Herr Stojanovic, sollten wir besser per Los entscheiden statt Wahlen durchzuführen?

Bald wird gewählt, doch an den Wah­len nimmt jeweils weni­ger als die Hälf­te der Bevöl­ke­rung teil. Das Par­la­ment setzt sich folg­lich aus den Per­so­nen zusam­men, die von denen gewählt wur­den, die über­haupt an den Wah­len teil­nah­men. Nen­ad Sto­ja­no­vić zeigt auf, wel­che Alter­na­ti­ven es zur klas­si­schen Wahl gäbe. 

Herr Sto­ja­no­vić, Sie haben sich inten­siv mit ande­ren For­men der Bür­ger­ver­tre­tung beschäf­tigt. Gäbe es ande­re Mög­lich­kei­ten, die Mei­nung der Bevöl­ke­rung in den poli­ti­schen Pro­zess ein­flies­sen zu las­sen als über Wah­len, so wie wir sie kennen?

Nen­ad Sto­ja­no­vić: Die Reprä­sen­ta­ti­on soll­te sich nicht auf Wah­len beschrän­ken. Ich den­ke dabei vor allem an Bürger:innenräte, die in ver­schie­de­nen Län­dern immer häu­fi­ger zum Ein­satz kom­men, wenn auch haupt­säch­lich noch auf expe­ri­men­tel­ler Basis. Bürger:innenräte sind eine beson­de­re Form der poli­ti­schen Betei­li­gung, die auf dem Kon­zept der deli­be­ra­ti­ven Demo­kra­tie beruht. Die Mit­glie­der wer­den per Los zufäl­lig aus allen Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­nern aus­ge­wählt. Die Teil­neh­men­den infor­mie­ren sich über ein poli­ti­sches The­ma, tau­schen sich aus und dis­ku­tie­ren gemein­sam über mög­li­che Lösun­gen. Es geht in den Bürger:innenräten auch dar­um, Pro- und Kon­tra-Posi­tio­nen sorg­fäl­tig zu prü­fen und alle Argu­men­te abzu­wä­gen, bevor man zu einer gemein­sa­men Ent­schei­dung oder Emp­feh­lung kommt.

Wel­che Vor- und Nach­tei­le bringt ein deli­be­ra­ti­ver Ansatz mit sich?

Die Mit­glie­der von Bürger:innenräten haben in der Regel kei­ne vor­ge­fer­tig­ten Mei­nun­gen. Oft, wenn auch nicht immer, wer­den Ent­schei­dun­gen durch Kon­sens getrof­fen. Par­la­ments­mit­glie­der ändern ihre Mei­nung nur sel­ten auf­grund von Argu­men­ten ande­rer Par­tei­en. Zudem fol­gen Par­la­ments­mit­glie­der oft der Par­tei­mei­nung oder auch Vor­ga­ben von Orga­ni­sa­tio­nen oder Ver­bän­den, denen sie ange­hö­ren. Zufäl­lig aus­ge­wähl­te Mit­glie­der von Bürger:innenräten sind frei­er, weil kei­ne Ver­pflich­tun­gen gegen­über einer Lob­by bestehen. Die Orga­ni­sa­ti­on von Bürger:innenräten kann jedoch auch eini­ge Nach­tei­le mit sich brin­gen. Wenn Bürger:innenräte ledig­lich auf Initia­ti­ve der bestehen­den Behör­den orga­ni­siert wer­den, besteht die Gefahr, dass das Instru­ment zu einer Ali­bi­übung wird. Das ist bei­spiels­wei­se in Frank­reich mit der Con­ven­ti­on citoy­enne pour le cli­mat, die von Prä­si­dent Emma­nu­el Macron ins Leben geru­fen wur­de, um die Pro­tes­te der Gilets Jau­nes zu beschwich­ti­gen, passiert. 

Man kann aber auch sagen, dass eine Aus­lo­sung kei­ne demo­kra­ti­sche Metho­de ist, denn sie beruht auf dem Zufalls­prin­zip und nicht auf einer Wil­lens­äus­se­rung. Was ent­geg­nen Sie darauf?

Das ist nicht der Fall. Bei Wah­len soll­te das Prin­zip “one man — one vote” zur Anwen­dung kom­men. Der Grund­ge­dan­ke dahin­ter ist der, dass die Regie­ren­den eine Legi­ti­ma­ti­on von unten haben soll­ten. Theo­re­tisch han­delt es sich also um eine Metho­de, die auf dem Gedan­ken der Gleich­heit beruht. In der Rea­li­tät bringt der Wahl­pro­zess aber eine gan­ze Rei­he von Ungleich­hei­ten mit sich: Ausländer:innen und Min­der­jäh­ri­ge haben kein Wahl­recht, die Ärme­ren neh­men viel sel­te­ner an Wah­len teil als die Bes­ser­ge­stell­ten, Kan­di­die­ren­de mit mehr finan­zi­el­len Mit­teln oder einem ein­hei­mi­schen Nach­na­men haben bes­se­re Chan­cen, gewählt zu wer­den. Par­la­men­te sind daher nicht reprä­sen­ta­tiv zusammengesetzt.

Soll­ten wir also, statt Wah­len durch­füh­ren, per Los ent­schei­den, wer uns ver­tre­ten soll?

Das Los­zie­hen soll­te kei­ne Wah­len erset­zen, das for­dert kaum jemand. Doch bei­de Instru­men­te haben ihre Daseins­be­rech­ti­gung, denn bei­de sind demo­kra­tisch, wenn auch unter­schied­lich demo­kra­tisch. Idea­ler­wei­se soll­te eine Aus­lo­sung als eine zuneh­mend not­wen­di­ge Ergän­zung zu Wah­len und Volks­ab­stim­mun­gen betrach­tet wer­den. Gleich­zei­tig bin ich der Mei­nung, dass wir uns nicht auf den rein ad-hoc und expe­ri­men­tel­len Ein­satz von Bürger:innenräten beschrän­ken soll­ten. Mit­tel- und lang­fris­tig soll­ten wir über ihre Insti­tu­tio­na­li­sie­rung nach­den­ken, damit Bürger:innenräte zu einem stän­di­gen Gre­mi­um inner­halb des demo­kra­ti­schen Sys­tems wer­den. Ver­schie­de­ne Insti­tu­tio­na­li­sie­rungs­mo­del­le sind denk­bar — in der Schweiz wur­de erst vor weni­gen Tagen die Idee lan­ciert, neben Natio­nal- und Stän­de­rat eine drit­te Kam­mer zu schaf­fen, deren Mit­glie­der aus­ge­lost wer­den. Das Nach­den­ken über sol­che Inno­va­tio­nen hat also soeben begonnen. 

Nen­ad Stojanović
Nen­ad Sto­ja­no­vić ist Pro­fes­sor für Poli­tik­wis­sen­schaf­ten an der Uni­ver­si­tät Genf und asso­zi­ier­ter For­scher beim Zen­trum für Demo­kra­tie Aar­au. Zu sei­nen Schwer­punk­ten gehö­ren die poli­ti­sche Theo­rie, ver­glei­chen­de Poli­tik­wis­sen­schaft, das poli­ti­sche Sys­tem der Schweiz, sprach­li­che Min­der­hei­ten, mehr­spra­chi­ge Kan­to­ne und die direk­te Demokratie.

Bild: flickr.com

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