Frau Zollinger, wo liegt das Potenzial der SP?

Bei den letz­ten Wah­len vor vier Jah­ren gehör­te die SP zu den Ver­lie­re­rin­nen, wäh­rend ihre lin­ke Kon­kur­renz, die Grü­ne Par­tei, stark zule­gen konn­te. Delia Zol­lin­ger hat gemein­sam mit ande­ren For­schen­den die SP Schweiz unter­sucht. Sie erklärt, wie es um die gröss­te lin­ke Par­tei im Land steht und wagt eine Prognose.

Gemäss den aktu­el­len Umfra­gen wird die SP bei den Wah­len gewin­nen, wäh­rend die Grü­nen ver­lie­ren. 2019 war es gera­de umge­kehrt, wie kann die­ser Wan­del erklärt werden?

Delia Zol­lin­ger: Die SP und die Grü­nen posi­tio­nie­ren sich zu vie­len ver­tei­lungs- und gesell­schafts­po­li­ti­schen The­men nahe­zu deckungs­gleich. Den bei­den Par­tei­en wird aber von der Wäh­ler­schaft in unter­schied­li­chen Berei­chen eine hohe Kom­pe­tenz zuge­spro­chen. Wäh­rend die Grü­nen sich dem­nach klar als Kli­ma- und Umwelt­par­tei pro­fi­lie­ren kön­nen, wird die SP in der Sozi­al- und Migra­ti­ons­po­li­tik als beson­ders kom­pe­tent erach­tet. Die aktu­el­le The­men­kon­junk­tur begüns­tigt inner­halb des lin­ken Lagers eher die SP. 2019 domi­nier­te der Kli­ma­wan­del die poli­ti­sche Agen­da und die Sor­gen der Wähler:innen. 2023 sind es nun eher auch The­men­be­rei­che, die mit der SP und weni­ger mit den Grü­nen asso­zi­iert wer­den, etwa Migra­ti­on oder stei­gen­de Krankenkassenprämien.

Ver­schie­bun­gen inner­halb des rot-grü­nen Lagers sind nicht über­ra­schend, wenn man sich anschaut, wie stark die soge­nann­ten „Wäh­ler­po­ten­zia­le“ der SP und der Grü­nen über­lap­pen. Vie­le SP-Wähler:innen kön­nen sich sehr gut vor­stel­len, auch mal die Grü­nen zu wäh­len und umge­kehrt. Gemäss Umfra­gen waren es 2019 über 70 Pro­zent der jewei­li­gen Par­tei­wäh­ler­schaf­ten, für die auch die ande­re Par­tei in Fra­ge kam.

Von wem wird die SP vor­wie­gend gewählt? Wie unter­schei­det sich die Wäh­ler­schaft zwi­schen der SP und den Grünen?

Die Wäh­ler­schaft der SP gehört heu­te vor­ran­gig der gut qua­li­fi­zier­ten Mit­tel­schicht an und sie ist städ­tisch geprägt. Ins­be­son­de­re Leu­te in hoch­qua­li­fi­zier­ten Dienst­leis­tungs­be­ru­fen (etwa Sozialarbeiter:innen, Lehrer:innen oder Pfle­ge­fach­kräf­te) sind in der SP-Wäh­ler­schaft über­ver­tre­ten. Mit Blick auf die­se Merk­ma­le glei­chen sich die Wäh­ler­schaf­ten der Grü­nen und der SP. Das SP-Elek­to­rat ist zudem älter als die Stimm­be­völ­ke­rung im Durch­schnitt. Die Wäh­ler­schaft der Grü­nen ist bis­her im Ver­gleich jün­ger, weib­li­cher und noch etwas hochgebildeter.

Wel­chen Ein­fluss hat die Pola­ri­sie­rung des Par­tei­en­sys­tems der Schweiz auf den Erfolg der SP (auch im inter­na­tio­na­len Vergleich)?

Die SP Schweiz konn­te unter ande­rem des­we­gen ihre Wäh­ler­an­tei­le über die letz­ten Jahr­zehn­te bes­ser hal­ten als ande­re sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en in Euro­pa, weil sie sich früh und dezi­diert pro­gres­siv zu neu auf­kom­men­den gesell­schaft­li­chen Kon­flik­ten posi­tio­niert hat. Es sind genau die­se Arten gesell­schaft­li­cher Kon­flik­te, zum Bei­spiel um Migra­ti­on oder Gleich­stel­lung, die der Pola­ri­sie­rung des Schwei­zer Par­tei­en­sys­tems zugrun­de liegen.

Die kla­re Posi­tio­nie­rung am Gegen­pol zur SVP hat es der SP erlaubt, eine wach­sen­de höher­ge­bil­de­te Mit­tel­schicht anzu­spre­chen, wäh­rend ihre tra­di­tio­nel­le Wäh­ler­schaft in der indus­tri­el­len Arbei­ter­schaft aus struk­tu­rel­len Grün­den schwand. Die­se neue Mit­tel­schicht holt sie mit ver­tei­lungs- und gesell­schafts­po­li­tisch lin­ken Posi­tio­nen ab. Sie teilt sich heu­te mit den Grü­nen ein Wäh­ler­seg­ment, das in man­chen ande­ren Län­dern grü­ne Par­tei­en allei­ne beset­zen konnten.

Sind die Grü­nen eher eine gute Part­ne­rin der SP oder eher Konkurrenz?

Im Wahl­kampf rückt in den Vor­der­grund, dass die bei­den Par­tei­en um ähn­li­che Wäh­ler­seg­men­te kon­kur­rie­ren. Kon­kur­renz besteht in die­sem Zusam­men­hang auch bezüg­lich der Bun­des­rat­sam­bi­tio­nen der Grü­nen. Aber mit Blick auf die wahr­ge­nom­me­ne The­men­kom­pe­tenz ergän­zen sich die bei­den Par­tei­en. Die SP und die Grü­nen poli­ti­sie­ren zum Bei­spiel gemein­sam in Sachen Kli­ma­wan­del oder Migra­ti­on. Als rot-grü­nes Lager wer­den sie hier von ihrer Ziel­wäh­ler­schaft als enga­giert und kom­pe­tent wahrgenommen. 


Delia Zol­lin­ger

Delia Zol­lin­ger ist Post­dok­to­ran­din am Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Zürich. Im Novem­ber 2022 erschien das Buch „Wäh­ler­schaft und Per­spek­ti­ven der Sozi­al­de­mo­kra­tie in der Schweiz“ , an dem sie mit­ge­wirkt hat.

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