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Bundesratswahlen: Warum Liebe und Nette bessere Wahlchancen haben

Adrian Vatter, Martina Flick Witzig
20th Oktober 2022

Auf der Basis von Selbsteinschätzungen der Kandidierenden wurde der Einfluss von Persönlichkeitsprofilen auf die Wahlchancen in den Bundesrat untersucht. Das Resultat: Verträgliche sind im Vorteil, Reizfiguren fallen durch.

Wer hat die besseren Wahlchancen für den freien Sitz in der Landesregierung: ein «gmögiger» Kandidat wie Albert Rösti oder eine polarisierende Figur? Anders gefragt: Welche Rolle spielt die Persönlichkeit bei der Wahl in die Landesregierung? Im Gegensatz zum angelsächsischen Raum ist die Persönlichkeitsanalyse der Mächtigen hierzulande kaum ein Thema, obwohl sie für ein umfassendes Verständnis politischer Regierungsentscheide unentbehrlich ist. Wir gingen dieser Frage für die Schweiz auf den Grund und untersuchten, wie sich erfolgreiche Kandidierende für den Bundesrat charakterlich von nicht erfolgreichen Kandidierenden unterscheiden.

Unsere neue Studie ging erstmal der Frage nach, welche Charaktermerkmale der Bewerbenden bei der parteiinternen Nomination entscheidend sind – und welche bei einer erfolgreichen Wahl durch die Vereinigte Bundesversammlung den Ausschlag geben. Die Analyse stützt sich auf einem einzigartigen Datensatz, der das charakterliche Profil aller 101 Kandidierenden vermisst, die zwischen 1982 und 2020 ins Rennen um einen Sitz in der Landesregierung gestiegen sind. Als Kandidierende wurden dabei alle Personen betrachtet, die im ersten Wahlgang mindestens zehn Stimmen auf sich vereinigen konnten.

Die Erfassung der Persönlichkeitsmerkmale fusst dabei auf der so genannten «Fünf-Faktoren-Theorie», einem in der Psychologie gängigen Ansatz. Auf der Basis einer Selbsteinschätzung gaben die Kandidierenden Auskunft über ihre eigenen Charaktereigenschaften. Diejenigen, die unterdessen verstarben oder nicht mitmachten, wurden durch unabhängige Fachleute eingeschätzt. Zusätzlich wurde stichprobenartig auch die Selbsteinschätzungen der Kandidierenden durch Experteneinschätzungen überprüft. Namentlich mussten die Kandidierenden zu den fünf menschlichen Grundeigenschaften Auskunft geben (sog. «Big Five», siehe Tabelle):

Tabelle: Persönlichkeitseigenschaften der Big Five und ihre Messung
Persönlichkeitseigenschaft Messung Big Five Inventory (Kurzversion BFI-S) Ich bin jemand, der…  
Offenheit für Erfahrungen … originell ist, neue Ideen einbringt. … künstlerische Erfahrungen schätzt. … eine lebhafte Phantasie, Vorstellungen hat.  
Emotionale Belastbarkeit … entspannt ist, mit Stress umgehen kann. … sich selten Sorgen macht. … selten nervös wird.  
Extraversion … aus sich herausgehen kann, gesellig ist. … nicht zurückhaltend ist. … kommunikativ, gesprächig ist.  
Gewissenhaftigkeit … gründlich arbeitet. … Aufgaben wirksam und effizient erledigt. … selten faul ist.  
Verträglichkeit … fast nie grob zu anderen ist. … verzeihen kann. … rücksichtsvoll und freundlich mit anderen umgeht.  

Zusätzlich wurde auch der Einfluss zahlreicher weiterer, bei Bundesratswahlen traditionell hoch gewichteten Faktoren wie das Alter, das Geschlecht, die Sprache, die Region sowie der berufliche bzw. politische Werdegang untersucht.

Schweizer Sonderfall - gilt das auch für die Charakteristiken der Regierungsmitglieder?

Studien aus dem Ausland zeigen, dass Spitzenpolitiker extravertierter sind als die Allgemeinheit. Bei den anderen Persönlichkeitsmerkmalen wie Offenheit, Verträglichkeit, Neurotizismus und Gewissenhaftigkeit sind die Ergebnisse hingegen weniger eindeutig.

Inwieweit finden sich in der Schweiz dieselben Zusammenhänge? Sind hierzulande andere Tugenden gefragt? Das schweizerische Konkordanzsystem erfordert von einem Exekutivmitglied nicht in erster Linie einen starken Durchsetzungswillen, einen überzeugenden öffentlichen Auftritt und ein grosses Selbstbewusstsein, sondern vielmehr Kooperationsbereitschaft, Überzeugungskraft und vor allem Teamfähigkeit.

Der Bundesrat ist ein Kollegium mit sieben gleichberechtigten Mitgliedern, die sich untereinander einigen müssen. Keiner darf dem anderen eine Anweisung erteilen. Innerhalb der Regierung ist deshalb das Prinzip der Kollegialität wesentlich. Die Bundesratsmitglieder treffen ihre Entscheidungen gemeinsam; als gleichberechtigte Partner auf Augenhöhe. Sie stammen zudem aus vier verschiedenen Parteien, die ein breites ideologisches Spektrum von links bis rechts abdecken. Dies stellt zusätzliche Ansprüche an das gegenseitige Verständnis. Darüber hinaus erwartet die Öffentlichkeit von den hiesigen Regierungsmitgliedern, dass sie die Meinung des Gremiums selbst dann vertreten, wenn sie persönlich nicht damit einverstanden sind. Diese besondere Situation verlangt von den einzelnen Bundesratsmitgliedern also vor allem Teamspirit, Kompromissbereitschaft und Empathie. Eigenwillige Sololäufe passen nicht in dieses System.

Verträgliche werden häufiger nominiert

Offenbar sind sich die Mitglieder des Wahlkörpers, also die Mitglieder von National- und Ständerat, dieser besonderen Ausgangslage bewusst. Unsere Auswertungen zeigen, dass Personen, die gegenüber Kolleginnen und Kollegen einen konfrontativen Politikstil pflegen, bereits bei der Nomination durch die eigene Partei einen schweren Stand haben. Wer hingegen als kooperativ, vertrauensvoll und konziliant gilt, dem gelingt der Sprung auf das offizielle Parteienticket signifikant häufiger.

Ein Vergleich der Persönlichkeitsmerkmale für alle Kandidierenden, offiziell Nominierten und gewählten Bundesratsmitglieder seit 1982 zeigt weiter, dass sie sich generell durch eine sehr hohe Gewissenhaftigkeit auszeichnen. Zudem sind sie insgesamt überdurchschnittlich verträglich und offen. Am geringsten ist der Neurotizismus ausgeprägt; auch emotionale Labilität genannt. Gestresste, verschlossene und wenig pflichtbewusste Politikerinnen und Politiker, die ins höchste Amt streben, sind in der Schweiz die grosse Ausnahme.

Vergleicht man die drei Gruppen (alle Kandidierende, Nominierte, Gewählte) untereinander, wird aber deutlich, dass beim Merkmal Offenheit ein Rückgang der Varianz von allen Kandidierenden zu den Nominierten und von den Nominierten zu den Gewählten zu beobachten ist. Anders ausgedrückt, werden bei jedem Auswahlschritt die vergleichsweise «extremen» Kandidierenden aussortiert. Der mehrstufige, öffentlich-medial beäugte Nominations- und Wahlprozess führt also dazu, dass die Auswahl an in Frage kommenden Personen auf gut schweizerisches «Durchschnittsholz» reduziert wird, wie es der Bundesratshistoriker Urs Altermatt (1991: 80) einst feststellte.

Wer hat nun aber die besten Wahlchancen?

Es ist eindeutig: Am Wahltag erhalten die Lieben und Netten die meisten Stimmen. Verträglichkeit steigert nicht nur die Nominations-, sondern auch die Wahlchancen. Vier Beispiele: Im Dezember 1982 wurde der umgängliche Alphons Egli im 1. Wahlgang als Bundesrat gewählt, während der eher distanziert wirkende Julius Binder das Nachsehen hatte. Bei der denkwürdigen Frauenwahl von 1993 wurde die besonnene und konziliante Ruth Dreifuss ihrer politischen Zwillingsschwester Christiane Brunner vorgezogen, die im bürgerlichen Lager als unkonventionell und eigensinnig galt. 2011 setzte sich der charmante Alain Berset gegen den kämpferischen Pierre-Yves Maillard durch. Und im Dezember 2015 gelang dem stets freundlichen Guy Parmelin im 3. Wahlgang der Überraschungscoup gegen die streitbare SVP-Reizfigur Thomas Aeschi, der als Favorit gehandelt wurde.

Was sind die anderen Erfolgsfaktoren?
Interessanterweise weisen auch andere, im Vorfeld der Bundesratswahlen traditionell hoch gehandelte Erfolgsfaktoren kein grosses Erklärungspotenzial auf. Lediglich die Anzahl Parlamentssitze des Kantons, aus dem der Kandidierende stammt, steht noch in einem positiven Zusammenhang mit den Nominierungschancen. Je bevölkerungsreicher ein Kanton ist, umso mehr Abgeordnetenstimmen winken dem Kandidat oder der Kandidatin. Andere Merkmale wie das Alter, das Geschlecht oder der Status als langjähriges Parlamentsmitglied oder Parteivorsitzende spielen nur eine untergeordnete Rolle.

Fazit

Während es in einer simplen Mehrheitslogik folgenden Präsidial- bzw. Mehrheitsdemokratie wie den USA oder dem Vereinigten Königreich extravertierte Narzissten wie Boris Johnson und Donald Trump bis in die höchsten Ämter schaffen können, erfordert unser Konkordanzsystem ein gänzlich anderes Charakterprofil.

In der Regierung sind in erster Linie Teamplayer und kooperative Persönlichkeiten gefragt, welche den Geist der Kollegialität hochhalten. Für ein reibungsloses Funktionieren ist es geradezu essentiell, dass die Mitglieder unserer Landesregierung fähig sind, mit ihren ideologisch noch so weit entfernt positionierten Amtskolleginnen und Amtskollegen zusammenzuarbeiten – und die Bereitschaft zu Kompromissen zeigen.

Diese Erkenntnis hat die Vereinigte Bundesversammlung offensichtlich verinnerlicht. Abgesehen von wenigen bekannten Ausnahmen wie Christoph Blocher, der jedoch unter aussergewöhnlichen Umständen gewählt wurde, kürte sie in den letzten Jahrzehnten besonders verträgliche Bundesrätinnen und Bundesräte.

 

Hinweis: Dieser Beitrag ist die schriftliche Kurzfassung des folgenden wissenschaftlichen Artikels: Martina Flick Witzig und Adrian Vatter (2022). Kinder and Gentler Ministers in Consensus Democracies? Personality and the Selection of Government Members, in: Politics (onlinefirst, 12 Aug 2022). Ein ähnlicher Artikel wie der vorliegende erschien am 16. Oktober 2022 in der NZZ am Sonntag.


Literatur:

  • Altermatt, Urs, 1991: Die Schweizer Bundesräte: Ein biographisches Lexikon. Zurich: Artemis & Winkler.

 

Bild: Albert Rösti