Nationale Souveränität oder wirtschaftliche Integration? Zunehmend auch für Linke eine schwierige Entscheidung

Eine Unter­su­chung von Daten aus der Schwei­zer Wahl­stu­die Selects zeigt, dass es in der Schwei­zer Euro­pa­po­li­tik zwei aus­ge­präg­te Ziel­kon­flik­te zwi­schen natio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät und inter­na­tio­na­ler Koope­ra­ti­on gibt: Den «Kontrolle-Kooperation»-Konflikt zwi­schen einer sou­ve­rä­nen Zuwan­de­rungs­kon­trol­le und den bila­te­ra­len Ver­trä­gen sowie den «Schutz-Kooperation»-Konflikt zwi­schen einem sou­ve­rä­nen Sozi­al­schutz auf dem Arbeits­markt und einer ver­tief­ten Zusam­men­ar­beit mit der Euro­päi­schen Uni­on (EU). Wäh­rend ers­te­rer vor allem unter bür­ger­lich Wäh­len­den zu Ver­un­si­che­rung führt, ist dies beim zwei­ten Kon­flikt vor allem im lin­ken Lager der Fall. Die Euro­pa­po­li­tik gerät in der Schweiz dadurch zuneh­mend auch von links unter Beschuss. 

Zielkonflikt zwischen nationaler Souveränität und internationaler Kooperation

Die Glo­ba­li­sie­rung führt für vie­le Staa­ten unwei­ger­lich zu einem Ziel­kon­flikt zwi­schen natio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät und inter­na­tio­na­ler Koope­ra­ti­on: Oft kann inter­na­tio­na­le Koope­ra­ti­on nur dann erfolg­reich und effi­zi­ent statt­fin­den, wenn sich Staa­ten supra­na­tio­na­len und/oder inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen anschlies­sen, dar­in zusam­men­ar­bei­ten und sich auf gemein­sa­me Regeln eini­gen, was mit einem (Teil-)Verzicht auf natio­na­le Sou­ve­rä­ni­tät und Unab­hän­gig­keit ein­her­geht. Umge­kehrt kann die natio­na­le Sou­ve­rä­ni­tät nur dann voll­um­fäng­lich erhal­ten wer­den, wenn Staa­ten auf eine Mit­glied­schaft in supra­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen verzichten.

In der Schweiz hat sich die­ser Ziel­kon­flikt in den letz­ten Jahr­zehn­ten ins­be­son­de­re in der Migra­ti­ons­fra­ge mani­fes­tiert. Als Nicht-Mit­glied hat die Schweiz mit der EU zahl­rei­che bila­te­ra­le Abkom­men abge­schlos­sen, wel­che die wirt­schaft­li­che Inte­gra­ti­on der Eid­ge­nos­sen­schaft in den EU-Bin­nen­markt ermög­licht haben, ohne die poli­ti­sche Unab­hän­gig­keit des Lan­des auf­zu­ge­ben. Den­noch ist die Hand­lungs­fä­hig­keit der Schwei­zer Regie­rung durch die bila­te­ra­len Ver­trä­ge in gewis­sen Berei­chen beschnit­ten wor­den. Seit der Ein­füh­rung der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit zwi­schen der EU und der Schweiz ist eine eigen­stän­di­ge Kon­trol­le bzw. Ein­schrän­kung der Zuwan­de­rung sei­tens der Schweiz – bei­spiels­wei­se mit­tels Ein­füh­rung von Höchst­zah­len und Quo­ten – nicht mehr möglich.

Auf­grund die­ses «Sou­ve­rä­ni­täts­ver­lusts» hat die poli­ti­sche Rech­te – ins­be­son­de­re die SVP – wie­der­holt gefor­dert, das Per­so­nen­frei­zü­gig­keits­ab­kom­men auf­zu­kün­di­gen, zuletzt mit­tels der Volks­in­itia­ti­ve «Für eine mass­vol­le Zuwan­de­rung (Begren­zungs­in­itia­ti­ve)». Die­se wur­de im Sep­tem­ber 2020 von Volk und Stän­den an der Urne verworfen.

«Kontrolle-Kooperation»-Konflikt oder das Dilemma in der Zuwanderungsfrage

Der Ziel­kon­flikt zwi­schen natio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät und inter­na­tio­na­ler Koope­ra­ti­on hat dazu geführt, dass sich vie­le Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer in der Zuwan­de­rungs­fra­ge einer Art Dilem­ma gegen­über­se­hen: Zum einen wol­len sie die Zuwan­de­rung ein­schrän­ken, zum ande­ren aber gleich­zei­tig die guten Wirt­schafts­be­zie­hun­gen mit den EU-Staa­ten auf­recht­erhal­ten. Wir nen­nen die­sen Ziel­kon­flikt zwi­schen eigen­stän­di­ger Zuwan­de­rungs­kon­trol­le und inter­na­tio­na­ler Koope­ra­ti­on den «Kontrolle-Kooperation»-Konflikt.

Unse­re Ana­ly­se der Selects-Daten (s. Info­box) zeigt, dass im «Kontrolle-Kooperation»-Konflikt fast jede/r fünf­te Befrag­te (17%) «poten­zi­ell hin- und her­ge­ris­sen» ist, da sie oder er die bila­te­ra­len Ver­trä­ge posi­tiv bewer­tet, aber gleich­zei­tig auch die Zuwan­de­rung redu­zie­ren möch­te (s. Abbil­dung 1). Etwas mehr als die Hälf­te der Befrag­ten hat zumin­dest auf einer der bei­den Dimen­sio­nen, also bzgl. der bila­te­ra­len Ver­trä­ge oder der Zuwan­de­rungs­fra­ge, eine neu­tra­le Hal­tung, wes­halb wir die­se Grup­pe als «Neu­tra­le» bezeichnen.

Zwei fast gleich gros­se Grup­pen sind in ihrer Hal­tung sehr kohä­rent. Es sind dies die «natio­nal Gesinn­ten» (16%), wel­che die Zuwan­de­rung redu­zie­ren möch­ten und den Bila­te­ra­len gegen­über nega­tiv ein­ge­stellt sind, sowie die «inter­na­tio­nal Gesinn­ten» (14%), wel­che kei­ne Zuwan­de­rungs­be­schrän­kung möch­ten und den Bila­te­ra­len gegen­über posi­tiv ein­ge­stellt sind. Zuletzt zeigt Abbil­dung 1, dass die Grup­pe der­je­ni­gen, wel­che «alter­na­tiv hin- und her­ge­ris­sen» sind – wel­che also die Bila­te­ra­len nega­tiv bewer­ten, aber auch kei­ne Zuwan­de­rungs­be­schrän­kung möch­ten – sehr klein ist (2%).

Abbildung 1: Einstellungen bzgl. Zuwanderungsbeschränkung und bilateraler Verträge («Kontrolle-Kooperation»-Konflikt)

Unse­re Unter­su­chung zeigt, dass «poten­zi­ell Hin- und Her­ge­ris­se­ne» vor allem im bür­ger­li­chen Lager zu fin­den sind. Per­so­nen, wel­che am ehes­ten die SVP, FDP oder CVP wäh­len wür­den, sind über­durch­schnitt­lich oft in die­ser Grup­pe (s. Tabel­le 1). Unter den SVP-Wäh­len­den fin­den sich aus­ser­dem sehr vie­le «natio­nal Gesinn­te» (33%), wäh­rend in der Anhän­ger­schaft lin­ker Par­tei­en vie­le «inter­na­tio­nal Gesinn­te» aus­zu­ma­chen sind (25% bei den Grü­nen bzw. 27% bei der SP). Die zah­len­mäs­sig gröss­te Grup­pe bei allen Par­tei­en ist aller­dings die­je­ni­ge der «Neu­tra­len».

Tabelle 1: Merkmalsgruppen im «Kontrolle-Kooperation»-Konflikt zwischen eigenständiger Zuwanderungskontrolle und internationaler Kooperation nach Partei (in Prozent)

Par­teiPoten­zi­ell Hin- und HergerisseneNatio­nal GesinnteInter­na­tio­nal GesinnteAlter­na­tiv Hin- und HergerisseneNeu­tra­leN
SVP193311461305
FDP2814101481306
CVP23159252586
GLP18919252765
SPS107274521346
GPS9725554947
Andere/Keine121973591347
Der «Schutz-Kooperation»-Konflikt

In unse­rem Arti­kel argu­men­tie­ren wir, dass in der Euro­pa­po­li­tik in den letz­ten Jah­ren neben dem «Kontrolle-Kooperation»-Konflikt ein zwei­ter Kon­flikt zuneh­mend an Bedeu­tung gewon­nen hat. Dabei han­delt es sich um einen Ziel­kon­flikt zwi­schen der eigen­stän­di­gen Aus­ge­stal­tung von sozia­len Schutz­mass­nah­men auf dem Arbeits­markt und inter­na­tio­na­ler Koope­ra­ti­on, wes­halb wir ihn «Schutz-Kooperation»-Konflikt nen­nen. Die­ser Kon­flikt rührt daher, dass im EU-Bin­nen­markt z.B. bezüg­lich Lohn­schutz die­sel­ben Regeln für alle teil­neh­men­den Län­der gel­ten sol­len. Mit den flan­kie­ren­den Mass­nah­men, die der Bun­des­rat gleich­zei­tig mit der Ein­füh­rung der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit beschlos­sen hat­te, ist die Schweiz bis­her einen Son­der­zug gefah­ren. Nach wie vor defi­niert und kon­trol­liert sie eigen­stän­dig arbeits­markt­li­che Lohn­schutz­mass­nah­men, was von der EU wie­der­holt kri­ti­siert wur­de. Bei einer Annah­me des Rah­men­ab­kom­mens EU-Schweiz hät­te die Schweiz auf gewis­se flan­kie­ren­de Mass­nah­men ver­zich­ten müssen.

Auch bzgl. des «Schutz-Kooperation»-Konflikts kön­nen die Wäh­len­den in ver­schie­de­ne Grup­pen ein­ge­teilt wer­den (s. Abbil­dung 2). Wie­der­um gibt es Per­so­nen, wel­che «poten­zi­ell hin- und her­ge­ris­sen» sind, da sie sowohl gegen­über einem star­ken natio­nal­staat­li­chen Sozi­al­schutz als auch gegen­über den Bila­te­ra­len posi­tiv ein­ge­stellt sind. Die­se Grup­pe ist genau gleich gross (17%) wie beim «Kontrolle-Kooperation»-Konflikt. Weit­aus am gröss­ten ist die Grup­pe der «Neu­tra­len» mit rund zwei Drit­teln (64%) aller Befrag­ten. Die­se Grup­pe hat zumin­dest auf einer der bei­den Dimen­sio­nen – Sozi­al­schutz und/oder bila­te­ra­le Ver­trä­ge – eine neu­tra­le Hal­tung. Die hohe Anzahl Neu­tra­ler deu­tet dar­auf hin, dass beim «Schutz-Kooperation»-Konflikt noch vie­le Unsi­cher­hei­ten und Unklar­hei­ten bestehen.

Durch­wegs kohä­ren­te Ein­stel­lun­gen im «Schutz-Kooperation»-Konflikt hat nur ein Bruch­teil des Elek­to­rats. Es sind dies die «pro­tek­tio­nis­tisch» und die «inter­na­tio­nal Gesinn­ten». 9% der Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer iden­ti­fi­zie­ren wir als «pro­tek­tio­nis­tisch Gesinn­te», da sie sozia­le Schutz­mass­nah­men posi­tiv und die Bila­te­ra­len nega­tiv bewer­ten. Als «inter­na­tio­nal Gesinn­te» kön­nen dage­gen ledig­lich 7% bezeich­net wer­den. Es sind dies Per­so­nen, wel­che einem eigen­stän­di­gen Sozi­al­schutz gegen­über nega­tiv ein­ge­stellt sind und die Bila­te­ra­len posi­tiv bewerten.

Abbildung 2: Einstellungen bzgl. Sozialschutz und bilateraler Verträge («Schutz-Kooperation»-Konflikt)

Im Gegen­satz zum «Kontrolle-Kooperation»-Konflikt führt der «Schutz-Kooperation»-Konflikt ins­be­son­de­re unter poli­tisch Lin­ken zu Ver­un­si­che­rung. In den Anhän­ger­schaf­ten der SP und Grü­nen sind 34% bzw. 29% zwi­schen eigen­stän­di­gen sozia­len Schutz­mass­nah­men und inter­na­tio­na­ler Koope­ra­ti­on «poten­zi­ell hin- und her­ge­ris­sen» (s. Tabel­le 2). Am meis­ten «pro­tek­tio­nis­tisch Gesinn­te» fin­den sich eben­falls in den Rän­gen der lin­ken Par­tei­en aber auch der SVP (je 10%). FDP-Sym­pa­thi­sie­ren­de sind hin­ge­gen über­durch­schnitt­lich oft unter den «inter­na­tio­nal Gesinn­ten» ver­tre­ten. Die weit­aus gröss­te Grup­pe in allen Par­tei­en machen wie­der­um die «Neu­tra­len» aus.

Tabelle 2: Merkmalsgruppen im «Schutz-Kooperation»-Konflikt zwischen eigenständigen sozialen Schutzmassnahmen und internationaler Kooperation nach Partei (in Prozent)

Par­teiPoten­zi­ell Hin- und HergerissenePro­tek­tio­nis­tisch GesinnteInter­na­tio­nal GesinnteAlter­na­tiv Hin- und HergerisseneNeu­tra­leN
SVP510611681293
FDP95174651301
CVP1487368577
GLP1849367761
SPS341021541348
GPS29102159942
Andere/Keine91144711330

Wie ver­hal­ten sich Wäh­len­de in einer kon­kre­ten Kon­flikt­si­tua­ti­on, wenn sie sich für eines der zwei kon­kur­rie­ren­den poli­ti­schen Zie­le ent­schei­den müs­sen? Zur Beant­wor­tung die­ser Fra­ge fokus­sie­ren wir uns auf die­je­ni­gen Wäh­len­den, wel­che am stärks­ten mit den bei­den Ziel­kon­flik­ten, dem «Kon­trol­le-Koope­ra­ti­on»- und dem «Schutz-Kooperation»-Konflikt, kon­fron­tiert sind. Es sind dies jeweils Per­so­nen, die poten­zi­ell zwi­schen bei­den poli­ti­schen Zie­len hin- und her­ge­ris­sen oder zumin­dest einem von bei­den Zie­len gegen­über neu­tral ein­ge­stellt sind.

Im Fal­le des «Kontrolle-Kooperation»-Konflikts zwi­schen eigen­stän­di­ger Zuwan­de­rungs­kon­trol­le und inter­na­tio­na­ler Koope­ra­ti­on haben wir den Teil­neh­men­den der Selects-Stu­die fol­gen­de Fra­ge gestellt: «Wenn sich die Schweiz zwi­schen der Beschrän­kung der Zuwan­de­rung oder dem Bei­be­halt der bila­te­ra­len Ver­trä­ge ent­schei­den müss­te, was wür­den Sie wählen?»

62% der «poten­zi­ell Hin- und Her­ge­ris­se­nen» prä­fe­rie­ren die bila­te­ra­len Ver­trä­ge gegen­über einer Zuwan­de­rungs­be­schrän­kung, bei den «Neu­tra­len» sind es gar zwei Drit­tel (s. Tabel­le 3). Bei der Ent­schei­dung spielt die Par­tei­prä­fe­renz eine wich­ti­ge Rol­le. Auch wenn sie «poten­zi­ell hin- und her­ge­ris­sen» oder «neu­tral» sind, optie­ren Per­so­nen, die die SVP wäh­len wür­den, deut­lich für eine Zuwan­de­rungs­be­schrän­kung (69% bzw. 79%). Bei allen ande­ren Par­tei­en beob­ach­ten wir hin­ge­gen, dass die «poten­zi­ell Hin- und Her­ge­ris­se­nen» und «Neu­tra­len» gross­mehr­heit­lich die Bei­be­hal­tung der bila­te­ra­len Ver­trä­ge bevor­zu­gen (s. Tabel­le 3).

Im Fal­le des «Schutz-Kooperation»-Konflikts zwi­schen eigen­stän­di­gen sozia­len Schutz­mass­nah­men und inter­na­tio­na­ler Koope­ra­ti­on haben wir den Teil­neh­men­den fol­gen­de Fra­ge gestellt: «Wenn sich die Schweiz zwi­schen dem Rah­men­ab­kom­men oder den flan­kie­ren­den Mass­nah­men zum Lohn­schutz ent­schei­den müss­te, was wür­den Sie wählen?»

Im Gegen­satz zum ers­ten Ziel­kon­flikt sind bei die­sem zwei­ten Ziel­kon­flikt weit­aus weni­ger Per­so­nen für inter­na­tio­na­le Koope­ra­ti­on: So wür­den ins­ge­samt nur 48% der «poten­zi­ell Hin- und Her­ge­ris­se­nen» und 34% der «Neu­tra­len» das Rah­men­ab­kom­men gegen­über den flan­kie­ren­den Mass­nah­men vorziehen.

Zwei Resul­ta­te ste­chen her­aus: Ers­tens sind wie­der­um die SVP-Wäh­len­den am stärks­ten gegen inter­na­tio­na­le Koope­ra­ti­on: Rund vier Fünf­tel wür­den sich für die flan­kie­ren­den Mass­nah­men aus­spre­chen, obwohl die­se nicht wirk­lich zur (neo-)liberalen Par­tei­hal­tung bzgl. sozia­ler Schutz­mass­nah­men auf dem Arbeits­markt pas­sen. Die Ableh­nung einer stär­ke­ren Zusam­men­ar­beit mit der EU scheint daher unter SVP-Wäh­len­den so stark zu sein, dass sie natio­na­le Sou­ve­rä­ni­tät stets höher gewich­ten als inter­na­tio­na­le Koope­ra­ti­on – unab­hän­gig davon, wel­cher Poli­tik­be­reich gera­de betrof­fen ist.

Zwei­tens spal­tet der «Schutz-Kooperation»-Konflikt die ande­ren Par­tei­an­hän­ger­schaf­ten weit­aus stär­ker als der «Kontrolle-Kooperation»-Konflikt. Nicht nur unter den lin­ken Par­tei­en, son­dern auch unter den bür­ger­li­chen scheint es bedeu­tend wich­ti­ger zu sein, die natio­nal­staat­li­che, sou­ve­rä­ne Kon­trol­le über sozia­le Schutz­mass­nah­men bei­zu­be­hal­ten als die­je­ni­ge über die Ein­wan­de­rung in das Land. Wäh­rend unter den «hin- und her­ge­ris­se­nen» Unter­stüt­ze­rin­nen und Unter­stüt­zern von lin­ken und Mit­te-rechts-Par­tei­en nur 50% bis 58% das Rah­men­ab­kom­men gegen­über den flan­kie­ren­den Mass­nah­men bevor­zu­gen wür­den, sind es in der zah­len­mäs­sig gröss­ten Grup­pe der «Neu­tra­len» nur noch 37% bis 49% (vgl. Tabel­le 3).

Tabelle 3: Präferenzen der «potenziell Hin- und Hergerissenen» und «Neutralen» in konkreter Entscheidungssituation (in Prozent)

 «Kontrolle-Kooperation»-Konflikt

Prä­fe­renz für Bei­be­halt der bila­te­ra­len Ver­trä­ge gegen­über Zuwanderungsbeschränkung
«Schutz-Kooperation»-Konflikt

Prä­fe­renz für Rah­men­ab­kom­men gegen­über flan­kie­ren­den Massnahmen
 Poten­zi­ell Hin- und HergerisseneNeu­tra­lePoten­zi­ell Hin- und HergerisseneNeu­tra­le
Ins­ge­samt62664834
Nach Par­tei:    
SVP31212017
FDP70705144
CVP67695538
GLP73845849
SPS75855039
GPS67835137
Andere/Keine59573425
Neu wird die Europapolitik auch von links attackiert

Wie wir zei­gen konn­ten, geht die wirt­schaft­li­che Inte­gra­ti­on der Schweiz in den EU-Bin­nen­markt mit zwei bedeu­ten­den Ziel­kon­flik­ten zwi­schen natio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät und inter­na­tio­na­ler Koope­ra­ti­on ein­her. Ein «Kontrolle-Kooperation»-Konflikt besteht zwi­schen einer eigen­stän­di­gen Zuwan­de­rungs­kon­trol­le und den bila­te­ra­len Abkom­men. Seit den Ver­hand­lun­gen über ein Rah­men­ab­kom­men hat zudem der «Schutz-Kooperation»-Konflikt zwi­schen einer eigen­stän­di­gen Aus­ge­stal­tung der sozia­len Schutz­mass­nah­men und einer ver­tief­ten Zusam­men­ar­beit mit der EU an Bedeu­tung gewonnen.

Unse­re Unter­su­chung legt nahe, dass bei­de Ziel­kon­flik­te dazu geführt haben, dass zahl­rei­che Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer zwi­schen zwei sich aus­schlies­sen­den poli­ti­schen Zie­len «hin- und her­ge­ris­sen» oder zumin­dest gegen­über einem der bei­den Zie­le «neu­tral» sind. Wäh­rend der «Kontrolle-Kooperation»-Konflikt vor allem unter bür­ger­li­chen Wäh­le­rin­nen und Wäh­lern zu Ver­un­si­che­rung geführt hat, tut dies der «Schutz-Kooperation»-Konflikt ins­be­son­de­re unter Sym­pa­thi­sie­ren­den lin­ker Par­tei­en. Die bei­den Grup­pen der «Hin- und Her­ge­ris­se­nen» sind dem­nach eher kom­ple­men­tär, als dass sie sich überlappen.

Wäh­rend eine über­wie­gen­de Mehr­heit des Schwei­zer Elek­to­rats die Bila­te­ra­len gegen­über einer eigen­stän­di­gen Zuwan­de­rungs­kon­trol­le bevor­zugt, hat eine ver­tief­te Zusam­men­ar­beit mit der EU einen schwe­ren Stand, weil eine Mehr­heit der Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer eigen­stän­di­ge Lohn­schutz­mass­nah­men bei­be­hal­ten möch­ten. Die Schwei­zer Euro­pa­po­li­tik hat von rechts stets Kri­tik ein­ste­cken müs­sen: Neu ist, dass sie auch zuneh­mend von links unter Beschuss gerät.

Ins­ge­samt wird deut­lich, dass SVP-Wäh­len­de prin­zi­pi­ell gegen jeg­li­che Art von euro­päi­scher Inte­gra­ti­on sind – unab­hän­gig davon, wel­cher Poli­tik­be­reich gera­de betrof­fen ist. Im Gegen­satz dazu ist Euro­skep­ti­zis­mus von links sehr spe­zi­fisch: Er rich­tet sich gegen die Auf­ga­be der eigen­stän­di­gen Aus­ge­stal­tung von Lohn­schutz­mass­nah­men. Wenn in die­sem Bereich Zuge­ständ­nis­se von­sei­ten der EU gemacht wer­den kön­nen, ist es durch­aus vor­stell­bar, dass Anhän­ge­rin­nen und Anhän­ger lin­ker Par­tei­en eine ver­tief­te Zusam­men­ar­beit mit der EU zukünf­tig wie­der­um stär­ker unter­stüt­zen. Sol­che Zuge­ständ­nis­se wer­den SVP-Wäh­len­de in ihrer Beur­tei­lung der Euro­pa­po­li­tik hin­ge­gen kaum beein­flus­sen: Sie gewich­ten natio­na­le Sou­ve­rä­ni­tät stets höher als inter­na­tio­na­le Kooperation.

Schwei­zer Wahl­stu­die Selects
Im Rah­men der Schwei­zer Wahl­stu­die Selects 2019 konn­ten wir den Teil­neh­men­den der Selects-Panel­be­fra­gung spe­zi­fi­sche Fra­gen zu zwei Ziel­kon­flik­ten zwi­schen natio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät und inter­na­tio­na­ler Koope­ra­ti­on stel­len. Zum einen befrag­ten wir sie nach ihren Prä­fe­ren­zen im «Kontrolle-Kooperation»-Konflikt zwi­schen eigen­stän­di­ger Zuwan­de­rungs­kon­trol­le und den bila­te­ra­len Ver­trä­gen und zum ande­ren wur­den sie gebe­ten, im «Schutz-Kooperation»-Konflikt zu ent­schei­den, ob sie die flan­kie­ren­den Mass­nah­men oder das Rah­men­ab­kom­men bevor­zu­gen würden.

Die­se Fra­gen wur­den in der ers­ten Wel­le der Panel­be­fra­gung, wel­che vor der Wahl­kam­pa­gne im Mai/Juni 2019 statt­fand, gestellt. An die­ser ers­ten Wel­le haben ins­ge­samt 7939 durch das Bun­des­amt für Sta­tis­tik (BfS) zufäl­lig aus­ge­wähl­te Per­so­nen teil­ge­nom­men. Die erho­be­nen Daten die­ser gros­sen reprä­sen­ta­ti­ven Stich­pro­be erlau­ben die Ana­ly­se zahl­rei­cher Sub­grup­pen. Die Daten der Panel­be­fra­gung kön­nen auf SWIS­SUb­a­se bezo­gen wer­den. Die­ser DeFac­to-Arti­kel ist eine Zusam­men­fas­sung unse­res Bei­trags, der im SPSR-«Special Issue» zu den eid­ge­nös­si­schen Wah­len 2019 ver­öf­fent­licht wurde.


Refe­renz:

Laue­ner, Lukas, Patrick Emmen­eg­ger, Sil­ja Häu­ser­mann und Ste­fa­nie Wal­ter (2022). Torn Bet­ween Inter­na­tio­nal Coope­ra­ti­on and Natio­nal Sov­er­eig­n­ty: Voter Atti­tu­des in Tra­de-off Situa­tions in Switz­er­land. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review 28(2), 277–295. Spe­cial Issue: The Swiss Natio­nal Elec­tions 2019.

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