Frau Rennwald, ist die SVP die Partei der Arbeiterschaft?

Die SVP – zuvor die Milieu­par­tei von Bau­ern­stand und Gewerb­lern – wur­de über die letz­ten Jahr­zehn­te zur mit Abstand stärks­ten Kraft im Land. Auf der ande­ren Sei­te gilt die SP, aus der Arbei­ter­be­we­gung ent­stan­den, längst als Par­tei des urba­nen Mit­tel­stands. Frau Renn­wald, kön­nen Sie uns das erklären?

Wählt die Arbei­ter­schaft heu­te die SVP?

Line Renn­wald: In ers­ter Linie kön­nen wir fest­hal­ten, dass die Wahl­teil­nah­me von Arbeiter:innen und der weni­ger gut gestell­ten sozia­len Schich­ten, zu denen auch Arbeitnehmer:innen im Dienst­leis­tungs­sek­tor gehö­ren, tief ist. Arbeitnehmer:innen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund sind zudem häu­fig auf­grund der restrik­ti­ven Bedin­gun­gen für die Ein­bür­ge­rung in der Schweiz gar nicht wahlberechtigt.

Tie­fe­re sozia­le Schich­ten wäh­len aber, wenn sie an Wah­len teil­neh­men, als ers­te Par­tei die SVP. Danach fol­gen die SP und die Mit­te. Dies ist umso mehr der Fall, wenn die­se Per­so­nen männ­lich sind, aus­ser­halb der Gross­städ­te woh­nen, nicht Mit­glied einer Gewerk­schaft sind und in den his­to­risch pro­tes­tan­ti­schen Kan­to­nen der Deutsch­schweiz woh­nen. Es ist an die­ser Stel­le fest­zu­stel­len, dass die SP in gewerk­schaft­lich orga­ni­sier­ten Milieus und in bestimm­ten städ­ti­schen Gebie­ten nach wie vor stark ist.

Gibt es einen Zusam­men­hang zwi­schen sozia­ler Klas­se und Wahlentscheidung?

Die Zuge­hö­rig­keit zu einer sozia­len Klas­se wird mit ver­schie­de­nen Varia­blen gemes­sen, die mit ihrem Beruf, ihrem Beschäf­ti­gungs­sta­tus, d.h. ob selbst­stän­dig oder ange­stellt und ihren Qua­li­fi­ka­tio­nen zusam­men­hän­gen. Und ja, das hat einen Ein­fluss auf die Wahl­ent­schei­dung. Sowohl die Posi­tio­nie­rung auf der hier­ar­chi­schen Ebe­ne (mehr oder weni­ger pri­vi­le­gier­te sozia­le Klas­se) und Unter­schie­de auf der hori­zon­ta­len Ebe­ne, die mit den Berufs­wel­ten zusam­men­hän­gen, müs­sen dabei aber berück­sich­tigt wer­den. Tra­di­tio­nell haben höhe­re sozia­le Klas­sen eher rechts posi­tio­nier­te Par­tei­en gewählt und tie­fe­re sozia­le Klas­sen eher links posi­tio­nier­te Par­tei­en. Obwohl die­se Unter­schei­dung nicht völ­lig ver­schwun­den ist, trägt die Fähig­keit der extre­men Rech­ten, in tie­fe­ren sozia­len Schich­ten über­all in Euro­pa Stim­men zu gewin­nen, stark zu ihrer Ver­än­de­rung bei.

Wol­len die Par­tei­en wirk­lich die gesam­te Bevöl­ke­rung anspre­chen oder nur ihre Zielgruppe?

Im Wahl­kampf besteht die wich­tigs­te Auf­ga­be der Par­tei­en dar­in, ihre eige­ne Basis zu mobi­li­sie­ren, also die Men­schen, die den Ideen und Wer­ten der jewei­li­gen Par­tei sehr nahe ste­hen. Danach folgt der Anspruch, die eige­ne Wäh­ler­schaft zu ver­grös­sern. Dies gilt ins­be­son­de­re in einem Pro­porz­wahl­sys­tem, wie in der Schweiz, wo die Mobi­li­sie­rung der eige­nen Basis einer Par­tei rela­tiv schnell Sit­ze sichern kann. Eine erfolg­rei­che Wahl­kampf­bot­schaft besteht jedoch dar­in, auf ein Pro­blem auf­merk­sam zu machen, von dem ein sehr gros­ser Teil der Bevöl­ke­rung betrof­fen ist oder dass die von der Par­tei vor­ge­schla­ge­nen Lösun­gen einer sehr gros­sen Mehr­heit der Bevöl­ke­rung zugu­te­kom­men wer­den. Nur so spricht eine Par­tei mög­lichst vie­le Men­schen an und mobi­li­siert gleich­zei­tig ihre Basis.


Line Renn­wald
Dr. Line Renn­wald ist Seni­or Rese­ar­cher am Schwei­ze­ri­schen Kom­pe­tenz­zen­trum für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten (FORS) und Lehr­be­auf­trag­te am Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Lau­sanne. Sie ist Mit­glied der Schwei­zer Wahl­stu­die (Selects), die am FORS durch­ge­führt wird. Ihre For­schung ist an der Schnitt­stel­le vom poli­ti­schen Ver­hal­ten und ver­glei­chen­der poli­ti­scher Öko­no­mie ange­sie­delt, mit Fokus auf Klas­sen­un­gleich­heit, die poli­ti­sche Reprä­sen­ta­ti­on der Arbei­ter­klas­se und Schwei­zer Poli­tik. Ihr jüngs­tes Buch Social Demo­cra­tic Par­ties and the Working Class erschien 2020 bei Pal­gra­ve Macmillan.

Bild: pexels.com

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