Das heute praxisgeprägte Polizeiwesen der Schweiz erfährt einen Wandel durch zunehmende Zusammenarbeit von Praxis und Wissenschaft. Eine systematische Erhebung der wissenschaftlichen Publikationen beleuchtet die Entwicklung der aufkommenden Polizeiforschung. Welche Disziplinen beteiligen sich an der Polizeiforschung, mit welchen Methoden wird geforscht und wie wird die Qualität sichergestellt? Auffallend ist die derzeit geringe Präsenz an sozialwissenschaftlichen Beiträgen.
Einleitung
Die Polizei ist eines der wichtigsten und machtvollsten Elemente der gesellschaftlichen Ordnung und öffentlichen Verwaltung der Schweiz.1 Sie sorgt für Sicherheit und Ordnung durch umfangreiche präventive und repressive Massnahmen und ist ein beachtlicher Ausgabenposten der öffentlichen Hand. Sie setzt Normen auch gegen den Willen Einzelner durch, arbeitet an der Schnittstelle zu unzähligen sozialen Problemen und verkörpert die gewünschte Balance zwischen staatlicher, privater und zivilgesellschaftlicher Ordnungsarbeit. Mit ihrer situativen Entscheidungsmacht gilt die Polizei für einzelne Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler als der Inbegriff des Politischen schlechthin.
Angesichts ihrer zentralen Position überrascht kaum, dass die Polizei auf kantonaler Ebene oft im Fokus öffentlicher Debatten steht. Erstaunlich ist jedoch der Umstand, dass das Schweizer Polizeiwesen (sozial-)wissenschaftlich noch immer wenig erforscht ist: Es besteht bisher wenig öffentlich zugängliches Wissen über die Schweizer Polizeiarbeit. Dies reflektiert den sehr praxisnahen Charakter des Polizeibereichs. Das Schweizer Polizeiwesen besteht aus einer grossen practitioner community mit rund 19’500 Polizistinnen und Polizisten, deren Arbeitsweise stark auf eingeübten, vorgelebten und weitergereichten praktischen Anwendungen basiert. Abgesehen von rechtlichen Abhandlungen, betriebsinternen Weisungen und Schulungsmaterial sind schriftliche und wissenschaftliche Materialien über die Polizei ziemlich limitiert.
Ein klarer Bedarf an translationaler Wissensproduktion
Tatsächlich ist auch die Zusammenarbeit von Polizei und Wissenschaft in der Schweiz – anders als in anderen Ländern wie etwa Deutschland, England oder Kanada – noch wenig etabliert. Wissen über Polizeithemen wird in der Schweiz noch selten veröffentlicht. Die Wissensproduktion in der Polizei wird wenig durch Forschungsmethodik verstärkt und wissenschaftliche Beiträge werden in einigen Polizeien mässig anerkannt. Gleichzeitig ist die universitäre Forschung noch oft externalistisch unterwegs: Die innere Sicherheit wird häufig aus einer stark formaljuristischen Perspektive oder «von aussen» mit wenig Kenntnis wichtiger bereichseigener Praxislogiken analysiert – zum Teil auch mangels besserer Zugänge. Manchmal werden der Schweizer Polizeilandschaft auch einfach angelsächsische Debatten und Konzepte übergestülpt.
Forschung in, mit und über Polizei ist in der Schweiz heute stark verzettelt, beidseitig gewinnbringende Kooperationen sind noch stark fall- und personenabhängig. Dieser Zustand ist für die Sozial- und Politikwissenschaften besonders unbefriedigend, ist die Polizei doch ein zentrales Element der gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Sie ist auch für die Polizei ungenügend. Die Polizei muss zunehmend komplexe Themen handhaben und steht unter hohem Personaldruck. Deshalb muss sie den aktuellen Wissensstand besser nutzen und wissenschaftliche Erkenntnisse direkter für ihre Aufgaben nutzen. Der Bedarf am gemeinsamen Lernen ist gross und der Anspruch an die evidenzbasierte Polizeiarbeit steigt. Letzterer Ansatz verlangt eine stärkere Verwendung objektiver Daten, was robustere Methodenkompetenzen und noch mehr nachvollziehbare schriftliche Analyseprodukte bedingt. In der Summe haben die Schweizer Polizeien – wie andere moderne und demokratische Polizeisysteme auch – grossen Bedarf, sich als wissensbasierte und wissensorientierte Organisationen zu stärken. Eine bessere Zusammenarbeit mit der Wissenschaft liegt auf der Hand.
Ein neues Monitoring der wissenschaftlichen Arbeiten über Polizei
Diese Annäherung benötigt allerdings Zeit und auf dem Weg zu einer gewinnbringenderen Wissensproduktion durch Praxis und Wissenschaft sind noch einige Hürden zu meistern. Eine davon ist, die sozial- und politikwissenschaftlichen Komponenten der Polizeiforschung zu stärken. Tatsächlich zeigt eine erste Systematisierung von Publikationspraktiken, dass die Forschung über Schweizer Polizei heute eher einseitig strukturiert ist. Veröffentlichungen sind selbstredend nicht das einzige Mittel, um die Wissensproduktion im und ums Polizeiwesen zu erfassen. Weil sie Erkenntnisse Laien zugänglich machen, international breit abrufbar sind und aufbauende Forschung ermöglichen, sind Publikationen jedoch ein sehr praktikables Mass dafür (in den Politikwissenschaften Leifeld und Ingold 2016). Aus diesem Grund erhebt die Abteilung Polizeiwissenschaften der Kantonspolizei Basel-Stadt seit Anfang 2022 alle auf Deutsch, Französisch, Italienisch oder Englisch publizierten wissenschaftlichen Publikationen mit Fokus auf das Schweizer Polizeiwesen.2 Die so erstellten Übersichten über den Forschungsstand werden intern verwendet, halbjährlich öffentlich bereitgestellt und bibliometrisch ausgewertet.
Abbildung 1. Bibliometrische Strukturen der Polizeiforschung im Kalenderjahr 2022 (Publikationssprache projiziert)
Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto
Mit der Fortschreibung dieser Sammlung entsteht ein zunehmend umfangreicher Datensatz über die Polizeiforschung. Gleichzeitig werden die Strukturen dieser Forschungspraktiken kenntlich gemacht.3 Dazu gibt der erste Datensatz aufschlussreiche Hinweise: Im Kalenderjahr 2022 wurden 101 wissenschaftliche Beiträge mit Fokus auf die Schweizer Polizei veröffentlicht, davon 45% in nicht-begutachten Zeitschriften, 28% in weiteren Praxiszeitschriften, 16% in begutachteten Fachzeitschriften, 11% als Bücher und 1% als Buchkapitel. 53% der insgesamt 101 Beiträge wurden von Männern, 24% von Frauen und 23% von geschlechtlich gemischten Teams geschrieben. 50% der Publikationen wurden von Einzelpersonen und 33% von Ko-Autorenschaften aus der Schweiz verfasst, 7% von Einzelpersonen und 4% durch Ko-Autorenschaften im Ausland, 6% von transnationalen Teams mit Personen aus der Schweiz und dem Ausland. 66% wurden auf Deutsch publiziert, 13% auf Französisch, 12% auf Englisch und 6% auf Italienisch, die übrigen zweisprachig.
Das Legalitätsprinzip – die im Polizeiwesen besonders stark ausgeprägte Notwendigkeit, Arbeitspraktiken auf detaillierte Rechtsgrundlagen abzustützen – zeigt sich stark in der disziplinären Ausrichtung der Polizeiforschung. Mit 46% stammt fast die Hälfte aller wissenschaftlichen Publikationen des Jahres 2022 aus den Rechtswissenschaften, 20% kommen aus der Polizeipraxis, 8% der Kriminalistik, 2% der Rechtsmedizin und je 1% aus Psychologie und Geschichtswissenschaften. Bloss 19% sind sozialwissenschaftlich angeleitet, weitere 4% sind interdisziplinär. Weiter basieren nur 14% der Arbeiten auf qualitativer und 11% auf quantitativer Forschungsmethodik. Alle übrigen Arbeiten sind «angewandter Natur» oder verwenden keine klarer erkennbare (sozial-)wissenschaftliche Forschungsmethode. 39% der 101 Studien schliesslich stammen gemäss Affiliationsangaben von Universitäten, 20% aus Polizeien und öffentlicher Verwaltung, 15% von Fachhochschulen, 8% aus der Privatwirtschaft und 5% von zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Die Eigenheiten der publizierten Polizeiforschung
Zusammengefasst zeigt die Analyse spezielle Strukturen der Veröffentlichungspraktiken im Bereich des Schweizer Polizeiwesens. So korrespondieren deutschsprachigen Veröffentlichungen mit Einzelpublikationen, (männlichen) Autoren und der Praxiswelt, kollaborative Arbeiten in der Schweiz mit geschlechtlich gemischten Autorenschaften und Fachhochschulen, eher englischsprachige und grenzüberschreitende Polizeiforschung hingegen mit Universitäten (vgl. Grafik 1 für diese Gruppierungen). Praktiker und Praktikerinnen verfassen angewandte Beiträge mit Fokus auf die Polizeipraxis oder aber juristische oder kriminalistische Abhandlungen in zumeist nicht-begutachteten Fachzeitschriften. Beiträge von Forschenden aus Universtäten und insbesondere Fachhochschulen sind methodisch klarer verortbar und korrelieren enger mit sozialwissenschaftlichen und begutachteten Artikeln (vgl. Grafik 2).
Auch zeigt die Kodierung Merkmale, die sich teilweise von klassischeren disziplinären Praktiken wie denjenigen der Politikwissenschaften unterscheiden. Die Polizeiforschung ist – wegen ihres angewandten Wesens und der kantonalen Verankerung – stark auf die Schweizer Landessprachen ausgerichtet. Demgegenüber tragen viele politikwissenschaftliche Grundlagenarbeiten zumeist Englisch geschrieben dem internationalen Wissensstand bei. Sie zirkulieren deshalb kaum in der kantonalen Politik und Verwaltung, also der tatsächlichen praktischen und verwaltungspolitischen «Heimat» des Schweizer Polizeiwesens. Grenzüberschreitende Publikationen sind in der Polizeiforschung trotz den ausgeprägt transnationalen Verflechtungen der inneren Sicherheit wesentlich seltener als in den Politikwissenschaften, die gender ratios hingegen ähnlich unausgeglichen (Leifeld und Ingold 2016, Teele und Thelen 2017, Cellini 2022). Wenig überraschend sind Personen aus Fachhochschulen in der Polizeiforschung wesentlich stärker vertreten als in den Politikwissenschaften (Bernauer und Gilardi 2010), dafür sind die polizeiwissenschaftlichen Arbeiten viel seltener begutachtet. Ihre methodischen Grundlagen sind oft undeutlich, was die Überprüfung ihrer Ergebnisse erschwert. Der starke Einschlag der Rechtswissenschaften ist offensichtlich, die Beiträge der Sozialwissenschaften sind überraschend bescheiden.
Abbildung 2. Disziplinäre und methodische Einschläge der Polizeiforschung im Kalenderjahr 2022
Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto
Das Zusammenspiel von Polizei und Wissenschaft soll in der Schweiz künftig stark verbessert werden. Wenn die entsprechenden Hürden abgebaut werden, verändern sich auch diese bibliometrischen Charakteristiken der Polizeiforschung – und wenn ja in welche Richtung? Die Fortführung des Publikationsmonitorings wird die Resultate des Kalenderjahres 2022 zunehmend klarer einordnen lassen. Und sie wird die erhofften methodischen und disziplinären Entwicklungen im Feld besser greif- und diskutierbar machen. Damit ist das Monitoring Teil des grösseren Vorhabens, die Verbindung von Polizei und Wissenschaft in der Schweiz systematisch zu begleiten und nach Möglichkeiten auch punktuell mit Anstössen zu verbessern. Aus heutiger Sicht ist der Bedarf nach einer zunehmend professionellen und translationalen Forschungsgemeinschaft im und um das Schweizer Polizeiwesen offensichtlich (Jarchow und Kagel 2023). Diese soll nicht Wissensepisteme gegeneinander ausspielen, sondern Praxiswissen und Forschungsstand produktiv verbinden, die Methodenstärke der Polizeiforschung forcieren, griffigere Polizeiforschung ermöglichen und auch sozialwissenschaftliche Fragestellungen vermehrt ins Zentrum rücken. Angesichts der zentralen Relevanz des Polizeiwesens ist es überfällig, dass der Politikbereich mit seinen vielen gewichtigen (inter-)kantonalen, kommunalen und (trans-)nationalen Elementen wesentlich stärker durch die Sozialwissenschaften erschlossen wird.4 Dabei sind die Politikwissenschaften besonders gefordert: Die engen Beziehungen zwischen Polizei, Politik, Staat, Ordnung und Macht sind bekannt und bedürfen kaum weiterer Ausführungen.
1 Der Beitrag wiedergibt die fachlichen Einordnungen der Autoren. Diese entsprechen nicht zwingend derjenigen der Kantonspolizei Basel-Stadt.
2 Die Abteilung Polizeiwissenschaften ist eine neugeschaffene, hybride und primär sozialwissenschaftlich ausgerichtete wissenschaftliche Organisationseinheit. Die Einheit forscht mit, für und über Polizei. Sie vereint Praxiswissen und Forschungsstand und fokussiert thematisch auf die zukunftsgerichtete und urbane Polizeiarbeit im Verbund.
3 Zudem wird an ähnliche Aufarbeitungsbemühungen aus der internationalen Polizeiforschung angeknüpft, vgl. Beckman et al 2003 und Wu et al 2018. Das Monitoring und weitere Wissensprodukte der Abteilung Polizeiwissenschaften sind über Webseite oder Newsletter öffentlich erhältlich: www.polizei.bs.ch/wissenschaft
4 Per November 2023 finden sich im kompletten Korpus der Swiss Political Science Review (bestehend seit 1995) gerade einmal zwei, im kompletten Korpus der Schweizer Zeitschrift für Soziologie (bestehend seit 1975) drei eigenständige Beiträge mit dem Begriff Polizei (oder police) im Titel oder Stichwortverzeichnis.
Referenzen:
- Beckman, Karen, Cynthia Lum, Laura Wyckoff und Kristine Larsen-Vander Wall (2003). Trends in police research: a cross-sectional analysis of the 2000 literature. Police Practice and Research 4(1): 79-96.
- Bernauer, Thomas und Fabrizio Gilardi (2010). Publication output of Swiss political science departments. Swiss Political Science Review 16(2): 279-303.
- Cellini, Marco (2022). Gender gap in political science: an analysis of the scientific publications and career paths of Italian political scientists. Political Science & Politics 55(1): 142-148.
- Jarchow, Esther und Martin Kagel (2023). Polizei vs. Forschung? Ein spezifisches Forum für Polizeiforschung als Missing Link und als Fallbeispiel für Wissenschaftskommunikation im polizeilichen Kontext. In: Kritische Polizeiforschung: Reflexionen, Dilemmata und Erfahrungen aus der Praxis. Maurer, Nadja, Annabelle Möhnle und Nils Zurawksi (Hrsg.). Bielefeld: Transcript, pp.231-247.
- Leifeld, Philip und Karin Ingold (2016). Co-authorship networks in Swiss political research. Swiss Political Science Review 22(2): 264-287.
- Teele, Dawn und Kathleen Thelen (2017). Gender in the journals: publication patterns in political science. Political Science & Politics50(2): 433-447.
- Wu, Xiaoyun, Julie Grieco, Sean Wire, Alese Wooditch und Jordan Nicols (2018). Trends in police research: a cross-sectional analysis of the 2010-2014 literature. Police Practice and Research 19(6): 609-616.
Der Artikel wurde von Sarah Bütikofer und Remo Parisi bearbeitet.
Bild: Midjourney / Hagmann 2023 (KI-generiertes Bild)