Die Umsetzung erfolgreicher Volksinitiativen wird oft kritisiert: Man verwässere den Inhalt oder missachte den Volkswillen. Wir haben das Verfahren zur Umsetzung erfolgreicher Volksinitiativen in Bund und Kantonen systematisch analysiert und zeigen, dass die Umsetzung einer Initiative umso besser gelingt, je weniger das Parlament involviert ist.
Am 5. Juli 1891 sagten die Stimmbürger trotz Widerstand der etablierten politischen Parteien Ja zur Einführung der eidgenössischen Volksinitiative. Seither kamen 216 Volksinitiativen zur Abstimmung, 22 davon wurden angenommen. Vor allem in den letzten Jahren erfolgreiche Initiativen wie die «Ausschaffungsinitiative» (2010) oder die «Masseneinwanderungsinitiative» (2014) befeuerten die Debatte über Umsetzungsprobleme und Reformbedürftigkeit der politischen Rechte.
Kantone: Bedingungen für die Umsetzung sind günstiger als auf Bundesebene
Volksinitiativen betreffen die Verfassungs- und Gesetzgebung. Damit fallen sie in die Domäne des Parlaments, welches verpflichtet ist, erfolgreiche Initiativen umzusetzen. Oft fordert eine Volksinitiative deshalb eine Kehrtwende oder Anpassung der parlamentarischen Politik.
Weil den Stimmberechtigten in den Kantonen auch Gesetzesinitiativen zur Verfügung stehen, die keinen oder nur geringen Umsetzungsbedarf nach sich ziehen, sind die Bedingungen für eine initiativgetreue Umsetzung auf kantonaler Ebene günstiger als auf Bundesebene. Zudem hat hier bei einer angenommenen allgemeinen Anregung jede Stimmbürgerin und jeder Stimmbürger Anspruch auf Umsetzung, der vor Bundesgericht durchsetzbar ist. Anders stellt sich die Situation auf Bundesebene dar.
Bund: Das Parlament hat bei der Interpretation der Verfassung Spielraum
Auf Bundesebene ist das Parlament besonders einflussreich. Volksinitiativen bewirken eine Verfassungsänderung, die in aller Regel der Ausgestaltung und Konkretisierung durch das Parlament bedürfen. Weil das Bundesgericht bei der Annahme der direkten Anwendbarkeit einer Initiative zurückhaltend ist, hat das Parlament die Möglichkeit, den Verfassungsartikel ohne Mitwirkung der anderen Staatsgewalten zu interpretieren. So kann es den Verfassungsartikel unter Verweis auf völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz umsetzen und den Gehalt der Volksinitiative mehr oder weniger abschwächen.
Ein Beispiel dafür ist die Umsetzung der «Masseneinwanderungsinitiative» (2014). Ähnliches zeigte sich bei der Umsetzung des Ausschaffungsartikels (2010): Indem es den Katalog der Straftaten übernahm, die zur Ausschaffung führen, hielt das Parlament zwar die Verfassung ein. Jedoch sprengte die Hinzufügung der Härtefallklausel die Grenzen der Verfassung.
Unsere Untersuchungen zeigen, dass das Bundesgericht bei den Verfassungsnormen, die durch Volksinitiativen zustande kamen, eine inkonsequente Rechtsprechung verfolgt. Die Kriterien dafür, wann eine direkte Anwendung gegeben ist, sind nicht einheitlich. Dadurch verschiebt sich die Zuständigkeit von der rechtlichen auf die politische Ebene. Diese Tendenz kann die Umsetzung erfolgreicher Volksinitiativen behindern.
Verbesserungen müssen beim Parlament ansetzen
Das Forschungsprojekt zeigt, dass die Wirksamkeit bei der Umsetzung von Volksinitiativen massgeblich davon abhängt, welches Organ dafür zuständig ist. Je mehr das Parlament involviert ist, desto spannungsreicher ist die Umsetzung. Rechtspolitische Vorschläge für Verbesserungen bei der Umsetzung von Volksinitiativen haben daher beim Parlament anzusetzen. Eine anhaltende Diskrepanz zwischen angenommenen Initiativen und parlamentarischer Politik lässt sich im Endeffekt aber höchstens durch die Änderung der politischen Zusammensetzung des Parlaments bei künftigen Wahlen aufheben.
Referenzen:
- Fuhrer, Corina (2019): «Die Umsetzung kantonaler Volksinitiativen». Zürich: DIKE Verlag.
- Musliu, Nagihan (2019): «Die Umsetzung eidgenössischer Volksinitiativen». Zürich: DIKE Verlag.
Bild: Nationalratssaal (www.parlament.ch)