Landsgemeindedemokratie jenseits von Stolz und Vorurteil

Oft prä­gen Zerr­bil­der die Wahr­neh­mung der Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie. Bei einer nüch­ter­nen Betrach­tung zei­gen sich sowohl Stär­ken als auch Schwä­chen die­ser fas­zi­nie­ren­den Demokratieform.

An den Lands­ge­mein­den in Appen­zell und Gla­rus kom­men jeden Früh­ling tau­sen­de Stimm­be­rech­tig­te zusam­men, um über die Geschi­cke ihres Kan­tons zu ent­schei­den. Es sind die wohl gröss­ten Bürger:innenversammlungen welt­weit, und sie gehö­ren zum Fas­zi­nie­rends­ten, was die Demo­kra­tie zu bie­ten hat.

Doch oft mischt sich die Fas­zi­na­ti­on mit Mythen und Vor­ur­tei­len. Wäh­rend eini­ge die Lands­ge­mein­de als idea­le Form der Demo­kra­tie über­hö­hen, ver­ach­ten ande­re sie als schein­de­mo­kra­ti­sche Ver­an­stal­tung von Ewig­gest­ri­gen. Neue­re Stu­di­en erlau­ben eine nüch­ter­ne­re Betrachtung.

Wer herrscht?

Die Volks­rech­te rei­chen in den Lands­ge­mein­de­kan­to­nen ein­zig­ar­tig weit. Nir­gends hat das Stimm­volk so vie­le Wahl­kom­pe­ten­zen wie in Inner­rho­den, nir­gends wer­den ihm der­art vie­le Sach­ge­schäf­te vor­ge­legt wie in Gla­rus. Für eine Volks­in­itia­ti­ve genügt in bei­den Kan­to­nen ein:e einzige:r Stimmberechtigte:r, und in Gla­rus kann jede:r Ein­zel­ne an der Lands­ge­mein­de auch noch Ände­run­gen zu jeder Vor­la­ge zur Abstim­mung bringen.

Am Ende aber folgt die Lands­ge­mein­de­mehr­heit meist doch den Behör­den. Seit über 20 Jah­ren wur­de in Gla­rus nur eine Initia­ti­ve gegen den Wil­len des Par­la­ments unver­än­dert ange­nom­men. Ins­ge­samt seg­net die Lands­ge­mein­de gut 90 Pro­zent aller Vor­la­gen im Sinn des Par­la­ments ab, 7 Pro­zent kom­men in ver­än­der­ter Form durch, bei weni­ger als 2 Pro­zent der Vor­la­gen läuft das Par­la­ment ganz auf (Schaub i.E.).

Die Vor­stel­lung also, mit der Lands­ge­mein­de wer­de eine pure Volks­herr­schaft ver­wirk­licht, ist ein Mythos. Auch in Gla­rus sind es die Behör­den, die die Geset­ze prä­gen. Die Stimm­bür­ger­schaft nimmt nur – aber immer­hin – punk­tu­ell Jus­tie­run­gen vor und zieht in Aus­nah­me­fäl­len die Not­brem­se. Ihre gröss­te Wir­kung ent­fal­tet die Lands­ge­mein­de inso­fern nicht im Ring, son­dern im Rat­haus: Sie zwingt die Behör­den dazu, sich schon bei der Aus­ge­stal­tung der Vor­la­gen zu über­le­gen, was vor dem Stimm­volk Bestand haben könnte.

Wer bestimmt die Meinungsbildung?

Ein gewal­ti­ger demo­kra­ti­scher Vor­teil der Lands­ge­mein­de liegt dar­in, dass sie nicht erst bei der Abstim­mung, son­dern schon bei der vor­gän­gi­gen Mei­nungs­bil­dung allen eine glei­che Mit­spra­che ermög­licht: Der Abstim­mungs­kampf mün­det hier in eine Debat­te vor Ort, bei der jede:r das Wort ergrei­fen kann und von allen Abstim­men­den gehört wird. Weder Geld noch Bezie­hun­gen sind dafür nötig.

Beson­ders in Gla­rus wird die­ses Rede­recht sehr inten­siv genutzt. Auch hier gibt es vor­gän­gi­ge Abstim­mungs­kämp­fe, doch die Voten im Ring haben Gewicht: Laut einer Umfra­ge zu zwei umstrit­te­nen Glar­ner Vor­la­gen bil­de­te sich jede:r drit­te Abstim­men­de erst wäh­rend der Debat­te ihre:seine Mei­nung, und mehr als jede:r zehn­te stiess ihre:seine vor­he­ri­ge Stimm­ab­sicht noch um. Sogar mehr als die Hälf­te der Befrag­ten ver­nahm in den Reden noch neue Argu­men­te, und zwar jeweils sowohl für die Pro- als auch für die Kon­tra-Sei­te (Ger­ber et al. 2016).

Aller­dings: Ob das Rede­recht effek­tiv für alle gleich zugäng­lich ist, erscheint zumin­dest mit Bezug auf das Geschlecht frag­lich. Denn sowohl in Gla­rus als auch in Appen­zell kommt bis heu­te nicht ein­mal jede fünf­te Lands­ge­mein­de­re­de von einer Frau (Ger­ber et al. 2019; Schaub i.E.). Rea­li­täts­fern ist sodann die Vor­stel­lung, dass das Rede­recht nur «ein­fa­chen» Bürger:innen zugu­te­kom­me. Zumin­dest in Gla­rus tre­ten die meis­ten Redner:innen als Vertreter:innen von Par­tei­en, Orga­ni­sa­tio­nen oder Behör­den auf (Schaub 2016).

Wer stimmt ab?

Die Stimm­ab­ga­be ist an der Lands­ge­mein­de nur zu einer fixen Zeit und an einem fixen Ort mög­lich. Zusam­men mit der mehr­stün­di­gen Ver­samm­lungs­dau­er führt dies dazu, dass die Stimm­be­tei­li­gung an den Lands­ge­mein­den nied­rig aus­fällt – viel nied­ri­ger als bei ver­gleich­ba­ren Urnen­ab­stim­mun­gen: In Inner­rho­den erreicht sie gegen 30 Pro­zent, in Gla­rus im Schnitt wohl nur 10 Pro­zent (Schaub/Leuzinger 2018).

Pro­ble­ma­ti­scher als die nied­ri­ge Betei­li­gung wäre jedoch eine sozio­öko­no­misch unglei­che Par­ti­zi­pa­ti­on, weil dann eine Ver­zer­rung der Mehr­heits­ver­hält­nis­se droh­te. Dies­be­züg­lich ist das Bild gemischt: Einer­seits sind gemäss Umfra­gen (Ger­ber et al. 2016; Rochat/Kübler 2021) an der Glar­ner Lands­ge­mein­de Zuge­zo­ge­ne, Nichtakademiker:innen und unter den Älte­ren auch Frau­en unter­ver­tre­ten. Hin­ge­gen schei­nen Wenig- wie Vielverdiener:innen, Jun­ge wie Alte, Lin­ke wie Rech­te glei­cher­mas­sen teil­zu­neh­men – was bemer­kens­wert ist, zumal Geringverdiener:innen und Jun­ge bei Urnen­ab­stim­mun­gen noto­risch unter­ver­tre­ten sind. Posi­tiv wirkt sich hier mög­li­cher­wei­se aus, dass ein Lands­ge­mein­de­be­such auch mit einem sozia­len Ereig­nis ver­bun­den ist: Man stimmt nicht nur ab, son­dern trifft auch Bekann­te, geht danach gemein­sam essen und trin­ken oder besucht den Jahrmarkt.

Wie viel sozialer Druck besteht?

Als schwer­wie­gends­ten Nach­teil der Lands­ge­mein­de sehen vie­le, dass nicht geheim, son­dern mit Hand­er­he­ben abge­stimmt wird. Es ist unbe­strit­ten, dass man­che sich des­we­gen beim Abstim­men unfrei füh­len und ande­re pro­phy­lak­tisch zu Hau­se blei­ben. Wie hoch ihr Anteil ist, ist jedoch kaum ver­läss­lich zu eruieren.

Mit tech­ni­schen Mit­teln lies­se sich eine gehei­me Stimm­ab­ga­be in der Ver­samm­lung grund­sätz­lich rea­li­sie­ren. Man­che sehen in der offe­nen Stimm­ab­ga­be indes­sen auch Vor­tei­le. So emp­fan­den laut einer Umfra­ge die meis­ten, die schon von Mitbürger:innen auf ihr Stimm­ver­hal­ten ange­spro­chen wur­den, das fol­gen­de Gespräch posi­tiv (Muel­ler et al. 2021). In grund­sätz­li­che­rer Hin­sicht lässt sich argu­men­tie­ren, die öffent­li­che Stimm­ab­ga­be sei nichts als ange­bracht bei Ent­schei­den über öffent­li­che Ange­le­gen­hei­ten – und eine all­fäl­li­ge Recht­fer­ti­gung nicht zu viel ver­langt von Bürger:innen, die über das Schick­sal ande­rer mit­ent­schei­den. An sei­ne Gren­zen stösst die­ses Argu­ment indes­sen dort, wo star­ke sozia­le oder öko­no­mi­sche Abhän­gig­keits­ver­hält­nis­se bestehen.

Welches ist die Mehrheit?

Das Ver­blüf­fends­te für vie­le Aus­sen­ste­hen­de kommt aber erst am Schluss des Abstim­mungs­pro­ze­de­res: Der Land­am­mann oder die Frau Land­am­mann, zugleich Regierungsvorsitzende:r, bestimmt die Stim­men­mehr­heit durch opti­sche Schät­zung. In Appen­zell kann er:sie aus­zäh­len las­sen, tut dies aus Zeit­grün­den aber nur in wirk­lich unkla­ren Fäl­len. Wie sich dabei zeig­te, ist die Mehr­heit erst ab etwa 60 zu 40 Pro­zent stets klar erkenn­bar (Helg 2007). In Gla­rus, wo die Ver­fas­sung eine Aus­zäh­lung aus­schliesst, wird also mög­li­cher­wei­se bis­wei­len ein Stim­men­an­teil von 40 Pro­zent zur Mehr­heit erklärt.

Zwar deu­tet nichts dar­auf hin, dass die Land­am­män­ner ihre Schätz­kom­pe­tenz miss­brau­chen wür­den. Bei knap­pem Aus­gang wird im Schnitt etwa jedes zwei­te Mal die Behör­den­sei­te zur Mehr­heit erklärt (Schaub i.E.) – eine Quo­te wie bei einem Münz­wurf. Den­noch ertö­nen nach knap­pen Ent­schei­den regel­mäs­sig Stim­men, die die Unbe­fan­gen­heit der Schät­zung in Fra­ge stel­len. In Gla­rus und Inner­rho­den sties­sen die­se bis­her nie auf Wider­hall, doch in Appen­zell Aus­ser­rho­den hat eine sol­che Dis­kus­si­on zur Abschaf­fung der Lands­ge­mein­de bei­getra­gen (Schaub 2016). Gera­de für Landsgemeindeanhänger:innen erschie­ne es des­halb als Gebot der Klug­heit, die Mehr­heit nicht län­ger durch den Land­am­mann – als Regierungsvorsitzende:r und Parteipolitiker:in poli­tisch maxi­mal expo­niert –, son­dern durch ein unver­däch­ti­ge­res Gre­mi­um von gewähl­ten Stimmenschätzer:innen oder durch tech­ni­sche Hilfs­mit­tel ermit­teln zu lassen.

Nicht alle Nach­tei­le der Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie wären durch so ein­fa­che Refor­men zu behe­ben. Sie gegen die Vor­tei­le abzu­wä­gen, ist Sache der Glarner:innen und Appenzeller:innen. Wert­voll sind die Lands­ge­mein­den aber auch für alle ande­ren: Als fas­zi­nie­ren­der Kon­trast­punkt zum Urnen­mo­dell hel­fen sie, umge­kehrt auch über des­sen Stär­ken, Schwä­chen und Reform­po­ten­zia­le nachzudenken.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist eine aus­ge­bau­te Fas­sung eines Arti­kels, der am 4. Mai 2023 als Gast­bei­trag in der Neu­en Zür­cher Zei­tung erschie­nen ist.

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Bild: flickr.com

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