intensität der gesamten Kampagne stimmen die Einschätzungen der Befragten in Bezug auf die Ausgeglichenheit oder Ungleichheit der Kampagne aber weit weniger mit den Messgrössen überein. Grund dafür ist, dass sie wohl vom eigenen Stimmentscheid beeinflusst werden. Konkret zeigen sich starke Unterschiede in der Einschätzung – je nachdem, wie eine befragte Person selbst abgestimmt hat: Wer Ja zu einer Vorlage sagt, findet in der Regel, dass das Nein-Lager stärker geworben hat – und umgekehrt. Ausnahme bildet einzig das Stromgesetz (vgl. Tabelle 2).

Würden sich die Befragten bei der Einschätzung des Werbeaufkommens pro Lager gleich kompetent zeigen wie bei der Einschätzung der Kampagnenintensität im Allgemeinen, müssten sie beispielsweise bei der 13. AHV-Rente (Abbildung 1) angeben, dass das Ja-Lager (2.982 Mio. Franken; 36 Inserate) weniger intensiv geworben hat als das Nein-Lager (3.958 Mio. Franken; 177 Inserate; vgl. Tabelle 2).  Dies ist aber nur bei den Ja-Stimmenden der Fall, die entsprechend der Ausgaben- und der Inserateverteilung mehrheitlich der Meinung sind, dass das Nein-Lager mehr ausgegeben hat als das Ja-Lager. Die Nein stimmenden Befragten finden allerdings und entgegen unseren Intensitätsmassen im Schnitt recht deutlich, dass das Ja-Lager mehr für Werbung ausgegeben hat.

Abbildung 1: Unterschiedliche Einschätzung der Kampagnenintensität pro Lager nach Ja- bzw. Nein-Stimmenden – 13. AHV-Rente als Beispiel

Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Datenquelle: DDS21

Wie Tabelle 2 zeigt, zieht sich dieses Muster durch fünf der sechs Vorlagen: Unabhängig davon, wie stark die unterschiedlichen finanziellen Kampagnenbemühungen der beiden Lager jeweils waren, finden Ja-Stimmende, dass das Nein-Lager mehr ausgegeben hat, und Nein-Stimmende umgekehrt, dass das Ja-Lager mehr finanzielle Mittel in der Abstimmungskampagne aufgeworfen hat. Sie sehen sich mit anderen Worten als «Opfer» der gegnerischen Kampagne.

Selbst bei der Stopp-Impfpflicht-Initiative vermuten die Ja-Stimmenden stärkere Werbeaktivitäten beim Nein-Lager, obwohl sowohl laut EFK als auch laut APS gar keine finanziellen Mittel investiert wurden.

Die einzige Ausnahme dieser «Self-Victimisation» stellt das Stromgesetz dar. Sowohl die Nein- als insbesondere auch die Ja-Stimmenden schätzen im Schnitt entsprechend den Messgrössen ein, dass das Ja-Lager für die Kampagne mehr politische Werbung geschaltet hat als das Nein-Lager. Interessanterweise sind hier die Ja-Stimmenden gar noch stärker dieser Meinung als die Nein-Stimmenden.

Tabelle 2: Werbeausgaben, Inserateaufkommen und eingeschätzte Intensität bei den 6 Vorlagen der Abstimmungen vom 3. März und vom 9. Juni 2024; aufgeteilt nach Ja- und Nein-Lager bzw. Ja- und Nein-Stimmenden

  Werbeausgaben (EFK; in Mio. CHF)Inserataufkommen (APS)Einschätzung Befragte mit Stimmentscheid**
VorlageResultatJA-LagerNEIN-LagerJA-LagerNEIN-LagerJA-StimmendeNEIN-Stimmende
13. AHV-RenteJA2.9823.95836171–0.380.51
Renten-InitiativeNEIN1.2200.116386–0.330.07
StromgesetzJA4.3931.5801771060.400.29
Kostenbremse-InitiativeNEIN0.3193.025260–0.360.01
Prämien-Entlastungs-InitiativeNEIN1.0961.058466–0.440.27
Stopp ImpfpflichtNEIN0.099020–0.300.18
Schnitt* 1.6851.62343.268.2–0.240.22

Gelb unterlegt: Jeweils stärker werbendes Lager
* Bei den Werbeausgaben berechnet sich der Durchschnitt aus allen fünf bisher ausgewiesenen Schlussrechnungen; das mittlere Inserateaufkommen berechnet sich aus den beiden von APS analysierten Inseratekampagnen von März und Juni 2024;
** eingeschätzte Intensität: Mittelwert aus der abgefragten Intensität pro Lager (viel mehr Werbung für Nein-Lager = -2 bis viel mehr Werbung für Ja-Lager= 2) – negative Werte stehen für die Einschätzung, dass das Nein-Lager stärker geworben hat; positive Werte bedeuten, dass die Befragten die Ja-Kampagne als intensiver wahrgenommen haben (0 bedeutet = beide Lager etwa gleich viel).

Diskussion

Weshalb schätzen Bürgerinnen und Bürger die Kampagnenintensität ziemlich gut ein, verfallen aber bei der Einschätzung des Werbeaufkommens des Ja- und des Nein-Lagers je nach eigener Ja- bzw. Nein-Entscheidung in eine «Victimisation»-Haltung? Und weshalb zeigt sich diese beim Stromgesetz nicht?

Unsere Analysen stehen erst am Anfang und deshalb sind lediglich vorläufige Antworten möglich. Mit Blick auf psychologische Forschung vermuten wir eine Art Framing-Bias. In Unkenntnis von Fakten – den Befragten lagen die Daten der EFK und von APS natürlich nicht vor – entscheiden Individuen entsprechend ihres Befindens. Sich dabei selber als Opfer zu sehen, könnte mit der sogenannten Coping-Strategie einhergehen, also dem Versuch, Stress zu vermeiden. Die Ja-Stimmenden bei den vier abgelehnten Initiativen (Renten-Initiative, Kostenbremse-Initiative, Prämienentlastungs-Initiative, Stopp Impfpflicht), aber auch die Nein-Stimmenden bei der 13. AHV-Rente und beim Stromgesetz, können den «Stress» durch die Abstimmungsniederlage verringern, wenn sie das Resultat des Abstimmungsausgangs auf die (vermeintliche) finanzielle Übermacht des Gegner:innen-Lagers zurückführen. Dies könnte auch die mit Abstand deutlichste Zuschreibung der Nein-Stimmenden bei der 13. AHV-Rente erklären: Bei dieser Volksinitiative gehörten die Gegner:innen des Begehrens zu den Verlierer:innen.

Auch die Gewinner:innen, also jene Befragten, deren Stimmentscheid mit dem Resultat der Abstimmung übereinstimmt, zeigen diesen «Victimisation»-Effekt, vermuten also mehr Geldeinsatz im jeweils gegnerischen Lager. Der «Stress» des Verlierens fällt hier freilich weg, vermutlich zeigt sich dabei «Victimisation» aber in Form eines «Outsider»-Effekts: Trotz der (vermeintlichen) Kampagnenübermacht der Gegenseite hat letztlich die eigene Stimme obsiegt. Die Zufriedenheit, die sich dabei einstellt, ist im Sinne von «Coping» ebenfalls Stress reduzierend.

Dass sich dieser «Self-Victimisation»-Effekt beim Stromgesetz nicht zeigt, könnte inhaltliche und institutionelle Gründe haben. Die Vorlage thematisiert als einzige keine Sozialversicherung und ist zudem keine Initiative, sondern ein Referendum gegen eine Behördenvorlage. Vielleicht reduzierte der Umstand, dass die Ja-Seite bei einem Referendum der mehrheitlich wohl eher neutraler wahrgenommenen Parlaments- und Regierungsmehrheit angehört, die Notwendigkeit für Coping. Wird die Gegnerschaft von den Befragten hingegen als eher unliebsam und von Partikulärinteressen getrieben wahrgenommen – was bei Volksinitiativen eher der Fall sein dürfte –, könnte ihre Aufmerksamkeit stärker auf deren Kampagne fokussieren, was eine «Self-Victimisation» wahrscheinlicher machen dürfte.

Wir halten fest: Auch wenn es sehr naheliegend scheint, dass die Intensität von Abstimmungskampagnen für den Ausgang direktdemokratischer Entscheidungen von Bedeutung ist, wissen wir erstaunlich wenig über die Wirkung politischer Werbung auf einzelne Individuen. Unsere Befunde legen nahe, dass Bürgerinnen und Bürger zwar ein erstaunlich gutes Gespür haben für die Intensität politischer Kampagnen im Allgemeinen, dass sie dieses aber trügt, wenn es darum geht, die Werbemacht des jeweiligen Ja- bzw. Nein-Lagers zu unterscheiden. Um dafür eine Erklärung zu finden, braucht es weitere Forschung.


1 Die Frage lautete: «Im Vergleich mit der durchschnittlichen Intensität von politischer Werbung während einer Kampagne zu einer Abstimmungsvorlage in der Schweiz, war die politische Werbung zu [Vorlage X] Ihrer Meinung nach…» – stark unterdurchschnittlich intensiv; unterdurchschnittlich intensiv; durchschnittlich intensiv; überdurchschnittlich intensiv; stark überdurchschnittlich intensiv.

2 Année Politique Suisse erfasst seit 2013 die in über 50 Printmedien in den 8 Wochen vor einem Urnengang publizierten Inserate für und gegen eidgenössische Abstimmungsvorlagen.

3 Die Frage lautete: «Wenn Sie sich die Abstimmungskampagne zu [Vorlage X] vor Augen führen, finden Sie, dass mehr für das NEIN-Lager oder mehr für das JA-Lager geworben wurde oder dass die Intensität der Werbung auf beiden Seiten etwa gleich war?» – Viel mehr Werbung für das NEIN-Lager; Ein wenig mehr Werbung für das NEIN-Lager; etwa gleich; Ein wenig mehr Werbung für das JA-Lager; Viel mehr Werbung für das JA-Lager.

Bild: flickr.com

Der Artikel wurde von Remo Parisi bearbeitet.

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