Direkte Demokratie in der Schweiz im 21. Jahrhundert

Die Schwei­zer Abstim­mungs­for­schung hat zahl­rei­che, erhel­len­de Stu­di­en her­vor­ge­bracht. Aber nach wie vor sind eini­ge zen­tra­le Fra­gen zum Abstim­mungs­ver­hal­ten unge­klärt. Im DDS-21-Pro­jekt wer­den eini­ge die­ser Fra­gen mit­hil­fe neu­er Daten und Unter­su­chungs­de­signs ange­gan­gen. In die­sem Arti­kel stel­len wir die vier Working Packa­ges des Pro­jekts kurz vor und prä­sen­tie­ren gleich­zei­tig zwei aus­ge­wähl­te empi­ri­sche Aus­wer­tun­gen aus der ers­ten Nachbefragung.

Wenn Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer im Aus­land auf ihr poli­ti­sches Sys­tem ange­spro­chen wer­den, dann meist auf die direk­te Demo­kra­tie. Sie ist auch jenes Ele­ment des poli­ti­schen Sys­tems, auf wel­ches die Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer in Umfra­gen regel­mäs­sig am stol­zes­ten sind. Abstim­mun­gen haben in der Schweiz über­dies eine lan­ge Tra­di­ti­on. Der Grün­dung des moder­nen Bun­des­staa­tes ging 1848 eine Volks­ab­stim­mung vor­aus. Umso erstaun­li­cher ist es, dass sich die empi­ri­sche Abstim­mungs­for­schung in der Schweiz ziem­lich spät ent­wi­ckelt hat. Erst in den 1970er Jah­ren wur­den die ers­ten Aggre­gat­da­ten­ana­ly­sen durch­ge­führt, also Ana­ly­sen auf der Grund­la­ge von Gemein­de- oder Kan­tons­er­geb­nis­sen. Vie­le inter­es­sie­ren­de Fra­ge­stel­lun­gen las­sen sich mit Aggre­gat­da­ten indes­sen nicht beant­wor­ten. Bei­spiels­wei­se geht aus Aggre­gat­da­ten nichts zu den Moti­ven des Stimm­ent­scheids der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger her­vor. Hier­zu bedarf es viel­mehr Indi­vi­du­al­da­ten, die — mit weni­gen Aus­nah­men — not­wen­di­ger­wei­se aus Bevöl­ke­rungs­be­fra­gun­gen stammen.

Was Befra­gungs­da­ten anbe­langt, so haben die seit 1977 kon­ti­nu­ier­lich durch­ge­führ­ten Vox-Stu­di­en Pio­nier­ar­beit geleis­tet. Eine Zäsur in der Geschich­te der Abstim­mungs­for­schung bil­de­te dabei 1992 die “Jahr­hun­dert­ab­stim­mung” über den EWR-Bei­tritt. Das knap­pe Nein an der Urne über­rasch­te vie­le in Poli­tik und Wirt­schaft und trieb sie an, (wei­te­re) Gel­der für die Abstim­mungs­for­schung zu spre­chen. Wäh­rend noch in den fünf­zi­ger Jah­ren galt, dass “Vox Popu­li” “Vox Dei” sei (und des­halb auch nicht hin­ter­fragt wer­den soll), so inter­es­sier­te man sich nun für die Stimm­mo­ti­ve und dafür, wel­che Merk­mals­grup­pen wie abstimm­ten. Aus den Vox-Daten resul­tier­ten auch zahl­rei­che Stu­di­en und Ana­ly­sen. Jüngst sind wei­te­re Nach­be­fra­gun­gen hin­zu­ge­kom­men, die eine Dis­kus­si­on über die Deu­tung von Abstim­mungs­re­sul­ta­ten befeu­ert haben.

Die­se Nach­be­fra­gun­gen haben indes­sen das pri­mä­re Ziel, Daten für die Ein­ord­nung der Resul­ta­te durch Poli­tik und Jour­na­lis­mus zu pro­du­zie­ren. Für die aka­de­mi­sche Grund­la­gen­for­schung ste­hen jedoch noch wei­te­re bzw. ande­re Fra­gen im Zen­trum. Bei­spiels­wei­se die Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung oder die Dyna­mik der Mei­nungs­bil­dung. Hier­zu sind wei­ter­ge­hen­de Fra­ge­bat­te­rien bzw. ande­re Daten­struk­tu­ren oder Unter­su­chungs­de­signs nötig. Um auch die­se Fra­gen zu beleuch­ten, ist das vom Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds finan­zier­ten For­schungs­pro­jekt Direk­te Demo­kra­tie in der Schweiz im 21. Jahr­hun­dert (DDS-21), an dem alle acht poli­tik­wis­sen­schaft­li­chen Insti­tu­ten an Schwei­zer Uni­ver­si­tä­ten sowie das Liech­ten­stein-Insti­tut betei­ligt ist, ins Leben geru­fen wor­den. Mit die­sem Pro­jekt sol­len in ers­ter Linie vier Aspek­te der Mei­nungs­bil­dung genau­er erforscht werden.

Effekt der politischen Werbung auf die Meinungsbildung

Die Fra­ge, ob Geld Abstim­mun­gen kau­fen kann, ist zwar schon viel­fach unter­sucht wor­den. Doch meist ver­blei­ben die­se Ana­ly­sen – in Erman­ge­lung von ent­spre­chen­den Indi­vi­du­al­da­ten – auf der Aggre­gat­ebe­ne. Wie poli­ti­sche Wer­bung auf die ein­zel­ne Stimm­bür­ge­rin wirkt, bleibt in sol­chen Stu­di­en meist unklar. Wird Wer­bung über­haupt wahr­ge­nom­men und wenn ja, wo – in Zei­tun­gen, auf der Stras­se, in Online-Medi­en? Wel­che Inhal­te der Wer­bung wer­den wahr­ge­nom­men? Wie wer­den die­se Inhal­te, wenn sie wahr­ge­nom­men wer­den, mit bestehen­den poli­ti­schen Prä­dis­po­si­tio­nen ver­knüpft? Die­se und wei­te­re Fra­gen sol­len mit dem Pro­jekt beant­wor­tet werden.

Digitale Medien im Abstimmungskampf

Die Medi­en­welt und damit ver­knüpft das Infor­ma­ti­ons­ver­hal­ten haben sich in jün­ge­rer Ver­gan­gen­heit geän­dert. In einer zuneh­mend digi­ta­len Welt infor­mie­ren sich Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger auch immer häu­fi­ger über digi­ta­le Quel­len. Die bis­he­ri­gen Unter­su­chun­gen zum Abstim­mungs­ver­hal­ten gin­gen sel­ten ein­mal über ein paar weni­ge Nut­zungs­wer­te von digi­ta­len Medi­en hin­aus. Aber wie sich die rasch ändern­de Infor­ma­ti­ons­um­ge­bung auf die Mei­nungs­bil­dung bei Sach­ab­stim­mun­gen im Spe­zi­el­len aus­wirkt, ist kaum erforscht. Wie fin­den sich die Indi­vi­du­en im digi­ta­len Infor­ma­ti­ons­dschun­gel zurecht? Wel­che Bot­schaf­ten wer­den ihnen zuge­spielt und wel­che der unzäh­li­gen Inter­net­quel­len suchen sie aus? Wie wer­den die­se Infor­ma­tio­nen bewer­tet? Wer­den sie auf Ver­läss­lich­keit und Glaub­wür­dig­keit überprüft?

Wie wirken sich Grundwerte auf die Stimmentscheidung aus?

Indi­vi­du­el­le poli­ti­sche Ent­schei­de wer­den oft­mals auf der Basis gewis­ser gene­rel­ler poli­ti­scher Wer­te­vor­stel­lun­gen gefällt, wie bei­spiels­wei­se der Zustim­mung zu staat­li­cher Umver­tei­lung. Die­ser Kon­nex ist gut erforscht. Aber neue­re For­schung hat gezeigt, dass Ent­schei­de zu kon­kre­ten poli­ti­schen Mass­nah­men von noch fun­da­men­ta­le­ren Über­zeu­gun­gen, die mit Poli­tik nicht direkt zu tun haben, beein­flusst wer­den. Bei­spiels­wei­se von Vor­stel­lun­gen davon, was (sozia­le) Gerech­tig­keit bedeu­tet, wie die «natür­li­che» oder «idea­le» Gesell­schafts­form aus­zu­se­hen hat, ja gar vom Men­schen­bild an sich, d.h. die Vor­stel­lung davon, was den Men­schen antreibt und wie sei­ne Natur grund­le­gend beschaf­fen ist. Die Bedeu­tung sol­cher grund­le­gen­den, abs­trak­ten Vor­stel­lun­gen für den Ent­scheid zu kon­kre­ten Mass­nah­men ist im Kon­text Schwei­zer Sach­ab­stim­mung bis­her kaum erforscht.

Information und Entscheid

Infor­ma­tio­nen bil­den das Fun­da­ment poli­ti­scher Ent­schei­de. Die Fra­ge nach der Infor­miert­heit der Stim­men­den ist dem­nach auch bei­na­he gleich alt wie die Abstim­mungs­de­mo­kra­tie selbst. Erstaun­li­cher­wei­se wur­de die Vor­la­gen­kom­pe­tenz bei Abstim­mun­gen bis­lang nur rudi­men­tär und meist indi­rekt erho­ben. Etwa mit der Fra­ge, ob man sich erin­nert, über wel­che Vor­la­gen am ver­gan­ge­nen Abstim­mungs­wo­chen­en­de befun­den wur­de oder wel­ches die Moti­ve für den Ent­scheid waren. Nach dem Inhalt der Vor­la­ge wur­de teil­wei­se auch gefragt. Aber all die­se Fra­gen ver­mit­teln einen sehr lücken­haf­ten (und teil­wei­se trü­ge­ri­schen) Ein­druck vom Fak­ten­wis­sen der Stim­men­den. Das hat auch damit zu tun, dass zunächst schwer­fällt, zu defi­nie­ren, was Vor­la­gen­kom­pe­tenz genau ist und sodann über wel­ches Wis­sen man ver­fü­gen muss, um einen infor­mier­ten Ent­scheid zu fäl­len. Des­halb soll im Rah­men von DDS-21 auch eine Neu­kon­zep­tio­na­li­sie­rung der Vor­la­gen­kom­pe­tenz ange­strebt wer­den, die wie­der­um die Ent­wick­lung neu­er Mess­in­stru­men­te für vor­la­gen­spe­zi­fi­sches Wis­sen ermöglicht.

Erste Befunde aus der Befragung

Eine Ana­ly­se des Effekts poli­ti­scher Wer­bung auf die Ent­schei­dungs­fin­dung setzt Daten zur (indi­vi­du­el­len) Wahr­neh­mung die­ser Wer­bung vor­aus. Der Umstand, ob man Abstim­mungs­pla­ka­te bzw. poli­ti­sche Wer­bung im Gene­rel­len wahr­nimmt, wur­de im Kon­text Schwei­zer Abstim­mun­gen kaum oder bloss in der vagen «Nut­zungs­form» erho­ben. Im Rah­men des DDS21-Pro­jekts wird den Respon­den­ten der Online-Befra­gung häu­fig ver­wen­de­te poli­ti­sche Wer­bung (Pro und Kon­tra) vor­ge­legt, wor­auf sie ange­ben kön­nen, ob sie die ent­spre­chen­de poli­ti­sche Wer­bung schon ein­mal (bewusst) gese­hen haben, und wenn ja, wo. Die ers­te Aus­wer­tung die­ser Fra­ge zeigt, dass Pla­ka­te zum «Kli­ma- und Inno­va­ti­ons­ge­setz» tat­säch­lich viel eher wahr­ge­nom­men wur­den als sol­che zur OECD/­G20-Min­dest­be­steue­rung. Dies deckt sich mit der Inse­ra­ten­ana­ly­se von Année Poli­tique Suis­se (APS), die eine signi­fi­kant höhe­re Anzahl Pla­ka­te zum Kli­ma­ge­setz als zur Min­dest­be­steue­rung aus­weist. Inter­es­sant ist, dass Pro- und Kon­tra- Pla­ka­te zum Kli­ma­ge­setz etwa gleich oft wahr­ge­nom­men wur­den, wäh­rend die ent­spre­chen­den Pro-Inse­ra­te in der gedruck­ten Pres­se domi­nier­ten. Grund dafür könn­te sein, dass die SVP poli­ti­sche Wer­bung eher nicht in den Print­me­di­en geschal­tet hat.1 Wei­ter zeigt die­se ers­te deskrip­ti­ve Aus­wer­tung der Wahr­neh­mung poli­ti­scher Wer­bung, dass die­se eher im nicht-vir­tu­el­len Raum kon­su­miert wird. Frei­lich gibt eine Min­der­heit an, poli­ti­sche Wer­bung im Inter­net bzw. auf sozia­len Netz­werk­sei­ten gese­hen zu haben.

Wei­ter wird im Rah­men des DDS21-Pro­jekts auch nach der Nut­zung spe­zi­fi­scher sozia­ler Medi­en zu poli­ti­schen Infor­ma­ti­ons­zwe­cken gefragt. Die Aus­wer­tung die­ser Fra­ge zeigt, dass sozia­le Medi­en immer noch eine mar­gi­na­le Rol­le beim Ent­scheid spie­len. Ins­be­son­de­re die älte­ren Stimm­be­rech­tig­ten – und sie machen auf­grund ihres Stimm­fleis­ses den Löwen­an­teil des Stimm­kör­pers aus – infor­mie­ren sich kaum je über Twit­ter, Face­book, Insta­gram oder You­tube. Nicht so die Jun­gen: Vor allem Insta­gram wird auch zu poli­ti­schen Infor­ma­ti­ons­zwe­cken rege genutzt – ein Befund, der auch von neu­lich erschie­nen Jugend­par­ti­zi­pa­ti­ons­stu­di­en bestä­tigt wird.2


1 https://swissvotes.ch/attachments/44d1ee3c6365cadf3a9956fdd3fb26d74dcc0e2d3f5cc7f3c5ecec091fcf46a0

2 https://s3.eu-central‑1.amazonaws.com/ext-linst-c5-web-liechtenstein-institut.li-2019/9916/9220/9413/LIB_52_2023_final.pdf und https://www.zdaarau.ch/dokumente/Studienbericht_JugendCitoyennete%CC%81_zda.pdf

Bild: flickr.com

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