Emotionale Polarisierung der Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz seit zwei Jahrzehnten stabil

In der Schweiz sind die Wahrnehmung und Sorge um eine Zunahme der emotionalen Polarisierung der Bürgerinnen und Bürger weit verbreitet. Basierend auf neuen Umfragedaten und nationalen Panaschierstatistiken finden sich jedoch keine Hinweise auf eine solche Zunahme innerhalb der letzten zwanzig Jahre.

Viele sorgen sich um die Kompromissfähigkeit und die Toleranz in der Schweizer Politik.1 Eine prominente Studie nährt die Befürchtungen mit einer provokanten Beobachtung. In dieser neueren empirischen Arbeit identifizieren Boxell et al. (2024) die Schweiz als westliche Demokratie mit einer besonders starken Zunahme der affektiven Polarisierung. Die affektive Polarisierung ist das Ausmass, in welchem Bürgerinnen und Bürger gleichzeitig stark positive und stark negative Gefühle gegenüber den verschiedenen politischen Parteien verspüren. Das Ergebnis von Boxell et al. basiert auf Beobachtungen aus sechs Umfragen bis 2011, bei denen jedoch drei verschiedene Fragetypen verwendet wurden. Zudem stützt sich der Trend hauptsächlich auf fragwürdige Daten aus dem Jahr 1975.

In unserer aktuellen Forschungsarbeit versuchen wir deshalb die affektive Polarisierung der Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz bezüglich der politischen Parteien über die Zeit mit verschiedenen Ansätzen neu zu «vermessen».

Affektive Polarisierung geht über Interessengegensätze hinaus

Selbstverständlich gibt es unter den Bürgerinnen und Bürger Interessengegensätze und Meinungsvielfalt. Menschen teilen die Positionen von einigen Parteien, während sie andere ablehnen. Doch wie weit übertragen sich die unterschiedlichen Positionen in Sympathien und Antipathien gegen die verschiedenen Parteien? Wenn jemand einer Partei sehr zugetan ist und gleichzeitig gegenüber anderen Parteien eine starke Abneigung oder Antipathie verspürt, dann spricht die Wissenschaft von starker affektiver Polarisierung (siehe z.B. Iyengar et al. 2012, Reiljan et al. 2024 oder Wagner 2024). Diese Abneigung gegen Gruppen mit einer anderen politischen Orientierung bei gewissen Themen kann sich einstellen, selbst wenn viele andere Themen ähnlich beurteilt werden. Dies passiert vor allem dann, wenn eine bestimmte Einstellung oder Position Teil der eigenen Identität wird, jemand sich darüber identifiziert, einer Gruppe zugehörig fühlt, und sich gleichzeitig von anderen Gruppen abgrenzt. Darunter – so die Befürchtungen – leidet die Kompromissfähigkeit. Die «Anderen» sind nicht mehr politische Gegner, sondern Feinde, und ihre Interessen werden nicht mehr als legitim angesehen.

Umfragedaten aus drei Jahrzehnten, Wahldaten aus vier Jahrzehnten

Wir haben das Phänomen der affektiven Polarisierung in Zusammenarbeit mit der SRG in der Umfrage «Wie geht’s, Schweiz?» für unser Land vermessen und können uns auf die Antworten von über 10’000 Schweizer Bürgerinnen und Bürger stützen. Im Kontext der Schweiz wird abgefragt, inwiefern Personen die grossen Parteien mögen oder nicht. Verbindet eine befragte Person mit der Partei eher hohe Affekte oder eher tiefe Affektwerte, d.h. nur wenig Sympathie?2 Wir reden von einer Person als stark affektiv polarisiert, wenn sich die geäusserten Sympathien gegenüber den verschiedenen Parteien stark unterscheiden. Bei der Berechnung dieser Streuung kriegen Parteien mit einem grösseren Wähleranteil ein entsprechend höheres Gewicht. Die Umfrage hat zwischen dem 3. April und dem 8. Mai 2023 stattgefunden. Die neuen Umfragedaten verknüpfen wir mit früheren Daten von der Studie SELECTS aus den Jahren 1995, 1999, 2003, 2007 und 2011. Um für unterschiedliche Frageformate statistisch zu kontrollieren, haben wir die bisher verwendeten Fragetypen zufällig bei der Befragung 2023 angewendet. Ergänzt haben wir die Umfragedaten mit Zeitreihen zum Panaschierverhalten bei den Nationalratswahlen seit 1983. Falls die parteipolitische Polarisierung zugenommen hat, so würden wir grundsätzlich erwarten, dass die Wählerinnen und Wähler in den letzten Jahren häufiger unverändert Parteilisten einlegen und weniger panaschieren.

Bisherige Einschätzung wird nicht gestützt

Unsere Ergebnisse zeigen zwar einen Anstieg der affektiven Polarisierung in der Schweiz zwischen 1995/99 und 2003, jedoch keinen klaren Trend danach (siehe Abbildung 1). Der Anstieg um die Jahrtausendwende ist darauf zurückzuführen, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre bevorzugte Partei generell etwas positiver bewerteten. In den letzten zwanzig Jahren ist die Streuung trotz eines leichten Rückgangs bei den Sympathien gegenüber den Parteien stabil geblieben. Das heisst, das gleiche Niveau an affektiver Polarisierung wie vor 20 Jahren scheint heute etwas stärker durch Abneigungen gegenüber anderen Parteien als durch starke Sympathien gegenüber der eigens favorisierten Partei bestimmt zu sein.

Abbildung 1: Affektive Polarisierung in der Schweiz, 1995-2023

Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto – übernommen aus der Abb. 7 in Jansen und Stutzer (2024) · Datenquellen: Tresch et al. (2020; SELECTS), SRG und gfs.bern (2023) und BFS (2023)

Unsere Analyse des Panaschierverhaltens bei den Proporzwahlen in den Nationalrat (d. h. dem Ausmass der Kombination von Kandidatinnen und Kandidaten verschiedener Parteien über die offenen Listen) ergibt ein ähnliches Bild: Seit 1983 schwanken die Anteile der Stimmen pro Liste, welche an Kandidatinnen und Kandidaten der präferierten Partei gehen, lediglich um 4 Prozentpunkte, ohne dass es über diesen gesamten Zeitraum einen systematischen Trend gibt (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Panaschierverhalten anhand von nicht-panaschierten Stimmen in der Schweiz, 1983-2023

Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto – übernommen aus der Abb. 9 in Jansen und Stutzer (2024) und aktualisiert um Daten für 2023 · Datenquellen: BFS (2024)

Unsere Befunde dafür, dass es keinen eindeutigen Trend in der affektiven Polarisierung und dem Panaschierverhalten zu geben scheint, stellen zwei weit verbreitete Behauptungen in Frage. Erstens könnte die viel diskutierte und befürchtete Polarisierung der Massen entlang der Parteigrenzen – zumindest in den letzten zwei Jahrzehnten – eher ein Narrativ sein, das aus den USA importiert wurde, und weniger einem ausgeprägten Phänomen in der Schweiz entspricht. Insbesondere das Resultat von Boxell et al. (2024) kann auf Grundlage unserer Analyse insgesamt nicht gestützt werden. Dies vor allem auch deshalb, weil auf der schlechten Datengrundlage für das Jahr 1975 kein Vergleich über fünfzig Jahre angestellt werden kann. Bei der Befragung 1975 wurden nur Affektwerte gegenüber zwei bis vier Parteien erhoben und dies parallel zur Einschätzung von anderen Gruppen, wie beispielsweise der Kirche, der Armee oder den Gastarbeitern. Im Datensatz lässt sich zudem nicht zwischen niedrigen Affektwerten und fehlenden Antworten unterscheiden. Zweitens scheinen sich die veränderten Parteiideologien und Themenpositionen in der Schweizer Politik (siehe dazu z.B. Zollinger und Traber 2023) bisher nicht in eine grössere Variation der affektiven Gefühle der Menschen gegenüber politischen Parteien oder in ein geringeres Panaschierverhalten übersetzt zu haben.

Zusammenhang mit politischen Einstellungen und politischer Beteiligung

Das Phänomen der affektiven Polarisierung ist dennoch mit wichtigen demokratischen Einstellungen und der Bereitschaft verbunden, sich aktiv in der Politik zu engagieren. So geben Personen, die stärker affektiv polarisiert sind, gleichzeitig eine tiefere Zufriedenheit mit dem demokratischen System in der Schweiz an. Es scheint jedoch keinen systematischen statistischen Zusammenhang zwischen affektiver Polarisierung und dem Vertrauen der Bevölkerung in die parteiübergreifenden Regierungsorgane der Schweiz zu geben.

Unter statistischer Berücksichtigung der üblichen sozio-ökonomischen Bestimmungsfaktoren stellen wir zudem fest, dass Personen, die stärker affektiv polarisiert sind, eher abstimmen, diskutieren, an politischen Versammlungen teilnehmen, Volksinitiativen und fakultative Referenden unterzeichnen und auch eher versuchen, andere über politische Positionen zu überzeugen. Das gleiche Muster zeigt sich für die Bereitschaft ein politisches Amt zu übernehmen. Dies obwohl die Übernahme eines politischen Amtes, ein Mindestmass an parteiübergreifender Zusammenarbeit erfordert.

Schlussfolgerung

In der Schweiz besteht unter den Bürgerinnen und Bürgern ein gut entwickeltes Sensorium für die Bedeutung der Toleranz in der Politik. Wir sind gefordert, dass wir die Toleranz immer wieder von neuem stärken können. Im Schweizer Kontext stellen sich entsprechend viele Anschlussfragen, was die Bestimmungsgründe der affektiven Polarisierung und ihre Auswirkungen auf den politischen Prozess angeht. Insbesondere ist offen wie jene Institutionen, welche die Demokratie in der Schweiz prägen, die Kräfte verstärken oder mässigen, die zur affektiven Polarisierung beitragen. Entsprechende Einsichten sind wichtig, so dass wir unsere demokratischen Konfliktlösungsmechanismen im Hinblick auf neue Herausforderungen mit einer stärker emotionalen Politik weiterentwickeln können.


1 In der Umfrage «Wie geht’s, Schweiz?» der SRG vom April/Mai 2023 geben 67% der Befragten an, dass sie der fehlende Wille zum Kompromiss in der Politik in den nächsten Jahren ziemlich oder sehr stark beschäftigen wird. Dies ist der gleich grosse Anteil, wie bei der Frage nach der eigenen Altersvorsorge (67%) und leicht mehr als zum Beispiel beim Thema Energieknappheit (62%) (SRG und gfs.bern 2023).

2 Der genaue Wortlaut in der Umfrage «Wie geht’s, Schweiz? 2023» lautet: «Jetzt möchten wir gerne wissen, was Sie über einige der politischen Parteien denken. Stufen Sie bitte die MITTE, FDP, SP, SVP, GRÜNE, GLP und EVP auf einer Skala von 0 bis 10 ein. 0 bedeutet, dass Sie diese Partei überhaupt nicht mögen. 10 bedeutet, dass Sie diese Partei sehr mögen.».

Dieser Beitrag basiert auf:

  • Jansen, Benjamin und Alois Stutzer (2024). Affective Partisan Polarization and Citizens’ Attitudes and Behavior in Swiss Democracy. WWZ Working Paper No. 2024/04, University of Basel, Center of Business and Economics (WWZ), Basel. https://edoc.unibas.ch/96384/

Referenzen:

  • BFS (2023). Nationalratswahlen: Stärke der Parteien (1919-2023). Swiss Federal Statistical Office (BFS).

  • BFS (2024). Nationalratswahlen 1983-2023: Panaschierstatistik (Parteien), nach Kantonen.
    Swiss Federal Statistical Office (BFS).

  • Boxell, Levi, Matthew Gentzkow und Jesse M. Shapiro (2024). “Cross-Country Trends in Affective Polarization”. Review of Economics and Statistics 106 (2), 1–9.

  • Iyengar, Shanto, Gaurav Sood und Yphtach Lelkes (2012). “Affect, Not Ideology: A Social Identity Perspective on Polarization”. Public Opinion Quarterly 76 (3), 405–431.

  • Reiljan, Andres, Diego Garzia, Frederico Ferreira da Silva und Alexander H. Trechsel (2024). “Patterns of Affective Polarization toward Parties and Leaders across the Democratic World”. American Political Science Review 118 (2), 654–670.

  • Tresch, Anke, Georg Lutz, Lukas Lauener, Nicolas Pekari, Robert Baur, Thomas De Rocchi, and Andreas Goldberg (2020). Swiss Election Study (Selects), cumulative dataset 1971-2019. FORS – Swiss Centre of Expertise in the Social Sciences et al.

  • Wagner, Markus (2024). “Affective polarization in Europe”. European Political Science Review, 1–15.

  • SRG und gfs.bern (2023). Population survey ‘How are you, Switzerland?’, wave 1. unpublished. Study by the research institute gfs.bern on behalf of the Swiss Broadcasting Corporation (SRG/SSR). https://www.gfsbern.ch/de/news/bevoelkerungsbefragung-wie-gehts-schweiz/

  • Zollinger, Delia und Denise Traber (2023). “The ideological space in Swiss politics: Voters, parties, and realignment”. In: The Oxford Handbook of Swiss Politics. Hrsg.: Patrick Emmenegger, Flavia Fossati, Silja Häusermann, Yannis Papadopoulos, Pascal Sciarini und Adrian Vatter. Oxford: Oxford University Press. Kap. 7, 116–136.

Der Artikel wurde von Remo Parisi redigiert.

Bild: unsplash.com

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