Demokratische Herausforderungen: Der Mythos der Partizipation

Fal­sche Erwar­tun­gen scha­den demo­kra­ti­schen Erneue­rungs­pro­zes­sen auf der gan­zen Welt. Dies wird durch drei Trug­schlüs­se ver­deut­licht: die Zuschrei­bung einer mora­li­schen und/oder epis­te­mi­schen Über­le­gen­heit an das “Volk”; die Annah­me, dass die Bür­ger­be­tei­li­gung der Reprä­sen­ta­ti­on über­le­gen ist und daher als erwünsch­ter Ersatz für die­se fun­giert; und die Annah­me, dass das Legi­ti­mi­täts­de­fi­zit durch eine stär­ke­re Betei­li­gung fast auto­ma­tisch beho­ben wird. Die­se Trug­schlüs­se wur­den sowohl von einer phi­lo­so­phi­schen Tra­di­ti­on genährt, die ihre Wur­zeln bei Rous­se­au (die freie und glei­che Ver­samm­lung als idea­les demo­kra­ti­sches Modell) als auch bei Han­na Pit­kin (Reprä­sen­ta­ti­on als ver­füg­ba­re Opti­on, um die Demo­kra­tie in die Tat umzu­set­zen, weil die direk­te Betei­li­gung nicht umsetz­bar ist; mit ande­ren Wor­ten: Reprä­sen­ta­ti­on als “second best”) hat.

In letz­ter Zeit hat die soge­nann­te Kri­se der Demo­kra­tie neu­en Stim­men Raum gege­ben, die den Ursprung aller Pro­ble­me in den reprä­sen­ta­ti­ven Insti­tu­tio­nen aus­ma­chen. Das Haupt­mo­tiv ist die Ableh­nung der poli­ti­schen Par­tei­en, die als Maschi­nen wahr­ge­nom­men wer­den, die im Stre­ben nach Macht und Macht­er­halt ihre Wahl­stra­te­gien über die Suche nach dem Gemein­wohl stel­len. Dabei ver­säu­men sie es, die bes­ten Lösun­gen für die Pro­ble­me zu fin­den, die in ihrem Umfeld auf­tre­ten. Es ist klar, dass die Par­tei­en eine gute Ver­ant­wor­tung für die­se Wahr­neh­mung tra­gen, jedoch bedeu­tet die Annah­me die­ser Ver­ant­wor­tung nicht, dass man die oben genann­ten Feh­ler bestätigt.

Ers­tens: Die Tat­sa­che, dass Par­tei­en nicht gut funk­tio­nie­ren, führt nicht dazu, eine epis­te­mi­sche Über­le­gen­heit des Vol­kes zu iden­ti­fi­zie­ren. Es gibt kei­nen Grund, den par­tei­lo­sen Anfüh­re­rin­nen und Anfüh­rern oder deren sozia­len Bewe­gun­gen zuzu­schrei­ben, dass sie “das Volk sind”, dass sie als Spre­cher des all­ge­mei­nen Wil­lens han­deln und so die Klein­lich­keit zuguns­ten des Gan­zen über­win­den. Der Grund dafür ist, dass das Volk kei­ne Entel­echie ist, son­dern eine viel­fäl­ti­ge Grup­pe mit wider­strei­ten­den Agen­den, und dass die­je­ni­gen, die als sei­ne Ver­tre­ter agie­ren, ihre Kon­di­tio­nie­rungs­fak­to­ren (eth­ni­sche Zuge­hö­rig­keit, Geschlecht, Klas­se usw.) nicht abschüt­teln kön­nen. Das ist kei­nes­wegs ein Pro­blem, son­dern eine gute Sache, denn eine stär­ker beschrei­ben­de Reprä­sen­ta­ti­on legt die Grund­la­ge für mehr Inklusion.

Zwei­tens sind die Mecha­nis­men, mit denen Par­ti­zi­pa­ti­on und Reprä­sen­ta­ti­on umge­setzt wer­den, unter­schied­lich und ste­hen nicht im Wider­spruch zuein­an­der, son­dern befruch­ten sich gegen­sei­tig. Par­ti­zi­pa­ti­on bezieht sich auf eine Viel­zahl von For­ma­ten, die jedoch kei­nes­falls die Ver­mitt­lung aus­schlie­ßen. Wahl­re­geln mit ihren Vali­die­rungs­schwel­len und Anfor­de­run­gen an die Ent­schei­dungs­fin­dung, die Merk­ma­le von Füh­rungs­per­sön­lich­kei­ten und sogar die Rei­hen­fol­ge der Wort­mel­dun­gen, um nur eini­ge Aspek­te zu nen­nen, beein­flus­sen einen Bera­tungs­pro­zess und sei­ne Ergebnisse.

Drit­tens und letz­tens wird das Legi­ti­mi­täts­de­fi­zit nicht durch die Injek­ti­on von Par­ti­zi­pa­ti­on gelöst, denn Par­ti­zi­pa­ti­on und Reprä­sen­ta­ti­on gehen Hand in Hand. Wenn das eine fehlt oder sehr man­gel­haft ist, wird das End­ergeb­nis schlecht aus­fal­len. Ver­ges­sen Sie nicht, dass in den heu­ti­gen Demo­kra­tien die am wei­tes­ten ver­brei­te­te Metho­de der Par­ti­zi­pa­ti­on die Wahl­me­tho­de ist. Um die Demo­kra­tie zu stär­ken, bedarf es einer guten Gestal­tung der insti­tu­tio­nel­len Kanä­le, über die die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ihre Stim­me erhe­ben kön­nen — z. B. mit Volks­in­itia­ti­ven, die durch das Sam­meln von Unter­schrif­ten akti­viert wer­den kön­nen — und einer guten Qua­li­tät der Reprä­sen­ta­ti­on — Par­tei­en und gesell­schaft­li­che Füh­rungs­per­sön­lich­kei­ten, die Unter­stüt­zung haben. Die Legi­ti­mi­tät wird auf klei­ner Flam­me gekocht.

Die­se Über­le­gun­gen sind von der jüngs­ten Nie­der­la­ge des chi­le­ni­schen Ver­fas­sungs­ent­wurfs inspi­riert, sol­len aber nicht beto­nen, dass die mas­si­ve Ableh­nung vom 4. Sep­tem­ber (61,9% dage­gen und 38,1% dafür, bei einer Betei­li­gung von 85% an einer ers­ten obli­ga­to­ri­schen Abstim­mung) durch einen abs­trak­ten und ein­deu­ti­gen Grund wie “die Kri­se der Reprä­sen­ta­ti­on” erklärt wer­den kann. Sie ver­sucht jedoch, auf eini­ge Spitz­fin­dig­kei­ten auf­merk­sam zu machen, die dazu füh­ren, dass das Gewicht und die Kom­ple­xi­tät des Auf­baus von Legi­ti­mi­tät in zeit­ge­nös­si­schen demo­kra­ti­schen Sys­te­men unter­schätzt werden.


Refe­renz:

Welp, Yani­na. 2022. The Will of the Peop­le. Popu­lism and Citi­zen Par­ti­ci­pa­ti­on in Latin Ame­ri­ca. De Gruyter.

Bild: Unsplash.com

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