Der Blick in die «Maschinerie» der Parlamente

Treffen sich zwei Gemeindeparlamentarier aus Riehen (BS) und Samnaun (GR) zu einem Kaffee. Nach einer angeregten Diskussion entschuldigt sich der Riehener, er müsse nun in die Parlamentssitzung. «Heute wird über meinen Anzug abgestimmt.» Verdutzt runzelt der Bündner die Stirn. Der Riehener lacht und meint: «Das ist unser Begriff für einen parlamentarischen Vorstoss.» – «Das ist ja spannend. Meinen Anzug für die morgige Gemeindeversammlung muss ich erst aus der Reinigung holen.» Nun stutzt der Riehener. «Aber ich dachte, du bist in Samnaun im Gemeindeparlament?» Nun lacht der Bündner. «Ja, das bin ich auch, aber wir in Samnaun haben eben beides – Parlament und Gemeindeversammlung.»

Vielfältige Parlamentslandschaft

Dieses fiktive Gespräch zweier Parlamentarier zeigt die Vielfalt und Breite der schweizerischen Schweizer «Parlamentslandschaft», was angesichts der vorhandenen 485 Parlamente (davon 458 kommunal) – wenig überraschend ist. Die Vielfalt zeigt sich sowohl in Bezug auf Organisation und Prozesse, im Umfang der Funktionen und Kompetenzen als auch in den Begrifflichkeiten, die bei Weitem nicht nur auf die Mehrsprachigkeit der Schweiz zurückzuführen sind. Dennoch suchte man bis anhin vergeblich nach einer diesbezüglichen umfassenden Zusammenstellung über die Legislativen in der Schweiz. Es ist höchste Zeit, sich mit den Legislativen auf allen drei Staatsebenen der Schweiz grundsätzlich und spezifisch auseinanderzusetzen. Dies ist das Ziel des neuen Buches «Das schweizerische Parlamentslexikon»: Es stellt einen Beitrag zur Parlamentsforschung dar, indem es unter anderem das Mittel der vergleichenden Analyse anwendet, um Prozesse vertikal oder horizontal zu vergleichen. Gleichzeitig ist es aber auch ein Hilfsmittel für Politiker, Personen aus der Verwaltung oder den Parlamentsdiensten, Journalisten sowie weitere Interessierte, die sich gezielt über einen Begriff oder Prozess oder über das Zusammenspiel der Parlamente mit anderen Organen (z. B. das Nebeneinander von Gemeindeversammlung, Gemeindeparlament und Urnenabstimmung) informieren möchten.

Auseinandersetzung mit den kommunalen Parlamenten

Das erste Kapitel gibt einen Überblick über die 458 kommunalen Legislativen aller Kantone, beginnend allerdings bei den Kantonen ohne kommunale Parlamente (weil es keine gesetzliche Grundlage gibt oder aufgrund von spezifischen lokalen Bedingungen). Zuerst werden jeweils relevante, interessante oder im Vergleich zu anderen Kantonen besondere Bestimmungen der kantonalen Rechtsgrundlagen beleuchtet, gefolgt von einer Zusammenfassung der Gemeinden, kategorisiert nach Einwohnerzahl und dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Parlaments. Die bestehenden Parlamente werden mit der Einwohnerzahl der Gemeinde, der Bezeichnung der Legislative, dem Gründungsjahr, der Anzahl der Sitze sowie Besonderheiten aufgeführt. Gegebenenfalls wird aufgezeigt, wo über die Neu- oder Wiedereinführung von Parlamenten diskutiert wurde oder wird und welche Argumente dafür und dagegen aufgeführt werden. Entscheide der jüngeren Vergangenheit werden dargestellt. Schliesslich wird auch beleuchtet, wo und aus welchen Gründen Parlamente wieder abgeschafft wurden.

Das Kapitel schliesst mit einer systematischen Übersicht über die kommunalen Legislativen mit grafischen Darstellungen zu verschiedenen Aspekten, z. B. zur Entwicklung der Anzahl kommunaler Parlamente oder zur Verteilung der Parlamentsgrössen: So hat ein Gemeindeparlament in der Deutschschweiz im Median 40 Sitze, in der lateinischen Schweiz 35; in beiden Sprachregionen hat das kleinste Parlament 9 Sitze (Russin, Samnaun), das grösste 100 (Lausanne und 5 weitere) bzw. 125 (Zürich).

Jenseits von Motion, Postulat und Interpellation: die parlamentarischen Begriffe

Im Hauptteil des Buches werden ca. 600 Begriffe (inkl. Querverweise) definiert – die Oberbegriffe in Deutsch, Französisch und Italienisch. Über die Anzahl war ich selbst erstaunt, obwohl ich im Verlauf der Arbeit an diesem Lexikon auch ca. 150 Begriffe wieder gestrichen habe. Grafische Darstellungen wurden auch hier genutzt, um Prozesse zu veranschaulichen oder Vergleiche anzustellen und Auswertungen vorzunehmen. Viele Begriffe lassen sich dabei den klassischen Parlamentsfunktionen zuordnen, wie sie in der Parlamentsforschung identifiziert werden.

Im Deutschen Bundestag gibt es eine Debatte über die Beratung der Novelle des Gebäudeenergiegesetzes: Das Bundesverfassungsgericht hat einem Eilantrag stattgegeben und die geplante abschliessende Beratung des Gesetzes vor der Sommerpause gestoppt. In ihrer Eilentscheidung wogen die Richterinnen und Richter das Recht der Parlamentsmehrheit, ihre Verfahren zu bestimmen, gegen das Recht der Abgeordneten, an der Willensbildung beteiligt zu sein, ab. [1]

In der Schweiz wird dieser Prozess als Lesung bezeichnet. Dabei geht es um zwei Aspekte: (1) die Frage, ob und unter welchen Bedingungen der ersten Beratung eine zweite oder gar dritte folgt und (2) die Vorgaben, in welchem zeitlichen Abstand – bei mehreren Lesungen – diese zu erfolgen haben. Im Buch werden sehr unterschiedliche parlamentarische Modelle kommunaler oder kantonaler Parlamente vorgestellt. Der Blick nach Deutschland zeigt, dass die Frage nach der Organisation der Beratung einen Kernprozess des Parlamentarismus darstellt und dass sich die Auseinandersetzung damit und der Vergleich verschiedener Modelle lohnt.

In der Auseinandersetzung mit den parlamentarischen Begriffen zeigen sich Fragen, Themen und Herausforderungen – z. B. digitale Formen der parlamentarischen Arbeit, Fragen der innerparlamentarischen Organisation wie Kommissionen und Stellvertretungen, Evaluation der Gesetzgebung, legislative Notverordnungskompetenz, Einbindung der Parlamente in ausserordentliche Lage, aber auch die Partizipation der Bevölkerung an der Arbeit der Politik (bzw. des Parlaments) –, die aktuell sind und bleiben werden. Das letzte Kapitel dient als Fazit und Anstoss zur weiteren Auseinandersetzung mit diesen Fragen.

Umfangreiche Quellen, Daten

Für das Buch wurden rund 10 000 Dokumente ausgewertet und 580 Personen um Auskunft gebeten. Mein Dank gilt allen, die mich bei der Suche nach Dokumenten oder bei der Zusammenstellung und Auswertung von Daten unterstützt haben. Studien zum Parlamentarismus und zur politischen Organisation wurden natürlich berücksichtigt, aber auch einige Masterarbeiten, die eine spezifische parlamentarische Fragestellung oftmals in der Tiefe untersuchten und einen Mehrwert darstellen, beispielsweise Arbeiten zum Kommissionssystem.

Das Buch umfasst mehr als 500 Seiten. Einerseits mögen manche Leser einige Begriffe als zu ausführlich behandelt beurteilen, andererseits gibt es zweifelsfrei auch Lücken. Eine Lücke betrifft die Entschädigung von Parlamentarierinnen und Parlamentariern. Eine Systematisierung über alle Parlamente hinweg erwies sich als sehr anspruchsvoll, weil sich eine Entschädigung je nach Parlament sehr unterschiedlich zusammensetzt und nicht zuletzt von der konkreten Anzahl an Sitzungstagen der einzelnen Parlamentarier abhängig ist. Letztlich wurde im Buch auf wenige Parlamente bei der Entschädigung hingewiesen. Diese und andere Lücken können in der Zweitauflage geschlossen werden …


Referenz: Michael Strebel (2023). Das schweizerische Parlamentslexikon. Basel: Helbing Lichtenhahn Verlag. ISBN 978-3-7190-4607-1

[1] Vgl. die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: 2 BvE 4/23 und die Stellungnahme des Deutschen Bundestages auf den Entscheid: Eilantrag gegen Gebäudeenergiegesetz erfolgreich (beide Quellen zuletzt abgerufen: 21.08.23).

Bild: flickr.com

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KategorienSchweizer Politik, Vergleichende PolitikThemen
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