Herr Trein, ist es noch möglich, das schweizerische Gesundheitssystem zu reformieren?

Die Volksabstimmungen von 2024 sind für alle, die sich für das politische Leben in der Schweiz interessieren, von besonderem Interesse. Um noch einmal auf die Vorlagen einzugehen, über die am 9. Juni abgestimmt wurde, befragte die DeFacto-Redaktion Philipp Trein zu den Ergebnissen der drei Volksinitiativen auf Bundesebene.

Drei der vier eidgenössischen Vorlagen, die am 9. Juni dem Volk vorgelegt wurden, betrafen den Gesundheitsbereich und sind allesamt Volksinitiativen. Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass dieses Thema in der öffentlichen Debatte so viel Raum einnimmt? Widmen die Behörden dem Thema genügend Energie?

Philipp Trein: Zunächst einmal wird die Kaufkraft der Haushalte durch die steigenden Krankenversicherungsprämien in einem inflationären Umfeld weiter eingeschränkt. Diese Dynamik setzt die politischen Entscheidungsträger unter Druck, Maßnahmen zur Kostensenkung zu ergreifen, auch wenn das Thema nicht neu ist.

Ich denke, dass es für die Behörden dennoch schwierig ist, in diesem Bereich weitreichende Reformen durchzuführen, da die Verantwortlichkeiten für das Gesundheitssystem in der Schweiz besonders stark geteilt sind: Der Bund ist vor allem für die obligatorische Krankenversicherung, die Zulassung von Medikamenten sowie die Bekämpfung von Infektionskrankheiten zuständig; die Kantone kümmern sich um die meisten anderen Bereiche, d.h. vor allem die Organisation des Pflegeangebots sowie die Finanzierung der Gesundheitsausgaben durch Steuern; und schließlich verhandeln und definieren Interessengruppen und insbesondere Berufsverbände das Tarifsystem und den Preis für Pflegeleistungen. Es gibt sozusagen keinen “eigentlichen Steuermann” des Gesundheitssystems, sondern mehrere Akteure mit unterschiedlichen Interessen, die für verschiedene Bereiche zuständig sind.

Neben diesen strukturellen Elementen des Schweizer Gesundheitssystems sind gesundheitspolitische Reformen schwierig umzusetzen, da die politischen Entscheidungsträger mit vier oft widersprüchlichen Zielen konfrontiert sind: qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung, garantierter Zugang zur Gesundheitsversorgung, freie Wahl der Versicherung und der Leistungserbringer sowie finanzielle Nachhaltigkeit des Systems. Vor diesem Hintergrund legten die Initiativen der SP und der Mitte jeweils den Schwerpunkt auf eines der vier strategischen Ziele der Gesundheitspolitik in der Schweiz, um eine Antwort des Volkes zur Priorisierung eines dieser Elemente zu erhalten. Folglich zielen diese Initiativen, die von verschiedenen Parteien stammen, jeweils darauf ab, ein bestimmtes Ziel auf Kosten der anderen zu priorisieren.

Sowohl die Initiative der Mitte als auch die Initiative der Sozialdemokratischen Partei zur Finanzierung des Gesundheitssystems wurden abgelehnt. Wie sollen überzeugende Reformen ins Auge gefasst werden, wenn weder die bürgerlichen noch die linken politischen Parteien eine Mehrheit für ihre jeweiligen Vorschläge zusammenbringen können?

Einerseits ist die Lancierung der beiden Initiativen ein Beweis dafür, dass die Bevölkerung von der Politik Lösungen für das Problem der Gesundheitskosten wünscht, andererseits zeigen die Ergebnisse aber auch, dass die auf dem Tisch liegenden Vorschläge zu grosse Nachteile hatten, um eine Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugen.

Was die Sozialdemokratische Partei betrifft, so haben frühere Initiativen für eine Einheitskasse an der Urne deutlich weniger Unterstützung erhalten als die Initiative vom 9. Juni 2024. Die Initiative, über die wir abgestimmt haben, ging von einem ähnlichen Argument aus, nämlich den Zugang zur Gesundheit zu erleichtern, indem der Umverteilungscharakter der Zahlung von Krankenkassenprämien gestärkt wird. Die Diskussion bleibt offen, da die SP möglicherweise die Idee einer Einheitskrankenkasse wieder aufgreifen wird und im Kanton Genf ein Pilotprojekt für eine öffentliche Krankenkasse angekündigt wurde.

Was die Volksinitiative der Mitte Partei betrifft, so ist klar, dass die Schweizerinnen und Schweizer nicht bereit sind, beim Zugang zur Gesundheitsversorgung Kompromisse einzugehen. Meiner Meinung nach befürchteten die Menschen, dass es zu einer Verringerung des Gesundheitsangebots kommen könnte, wenn die Initiative angenommen würde.

Die Frage nach den Kosten des Gesundheitssystems wurde den Schweizerinnen und Schweizern klar gestellt. Kann man sagen, dass sie im Durchschnitt der finanziellen Gesundheit der Kantone und des Bundes mehr Bedeutung beimessen als der Gesundheit ihres eigenen Portemonnaies?

Die Annahme einer 13. AHV-Rente im März dieses Jahres hat paradoxerweise dazu geführt, dass die Wählerinnen und Wähler nicht mehr bereit waren, neue Bundesausgaben durch die Annahme der Initiativen zum Gesundheitssystem zu genehmigen. Die beiden Abstimmungen sind für mich miteinander verknüpft, und es ist wahrscheinlich, dass die Initianten mehr Erfolg gehabt hätten, wenn die Abstimmungen in einem größeren zeitlichen Abstand stattgefunden hätten.

Die Ergebnisse des 9. Juni zeigen, dass die schweizerische Bevölkerung keine Kostenbremse für das Gesundheitswesen nach dem Vorbild der Schuldenbremse – die in der Deutschschweiz sehr beliebt ist – will. Dennoch ist ein kleiner Trend hin zu einem umverteilenden Gesundheitssystem erkennbar, auch wenn es zum jetzigen Zeitpunkt noch zu früh ist, die doppelte Mehrheit von Volk und Ständen zu erreichen. Um die Ablehnung der beiden Initiativen der SP und der Mitte verstehen zu können, müsste man die Annahmequote für jede Gemeinde nach dem durchschnittlichen Einkommen ihrer Einwohner und der Höhe der durchschnittlichen Prämie analysieren.

Ist es mit einem sehr deutlichen Röstigraben bezüglich der Ergebnisse der Initiative zur Prämienobergrenze nicht eher die Frage nach dem Stellenwert des Sozialstaats als das Thema Gesundheit, das die Deutschschweizer und die Westschweizer trennt? Wie lassen sich die Mehrheiten für die beiden Initiativen speziell in den Kantonen Freiburg, Jura, Neuenburg, Wallis und Tessin erklären?

Historisch gesehen gibt es zwischen den Sprachregionen unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie das Gesundheitssystem in der Schweiz finanziert werden soll. Als 1994 das Krankenversicherungsgesetz (KVG) eingeführt wurde, gab es eine große Debatte darüber, wie viel Platz dem Markt und der freien Entscheidung des Einzelnen, sich zu versichern oder nicht, eingeräumt werden sollte, und welche Rolle der Staat bei dieser neuen Versicherung spielen sollte. Die Initiativen der Linken zur Einheitskasse und die jüngste Abstimmung über die Prämienobergrenze greifen diese Debatte wieder auf. Die Ergebnisse der Abstimmungen legen nahe, dass die Romands eher für staatliche Eingriffe waren, während die Deutschschweizer die Idee, die Wahl der Krankenkasse und/oder des Arztes einzuschränken, sehr ablehnten.

Generell gesehen hatten es politische Vorschläge, die die Rolle des Staates in der Krankenversicherungspolitik zu stärken schienen, schwer, sich durchzusetzen, weil vor allem Einschränkungen der Wahlfreiheit in der Gesundheitsversorgung befürchtet werden. Bei der Abstimmung über die Versorgungsnetze im Jahr 2012 mobilisierte die FMH genau dieses Argument, um sich gegen die Vorlage zu wehren – mit Erfolg. Im Vergleich zu früheren Abstimmungen über eine Einheitskasse zeigt die Abstimmung vom 9. Juni 2024 jedoch eine zunehmende Unterstützung für eine stärkere Rolle des Staates und eine grössere Umverteilung in der Krankenversicherungspolitik.

Was die von der Mitte lancierte Initiative betrifft, so bin ich vom Röstigraben nicht überzeugt. Die Tatsache, dass sie in den Kantonen Genf und Waadt weitgehend abgelehnt wurde, ist das deutlichste Beispiel dafür. Wenn wir unseren Blick auf die Gemeinden richten, sind die Ergebnisse auch in Kantonen, in denen die Initiative angenommen wurde manchmal knapp und es gibt nicht immer klare Mehrheiten. Eine Hypothese wäre, dass die Kantone mit einer historisch starken Mitte Partei der Initiative eher gefolgt sind. Vielleicht geht die Bevölkerung in ländlichen Kantonen seltener zum Facharzt, was ebenfalls eine Erklärung für die geringere Ablehnung in diesen Regionen sein könnte.

Nach dem Scheitern der drei Referenden gegen das COVID-19-Gesetz und dem Ende der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie hätte man annehmen können, dass die sozialen Bewegungen und die Zurückhaltung der Bevölkerung gegenüber gesundheitspolitischen Maßnahmen dauerhaft nachlassen würden. Die Tatsache, dass im Juni 2024 über eine Initiative zur Gewährleistung der körperlichen Unversehrtheit abgestimmt wurde, beweist, dass dies offensichtlich nicht der Fall ist. Was ist von dieser Beständigkeit im Laufe der Zeit zu halten?

Es gibt einen Teil der Schweizer Bevölkerung, der grundsätzlich gegen die Art und Weise ist, wie die Gesundheitspolitik im Epidemiengesetz (EpG) organisiert ist. Die COVID-19-Krise hat sehr konkret seine Anwendung und seine umstrittensten Maßnahmen gezeigt – insbesondere den Druck zur Impfung, ohne dass diese explizit verpflichtend vorgeschrieben wurde. Die Befürworter der Initiative sind in der Regel Einzelpersonen, die dem bürokratischen Staat im weitesten Sinne, der Bundesverwaltung und ihrer Pflicht, abstrakte Regeln anzuwenden, misstrauen.

Was die verschiedenen Abstimmungen über das COVID-19-Gesetz betrifft, so sind die Personen, die es abgelehnt haben, wahrscheinlich dieselben, die die Initiative angenommen haben. Das Thema bleibt auch deshalb auf der politischen Agenda, weil die Weltgesundheitsorganisation (WHO) plant, die Vorbereitung auf Pandemien zu verbessern, indem sie unter anderem die Verteilung von Impfstoffen zwischen Entwicklungsländern und reichen Ländern besser organisiert. Die SVP, die grundsätzlich gegen internationale Abkommen ist, hat sich daher auf diese Problematik eingeschossen.

Glauben Sie, dass das Thema Gesundheit in der Schweiz auch in Zukunft so spaltend bleiben wird?

Die Schweizer Politik ist bereits seit einigen Jahren allgemein polarisiert (siehe P. Sciarini, M. Fischer, D. Traber, “Political Decision-Making in Switzerland: The Consensus Model Under Pressure”, 2015), allerdings führt dies nicht immer unbedingt dazu, dass wenig effektive und schlecht abgestützte Reformen verabschiedet werden. Darüber hinaus arbeiten die Kantone an verschiedenen Projekten zur Senkung der Gesundheitskosten, und der Laborcharakter des Föderalismus wird wahrscheinlich dazu führen, dass auch andere Kantone Maßnahmen ergreifen. Ich glaube nicht, dass der Bund langfristig hauptsächliche die Führung in der Gesundheitspolitik übernehmen kann, da dies die Bevölkerung vermutlich mehr spalten würde als das aktuelle System.

Ansonsten bleiben die steigenden Kosten und die Prämien das vorherrschende Thema, das die Schweizer Gesellschaft spaltet. Es wird zu beobachten sein, ob die Sozialdemokratische Partei ihre Idee einer öffentlichen Krankenkasse wieder aufgreift, möglicherweise mit einer Koppelung der Höhe der zu zahlenden Prämie an das Einkommen – was sie de facto zu einer Steuer machen würde. Wie bereits erwähnt, wird die Frage der Umverteilung der Gesundheitskosten immer wieder diskutiert. Das liberale Ideal einer Person, die allein für ihren Zustand verantwortlich ist, ist meiner Meinung nach nur teilweise haltbar: das Risiko krank zu werden hängt zwar vom individuellen Verhalten ab, zu einem sehr grossen Teil jedoch auch von Faktoren ausserhalb des menschlichen Einflusses, also Zufällen. Daher macht eine allgemeine und umverteilende Versicherung Sinn. Solange die Gesundheitskosten im aktuellen Umfand weiter steigen, werden Themen wie Umverteilung und Leistungskataloge ein politisch wichtiges Thema der Gesundheitspolitik bleiben. Das Schicksal der indirekten Gegenvorschläge zu den beiden Initiativen wird auf dieses Thema einen wichtigen Einfluss nehmen.


Philipp Trein

Philipp Trein ist Assistenzprofessor für öffentliche Verwaltung und Politik an der Universität Lausanne. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Integration, Digitalisierung, Gesundheitspolitik und Krisenpolitik.

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Bild: unsplash.com

 

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