Bundesratswahlen: Warum Liebe und Nette bessere Wahlchancen haben

Auf der Basis von Selbst­ein­schät­zun­gen der Kan­di­die­ren­den wur­de der Ein­fluss von Per­sön­lich­keits­pro­fi­len auf die Wahl­chan­cen in den Bun­des­rat unter­sucht. Das Resul­tat: Ver­träg­li­che sind im Vor­teil, Reiz­fi­gu­ren fal­len durch.

Wer hat die bes­se­ren Wahl­chan­cen für den frei­en Sitz in der Lan­des­re­gie­rung: ein «gmö­gi­ger» Kan­di­dat wie Albert Rös­ti oder eine pola­ri­sie­ren­de Figur? Anders gefragt: Wel­che Rol­le spielt die Per­sön­lich­keit bei der Wahl in die Lan­des­re­gie­rung? Im Gegen­satz zum angel­säch­si­schen Raum ist die Per­sön­lich­keits­ana­ly­se der Mäch­ti­gen hier­zu­lan­de kaum ein The­ma, obwohl sie für ein umfas­sen­des Ver­ständ­nis poli­ti­scher Regie­rungs­ent­schei­de unent­behr­lich ist. Wir gin­gen die­ser Fra­ge für die Schweiz auf den Grund und unter­such­ten, wie sich erfolg­rei­che Kan­di­die­ren­de für den Bun­des­rat cha­rak­ter­lich von nicht erfolg­rei­chen Kan­di­die­ren­den unterscheiden.

Unse­re neue Stu­die ging erst­mal der Fra­ge nach, wel­che Cha­rak­ter­merk­ma­le der Bewer­ben­den bei der par­tei­in­ter­nen Nomi­na­ti­on ent­schei­dend sind – und wel­che bei einer erfolg­rei­chen Wahl durch die Ver­ei­nig­te Bun­des­ver­samm­lung den Aus­schlag geben. Die Ana­ly­se stützt sich auf einem ein­zig­ar­ti­gen Daten­satz, der das cha­rak­ter­li­che Pro­fil aller 101 Kan­di­die­ren­den ver­misst, die zwi­schen 1982 und 2020 ins Ren­nen um einen Sitz in der Lan­des­re­gie­rung gestie­gen sind. Als Kan­di­die­ren­de wur­den dabei alle Per­so­nen betrach­tet, die im ers­ten Wahl­gang min­des­tens zehn Stim­men auf sich ver­ei­ni­gen konnten.

Die Erfas­sung der Per­sön­lich­keits­merk­ma­le fusst dabei auf der so genann­ten «Fünf-Fak­to­ren-Theo­rie», einem in der Psy­cho­lo­gie gän­gi­gen Ansatz. Auf der Basis einer Selbst­ein­schät­zung gaben die Kan­di­die­ren­den Aus­kunft über ihre eige­nen Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten. Die­je­ni­gen, die unter­des­sen ver­star­ben oder nicht mit­mach­ten, wur­den durch unab­hän­gi­ge Fach­leu­te ein­ge­schätzt. Zusätz­lich wur­de stich­pro­ben­ar­tig auch die Selbst­ein­schät­zun­gen der Kan­di­die­ren­den durch Exper­ten­ein­schät­zun­gen über­prüft. Nament­lich muss­ten die Kan­di­die­ren­den zu den fünf mensch­li­chen Grund­ei­gen­schaf­ten Aus­kunft geben (sog. «Big Five», sie­he Tabelle):

Tabelle: Persönlichkeitseigenschaften der Big Five und ihre Messung
Per­sön­lich­keits­ei­gen­schaftMes­sung Big Five Inven­to­ry (Kurz­ver­si­on BFI‑S) Ich bin jemand, der… 
Offen­heit für Erfahrungen… ori­gi­nell ist, neue Ideen ein­bringt. … künst­le­ri­sche Erfah­run­gen schätzt. … eine leb­haf­te Phan­ta­sie, Vor­stel­lun­gen hat. 
Emo­tio­na­le Belastbarkeit… ent­spannt ist, mit Stress umge­hen kann. … sich sel­ten Sor­gen macht. … sel­ten ner­vös wird. 
Extra­ver­si­on… aus sich her­aus­ge­hen kann, gesel­lig ist. … nicht zurück­hal­tend ist. … kom­mu­ni­ka­tiv, gesprä­chig ist. 
Gewis­sen­haf­tig­keit… gründ­lich arbei­tet. … Auf­ga­ben wirk­sam und effi­zi­ent erle­digt. … sel­ten faul ist. 
Ver­träg­lich­keit… fast nie grob zu ande­ren ist. … ver­zei­hen kann. … rück­sichts­voll und freund­lich mit ande­ren umgeht. 

Zusätz­lich wur­de auch der Ein­fluss zahl­rei­cher wei­te­rer, bei Bun­des­rats­wah­len tra­di­tio­nell hoch gewich­te­ten Fak­to­ren wie das Alter, das Geschlecht, die Spra­che, die Regi­on sowie der beruf­li­che bzw. poli­ti­sche Wer­de­gang untersucht.

Schweizer Sonderfall — gilt das auch für die Charakteristiken der Regierungsmitglieder?

Stu­di­en aus dem Aus­land zei­gen, dass Spit­zen­po­li­ti­ker extra­ver­tier­ter sind als die All­ge­mein­heit. Bei den ande­ren Per­sön­lich­keits­merk­ma­len wie Offen­heit, Ver­träg­lich­keit, Neu­ro­ti­zis­mus und Gewis­sen­haf­tig­keit sind die Ergeb­nis­se hin­ge­gen weni­ger eindeutig.

Inwie­weit fin­den sich in der Schweiz die­sel­ben Zusam­men­hän­ge? Sind hier­zu­lan­de ande­re Tugen­den gefragt? Das schwei­ze­ri­sche Kon­kor­danz­sys­tem erfor­dert von einem Exe­ku­tiv­mit­glied nicht in ers­ter Linie einen star­ken Durch­set­zungs­wil­len, einen über­zeu­gen­den öffent­li­chen Auf­tritt und ein gros­ses Selbst­be­wusst­sein, son­dern viel­mehr Koope­ra­ti­ons­be­reit­schaft, Über­zeu­gungs­kraft und vor allem Teamfähigkeit.

Der Bun­des­rat ist ein Kol­le­gi­um mit sie­ben gleich­be­rech­tig­ten Mit­glie­dern, die sich unter­ein­an­der eini­gen müs­sen. Kei­ner darf dem ande­ren eine Anwei­sung ertei­len. Inner­halb der Regie­rung ist des­halb das Prin­zip der Kol­le­gia­li­tät wesent­lich. Die Bun­des­rats­mit­glie­der tref­fen ihre Ent­schei­dun­gen gemein­sam; als gleich­be­rech­tig­te Part­ner auf Augen­hö­he. Sie stam­men zudem aus vier ver­schie­de­nen Par­tei­en, die ein brei­tes ideo­lo­gi­sches Spek­trum von links bis rechts abde­cken. Dies stellt zusätz­li­che Ansprü­che an das gegen­sei­ti­ge Ver­ständ­nis. Dar­über hin­aus erwar­tet die Öffent­lich­keit von den hie­si­gen Regie­rungs­mit­glie­dern, dass sie die Mei­nung des Gre­mi­ums selbst dann ver­tre­ten, wenn sie per­sön­lich nicht damit ein­ver­stan­den sind. Die­se beson­de­re Situa­ti­on ver­langt von den ein­zel­nen Bun­des­rats­mit­glie­dern also vor allem Team­spi­rit, Kom­pro­miss­be­reit­schaft und Empa­thie. Eigen­wil­li­ge Solo­läu­fe pas­sen nicht in die­ses System.

Verträgliche werden häufiger nominiert

Offen­bar sind sich die Mit­glie­der des Wahl­kör­pers, also die Mit­glie­der von Natio­nal- und Stän­de­rat, die­ser beson­de­ren Aus­gangs­la­ge bewusst. Unse­re Aus­wer­tun­gen zei­gen, dass Per­so­nen, die gegen­über Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen einen kon­fron­ta­ti­ven Poli­tik­stil pfle­gen, bereits bei der Nomi­na­ti­on durch die eige­ne Par­tei einen schwe­ren Stand haben. Wer hin­ge­gen als koope­ra­tiv, ver­trau­ens­voll und kon­zi­li­ant gilt, dem gelingt der Sprung auf das offi­zi­el­le Par­tei­en­ti­cket signi­fi­kant häufiger.

Ein Ver­gleich der Per­sön­lich­keits­merk­ma­le für alle Kan­di­die­ren­den, offi­zi­ell Nomi­nier­ten und gewähl­ten Bun­des­rats­mit­glie­der seit 1982 zeigt wei­ter, dass sie sich gene­rell durch eine sehr hohe Gewis­sen­haf­tig­keit aus­zeich­nen. Zudem sind sie ins­ge­samt über­durch­schnitt­lich ver­träg­lich und offen. Am gerings­ten ist der Neu­ro­ti­zis­mus aus­ge­prägt; auch emo­tio­na­le Labi­li­tät genannt. Gestress­te, ver­schlos­se­ne und wenig pflicht­be­wuss­te Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, die ins höchs­te Amt stre­ben, sind in der Schweiz die gros­se Ausnahme.

Ver­gleicht man die drei Grup­pen (alle Kan­di­die­ren­de, Nomi­nier­te, Gewähl­te) unter­ein­an­der, wird aber deut­lich, dass beim Merk­mal Offen­heit ein Rück­gang der Vari­anz von allen Kan­di­die­ren­den zu den Nomi­nier­ten und von den Nomi­nier­ten zu den Gewähl­ten zu beob­ach­ten ist. Anders aus­ge­drückt, wer­den bei jedem Aus­wahl­schritt die ver­gleichs­wei­se «extre­men» Kan­di­die­ren­den aus­sor­tiert. Der mehr­stu­fi­ge, öffent­lich-medi­al beäug­te Nomi­na­ti­ons- und Wahl­pro­zess führt also dazu, dass die Aus­wahl an in Fra­ge kom­men­den Per­so­nen auf gut schwei­ze­ri­sches «Durch­schnitts­holz» redu­ziert wird, wie es der Bun­des­rats­his­to­ri­ker Urs Alter­matt (1991: 80) einst feststellte.

Wer hat nun aber die besten Wahlchancen?

Es ist ein­deu­tig: Am Wahl­tag erhal­ten die Lie­ben und Net­ten die meis­ten Stim­men. Ver­träg­lich­keit stei­gert nicht nur die Nominations‑, son­dern auch die Wahl­chan­cen. Vier Bei­spie­le: Im Dezem­ber 1982 wur­de der umgäng­li­che Alp­hons Egli im 1. Wahl­gang als Bun­des­rat gewählt, wäh­rend der eher distan­ziert wir­ken­de Juli­us Bin­der das Nach­se­hen hat­te. Bei der denk­wür­di­gen Frau­en­wahl von 1993 wur­de die beson­ne­ne und kon­zi­li­an­te Ruth Drei­fuss ihrer poli­ti­schen Zwil­lings­schwes­ter Chris­tia­ne Brun­ner vor­ge­zo­gen, die im bür­ger­li­chen Lager als unkon­ven­tio­nell und eigen­sin­nig galt. 2011 setz­te sich der char­man­te Alain Ber­set gegen den kämp­fe­ri­schen Pierre-Yves Mail­lard durch. Und im Dezem­ber 2015 gelang dem stets freund­li­chen Guy Par­me­lin im 3. Wahl­gang der Über­ra­schungs­coup gegen die streit­ba­re SVP-Reiz­fi­gur Tho­mas Aeschi, der als Favo­rit gehan­delt wurde.

Was sind die ande­ren Erfolgsfaktoren?
Inter­es­san­ter­wei­se wei­sen auch ande­re, im Vor­feld der Bun­des­rats­wah­len tra­di­tio­nell hoch gehan­del­te Erfolgs­fak­to­ren kein gros­ses Erklä­rungs­po­ten­zi­al auf. Ledig­lich die Anzahl Par­la­ments­sit­ze des Kan­tons, aus dem der Kan­di­die­ren­de stammt, steht noch in einem posi­ti­ven Zusam­men­hang mit den Nomi­nie­rungs­chan­cen. Je bevöl­ke­rungs­rei­cher ein Kan­ton ist, umso mehr Abge­ord­ne­ten­stim­men win­ken dem Kan­di­dat oder der Kan­di­da­tin. Ande­re Merk­ma­le wie das Alter, das Geschlecht oder der Sta­tus als lang­jäh­ri­ges Par­la­ments­mit­glied oder Par­tei­vor­sit­zen­de spie­len nur eine unter­ge­ord­ne­te Rolle.
Fazit

Wäh­rend es in einer simp­len Mehr­heits­lo­gik fol­gen­den Prä­si­di­al- bzw. Mehr­heits­de­mo­kra­tie wie den USA oder dem Ver­ei­nig­ten König­reich extra­ver­tier­te Nar­ziss­ten wie Boris John­son und Donald Trump bis in die höchs­ten Ämter schaf­fen kön­nen, erfor­dert unser Kon­kor­danz­sys­tem ein gänz­lich ande­res Charakterprofil.

In der Regie­rung sind in ers­ter Linie Team­play­er und koope­ra­ti­ve Per­sön­lich­kei­ten gefragt, wel­che den Geist der Kol­le­gia­li­tät hoch­hal­ten. Für ein rei­bungs­lo­ses Funk­tio­nie­ren ist es gera­de­zu essen­ti­ell, dass die Mit­glie­der unse­rer Lan­des­re­gie­rung fähig sind, mit ihren ideo­lo­gisch noch so weit ent­fernt posi­tio­nier­ten Amts­kol­le­gin­nen und Amts­kol­le­gen zusam­men­zu­ar­bei­ten – und die Bereit­schaft zu Kom­pro­mis­sen zeigen.

Die­se Erkennt­nis hat die Ver­ei­nig­te Bun­des­ver­samm­lung offen­sicht­lich ver­in­ner­licht. Abge­se­hen von weni­gen bekann­ten Aus­nah­men wie Chris­toph Blo­cher, der jedoch unter aus­ser­ge­wöhn­li­chen Umstän­den gewählt wur­de, kür­te sie in den letz­ten Jahr­zehn­ten beson­ders ver­träg­li­che Bun­des­rä­tin­nen und Bundesräte.

 

Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist die schrift­li­che Kurz­fas­sung des fol­gen­den wis­sen­schaft­li­chen Arti­kels: Mar­ti­na Flick Wit­zig und Adri­an Vat­ter (2022). Kin­der and Gent­ler Minis­ters in Con­sen­sus Demo­cra­ci­es? Per­so­na­li­ty and the Selec­tion of Government Mem­bers, in: Poli­tics (online­first, 12 Aug 2022). Ein ähn­li­cher Arti­kel wie der vor­lie­gen­de erschien am 16. Okto­ber 2022 in der NZZ am Sonn­tag.


Lite­ra­tur:

  • Alter­matt, Urs, 1991: Die Schwei­zer Bun­des­rä­te: Ein bio­gra­phi­sches Lexi­kon. Zurich: Arte­mis & Winkler.

 

Bild: Albert Rös­ti

 

 

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