Von wegen zu jung für (Sozial)politik!

Jugendliche und junge Menschen sucht man in Parlamenten und politischen Ämtern meist vergeblich. Ein häufiges Vorurteil: mangelndes Interesse und (noch) keine ausgereiften politischen Meinungen. Doch eine neue Studie mit über 1’500 Schweizer Jugendlichen zu sozialpolitischen Themen zeichnet ein ganz anderes Bild – mit überraschenden Erkenntnissen zum Sozialstaat und seinen Bezugsgruppen und einem möglichen Blick in die Zukunft des Sozialstaates.

Wer sollte Anspruch auf Sozialleistungen haben und warum? Diese Frage beschäftigt nicht nur Erwachsene, sondern auch Jugendliche. Eine neue Studie mit Jugendlichen aus 14 Kantonen der Deutschschweiz (gewichtetes Durchschnittsalter, 14.6) liefert interessante neue Perspektiven auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit.

Junge Menschen denken anders über soziale Sicherheit…

Die Studie zeigt, dass schon Jugendliche klare Vorstellungen davon haben, welche Bezugsgruppen des Sozialstaates mehr oder weniger Unterstützung “verdienen” (deservingness) und wie die konkrete staatliche Unterstützung für bestimmte Bezugsgruppen aussehen soll (letzteres wurde in der Studie für arbeitslose Menschen untersucht). Hierbei zeigen sich deutliche Unterschiede zu bisherigen Forschungsergebnissen mit Erwachsenen aus einer Vielzahl von Ländern (siehe z.B. Laenen & Meuleman, 2017; Reeskens & van der Meer, 2019; van Oorschot, 2006):

  • Anders als bei Erwachsenen zählen ältere Menschen im Rentenalter unter Jugendlichen in der Deutschschweiz nicht zu den Gruppen, die als am unterstützenswertesten angesehen werden und liegen deutlich hinter Kranken und Behinderten.
  • Arbeitslose EU-Bürger*innen, die in der Schweiz leben, werden nicht weniger unterstützungswürdig eingeschätzt als Schweizer Arbeitslose. Vielmehr besteht der Eindruck, dass Arbeitslose mit einem EU-Pass weniger verantwortlich sind, arbeitslos geworden zu sein, als Schweizer Arbeitslose.
  • Damit im Einklang sehen Jugendliche den Staat auch stärker in der Verantwortung gegenüber den EU-Arbeitslosen im Vergleich zu den Schweizer Arbeitslosen: jedoch nicht in Form von höheren Lohnersatzraten oder längeren Bezugsdauern, sondern im Sicherstellen von Arbeitsplätzen.
… und doch in vielem ähnlich wie Erwachsene

Zeitgleich zeigen sich vertraute Muster, die man aus der Forschung mit Erwachsenen kennt:

  • Jüngere Arbeitslose werden als weniger unterstützenswert angesehen als ältere Arbeitslose, was besonders interessant ist, da mögliche Eigeninteressen ein anderes Urteil vermuten lassen hätten können.
  • Kranke Menschen, Behinderte und Familien werden alle als sehr unterstützenswert angesehen.
  • Der Grad dessen, wie unterstützenswürdig Bezugsgruppen des Sozialstaates eingeschätzt werden, spiegelt sich stark in den Einstellungen zur Ausgestaltung der sozialen Sicherheit wider. Dies gilt sowohl für soziale Rechte (Verantwortung des Staates) als auch für soziale Obligationen (Sanktionen bei Ablehnung von Jobangeboten).

«Ältere Menschen im Rentenalter zählen unter Jugendlichen in der Deutschschweiz nicht zu den Gruppen, die als am unterstützenswertesten angesehen werden»Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Frage: Gib zu jeder der folgenden Gruppen an, inwieweit sie es verdient, Sozialleistungen vom Staat zu bekommen

Wertvolle Vorstellungen zur Sozialpolitik

Was die Ergebnisse der Studie eindrücklich zeigen, ist, dass Jugendliche bereits interessante und wertvolle Vorstellungen zu wichtigen sozialpolitischen Themen haben. Dies wird insbesondere deutlich in der aggregierten Wahrnehmung, dass EU-Arbeitslose als weniger verantwortlich für ihre Arbeitslosigkeit angesehen werden als Schweizer Arbeitslose und zugleich ein Korrektivmechanismus (höhere Verantwortung zur Jobschaffung für EU-Arbeitslose) in den aggregierten Daten widergespiegelt wird. Dies könnte auf ein differenziertes Verständnis der Herausforderungen hindeuten, denen sich Zuwanderer*innen auf dem Arbeitsmarkt gegenübersehen.

‘Korrektivmechanismus’ auf aggregierter Ebene

Auf der einen Seite: «EU-Arbeitslose werden als weniger verantwortlich für ihre Arbeitslosigkeit angesehen als Schweizer Arbeitslose»

Frage: Die meisten [Arbeitslosen/jüngeren Arbeitslosen (unter 30)/ älteren Arbeitslosen (über 55)/ Arbeitslosen mit einem Schweizer Pass/ Arbeitslosen mit einem Pass aus einem EU-Land] sind selbst dafür verantwortlich, dass sie arbeitslos sind.

Auf der anderen Seite: «Der Staat wird mehr in der Verantwortung gesehen, Arbeitsstellen für Menschen mit einem EU-Pass sicherzustellen» Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto · Frage: Inwiefern sollte der Staat verantwortlich sein eine Arbeitsstelle für jede [arbeitswillige Person/ arbeitswillige Person unter 30/ arbeitswillige Person über 55/ arbeitswillige Person mit einem Schweizer Pass/ in der Schweiz lebende arbeitswillige Person mit einem Pass aus einem EU-Land] sicherzustellen? Notiz: Die Frage zur EU-Version enthielt folgenden Zusatz: Im Folgenden siehst du ein paar Aussagen zu Menschen, die aus einem Land der Europäischen Union (EU) in die Schweiz gezogen sind und nun arbeitslos sind.

Ein Blick in die Zukunft?

Inwiefern diese Ergebnisse ein Blick in die Zukunft erlauben, ist mit den Daten in der Studie nicht abschliessend zu beantworten. Es stellt sich somit die Frage nach der Stabilität und Langfristigkeit dieser Einstellungen und deren Bedeutung für die Zukunft des Schweizer Sozialstaates:

  1. Wird die geringere empfundene Unterstützungswürdigkeit älterer Menschen zu Konflikten zwischen den Generationen führen? In Anbetracht andauernder Debatten zur Finanzierung und Ausgestaltung der Rentensysteme ist diese Frage höchst relevant.
  2. Könnte die vergleichsweise positive Einstellung gegenüber EU-Bürger*innen langfristig die Debatte um Zuwanderung aus der EU verändern?

Um diese Fragen beantworten zu können, braucht es mehr Forschung, insbesondere solche, die in der Lage ist, Kohorten und Generationen in ihrer politischen Urteilsfindung zu begleiten und zu untersuchen. Eines wird doch jedoch heute schon klar: Sozialpolitische Themen können mit Jugendlichen in der Öffentlichkeit und an Schulen diskutiert werden. Die Jugend hat eine Stimme und wertvolle Meinungen zur (Sozial-)politik – wir müssen nur zuhören.

Methodik

Die Analysen basieren auf einem Fragebogen mit Jugendlichen aus allen Schultypen aus 14 Kantonen in der Deutschschweiz. Das analytische Sample für diese Studie bestand aus 1601 Jugendlichen (gewichtetes Durchschnittsalter, 14.6). Die Analysen basieren auf gewichteten Daten. Weitere Informationen zur Methodik und den benutzten statistischen Tests (z.B. Überprüfung der Mittelwerte auf signifikante Unterschiede) sowie ungewichtete Analysen sind dem Artikel und zugehörigen Anhang zu entnehmen:

Sowula, Jakub (2024) Deservingness and Welfare Attitudes Through Young Eyes: The Future of the Swiss Welfare State, Swiss Political Science Review, https://doi.org/10.1111/spsr.12606.


Referenzen:

  • Laenen, T., & Meuleman, B. (2017). A Universal Rank Order of Deservingness? In W. van Oorschot, F. Roosma, B. Meuleman, & T. Reeskens (Eds.), The Social Legitimacy of Targeted Welfare (pp. 37–54). Edward Elgar.
  • Reeskens, T., & van der Meer, T. (2019). The inevitable deservingness gap. Journal of European Social Policy, 29(2), 166–181.
  • van Oorschot, W. (2006). Making the difference in social Europe. Journal of European Social Policy, 16(1), 23–42.

Bild: Pexels

image_pdfimage_print