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Wahlentscheidung in der Echo-Kammer? Digitales politisches Engagement und Panaschieren bei der Schweizer Nationalratswahl 2019

Kathrin Ackermann, Isabelle Stadelmann-Steffen
6th September 2022

Digitalisierung verändert Kommunikationsstrukturen, politische Teilhabe und politische Prozesse. Wie sich diese Transformationen auf politisches Verhalten auswirken, ist an vielen Stellen nach wie vor unklar. Eine neue Studie zeigt anhand von Umfragedaten der Schweizer Wahlstudie Selects 2019, dass kein allgemeiner Zusammenhang zwischen digitalem politischem Engagement und Stimmensplitting besteht. Der Zusammenhang hängt indes davon ab, wie stark eine Person allgemein politisch interessiert ist.

Die Digitalisierung stellt eine der grossen Transformationen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts dar. Nicht erst durch die Corona-Krise ist offensichtlich geworden, dass sich Kommunikationsstrukturen, politische Teilhabe und politische Prozesse durch die Digitalisierung verändern. Auch Wahlkämpfe, politische Auseinandersetzungen und politisches Engagement finden zunehmend im Netz statt. Gleichwohl ist nach wie vor an vielen Stellen unklar, wie sich dies auf politische Einstellungen und politisches Handeln auswirkt.

Vor diesem Hintergrund untersuchen wir in unserer Studie den Zusammenhang zwischen politischem Engagement im Internet und dem Stimmensplitting (Panaschieren) bei den Schweizer Nationalsratswahlen 2019. Wir unterscheiden dabei zwischen Personen, die im Internet politisch aktiv sind und dort z.B. politische Informationen lesen und weiterverbreiten oder eigene politische Überlegungen posten, und jenen, die kein solches Engagement aufweisen.

Digitales politisches Engagement und Stimmensplitting

Wahlkampagnen haben immer mindestens zwei Ziele, unabhängig davon, ob sie hauptsächlich in der digitalen Sphäre geführt werden oder nicht: Überzeugung und Mobilisierung. Es geht also darum, sowohl neue Wählergruppen vom eigenen Programm zu überzeugen als auch die eigene Anhängerschaft zur Stimmabgabe zu motivieren. Dennoch unterscheidet sich der Wahlkampf im Internet von herkömmlichen Kampagnen, die grösstenteils offline stattfanden. Der Wahlkampf im Netz bietet Parteien und Kandidierenden viel mehr Möglichkeiten, Menschen gezielt und personalisiert anzusprechen.

Entsprechend lautet eine bekannte Vermutung, dass Personen, die im Internet politisch aktiv sind, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, mit homogeneren Informationen in Kontakt zu kommen und kaum Informationen sehen, die ihren grundlegenden politischen Einstellungen zuwiderlaufen. Dies führt zur Annahme, dass sie weniger offen gegenüber politischen Alternativen sind und folglich auch nicht bereit sind, ihre Stimmen zwischen verschiedenen Parteien zu splitten («Echo-Kammer»-Argument).

Allerdings bietet das Internet den Personen, die dort politisch besonders aktiv sind, auch die Möglichkeit, politische Informationen aus verschiedenen Quellen zu beziehen. Deshalb kann ebenso die Erwartung formuliert werden, dass politisches Engagement im Internet die Chance erhöht, dass Menschen mit unterschiedlichen politischen Standpunkten in Kontakt kommen. Daraus kann wiederum die Annahme abgeleitet werden, dass gerade diejenigen, die im Netz politisch aktiv sind, eher dazu bereit sind, ihre Stimmen auf verschiedene Parteien aufzuteilen («Deliberations»-Argument).

Digitales politisches Engagement führt nicht zwingend in die Echo-Kammer

Um den Zusammenhang zwischen digitalem politischem Engagement und Stimmensplitting zu ergründen, werten wir Umfragedaten der Schweizer Wahlstudie Selects 2019 aus (siehe Infobox). Diese empirischen Analysen zeigen, dass es keinen allgemeinen Zusammenhang zwischen digitalem Engagement und Stimmensplitting gibt (siehe Abbildung 1).

Wenn Menschen online mit anderen über Politik diskutieren, einen Nachrichtenartikel kommentieren oder teilen oder ihre eigene Meinung in den sozialen Medien posten, sind sie nicht automatisch mehr oder weniger dazu bereit, ihre Stimmen auf verschiedene Parteien zu verteilen als Menschen, die online nicht aktiv sind. Auch wenn man berücksichtigt, ob die Stimmen innerhalb oder über die Grenzen von Parteifamilien hinweg gesplittet werden, zeigt sich kein genereller Zusammenhang mit digitaler Partizipation.

Abbildung 1: Digitales politisches Engagement und Stimmensplitting

Anmerkungen: Dargestellt sind die durchschnittlichen Wahrscheinlichkeitseffekte (Punkte) und das 95%-Konfidenzintervall (waagrechte Linien) basierend auf einem hierarchischen logistischen Regressionsmodell zur Erklärung des Stimmensplitting. Schneidet das Konfidenzintervall die rote Null-Linie nicht, ist der Effekt statistisch signifikant. Bei den kategorialen Kontrollvariablen dienen folgende Kategorien als Referenzkategorie: nicht politische interessiert, diskutiert nie über Politik.
Lesebeispiel: Das Modell zeigt, dass kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen digitaler Partizipation und Stimmensplitting besteht.
Quelle: Darstellung auf Basis von Ackermann und Stadelmann-Steffen (2022); Daten: Schweizer Wahlstudie Selects 2019 (Panelmodul)
Politisches Interesse ist entscheidend

Weiterführende Analysen zeigen jedoch, dass sich eine feingliedrigere Betrachtung lohnt. Insbesondere das politische Interesse einer Person scheint für den Zusammenhang zwischen digitalem Engagement und Stimmensplitting entscheidend zu sein.

Eine Person, die digital politisch engagiert ist und gleichzeitig wenig allgemeines politisches Interesse hat, splittet ihre Stimmen nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent. Dieser Anteil ist signifikant geringer als bei Personen mit ähnlich niedrigem politischem Interesse, die kein online Engagement aufweisen.

Allerdings beträgt die Wahrscheinlichkeit des Stimmensplittings für eine Person, die sich digital politisch engagiert und gleichzeitig hohes politisches Interesse hat, 45 Prozent. Wenn Personen, die digital politisch partizipieren, also auch allgemein politisch interessiert sind und nicht nur punktuell während einer Kampagne oder aufgrund eines bestimmten Themas aktiv werden, scheinen sie auch offener für alternative Standpunkte und eher zum Stimmensplitting bereit zu sein.

Betrachtet man nur die Gruppe der politisch Interessierten, fällt die Wahrscheinlichkeit des Stimmensplittings bei den politisch online Engagierten etwas höher aus als bei Personen, die online nicht in dieser Weise aktiv sind. Während also die Befunde bei politisch Interessierten eher die These der grösseren Offenheit unterstützen, finden wir für die Gruppe der politisch wenig Interessierten Hinweise dafür, dass online Engagement eher zu einer stärkeren Fokussierung auf nur eine Partei führt.

Unsere Analysen zeigen, dass die Digitalisierung sehr unterschiedliche Wirkungen auf verschiedene Gruppen in der Bevölkerung entfalten kann und dass das Zusammenspiel mit anderen Faktoren, beispielsweise dem politischen Interesse, berücksichtigt werden sollte.

Abbildung 2: Digitale Partizipation, politisches Interesse und Stimmensplitting
Anmerkungen: Dargestellt sind die vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten (Symbole) und das 95%-Konfidenzintervall (senkrechte Linien) basierend auf einem hierarchischen logistischen Regressionsmodell zur Erklärung des Stimmensplitting. Die Wahrscheinlichkeiten werden für unterschiedliche Niveaus des politischen Interesses abgetragen.
Lesebeispiel: Das Modell zeigt, dass eine Person, die digital partizipiert und gleichzeitig wenig allgemeines politisches Interesse hat, mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent ihre Stimmen splittet. Eine Person, die digital partizipiert und gleichzeitig hohes politisches Interesse hat, splittet ihrer Stimmen hingegen mit einer Wahrscheinlichkeit von 45 Prozent.
Quelle: Darstellung auf Basis von Ackermann und Stadelmann-Steffen (2022); Daten: Schweizer Wahlstudie Selects 2019 (Panelmodul)

Daten und Methoden
Für unsere Studie haben wir Umfragedaten der Schweizer Wahlstudie Selects 2019 verwendet. Wir nutzen die Daten des Panelmoduls, einer Online-Befragung mit drei Befragungswellen zwischen Mai und Dezember 2019. Die Befragung basiert auf einer Zufallsstichprobe, die vom Bundesamt für Statistik mit Hilfe des Stichprobenrahmens SRPH gezogen wurde. In unsere Analysen werden nur Befragte eingeschlossen, die an allen drei Befragungswellen teilgenommen haben und in einem Kanton stimmberechtigt sind, in dem Stimmensplitting möglich ist. Entsprechend werden Befragte aus Kantonen mit nur einem Nationalratssitz (Uri, Obwalden, Nidwalden, Glarus, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden) nicht berücksichtigt. Insgesamt umfasst unsere Datengrundlage damit 2 948 Befragte.

Zur Analyse des Zusammenhangs zwischen digitaler Partizipation und Stimmensplitting (Panaschieren) schätzen wir hierarchische logistische Regressionsmodelle. Die abhängige Variable ist eine dichotome Variable, die angibt ob jemand bei der Wahl panaschiert hat. Als zentrale unabhängige Variablen verwenden wir eine dichotome Messung für digitale Partizipation. Die Variable gibt an, ob eine Person im Verlauf der Wahlkampagne eine der folgenden Aktivitäten ausgeübt hat: Diskutieren politischer Themen mit anderen online, das Kommentieren eines Online-Nachrichtenartikels oder Blogbeitrags, das Weiterleiten oder Teilen von politischen Inhalten oder das Posten eigener Gedanken zu einem politischen Thema. Zusätzlich werden Kontrollvariablen (Alter, Geschlecht, Bildung, politische Diskussionen offline, politisches Interesse, Nähe zu einer Partei, Ideologie, extreme Ideologie, Anzahl der Nationalratssitze des Kantons und Sprachregion) im Modell berücksichtigt.


Referenz:

Bild: Wikimedia Commons