Zur Krise der Sozialdemokratie

Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en befin­den sich in einer Kri­se. Im Gegen­satz zum domi­nan­ten öffent­li­chen Nar­ra­tiv, zeigt die sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit dem The­ma, dass die­se nicht pri­mär mit dem Ver­lust von Wähler*innen aus der Arbei­ter­klas­se an rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei­en zu erklä­ren ist. Unse­re For­schung zeigt auch, dass eine weni­ger pro­gres­si­ve und stär­ke­re Anti-Migra­ti­on-Aus­rich­tung sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Par­tei­en rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei­en nicht schwächt und gleich­zei­tig sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en selbst eher schadet. 

Die­ser Bei­trag[1] setzt sich mit dem Nar­ra­tiv über den Zusam­men­hang der Ent­wick­lun­gen von sozi­al­de­mo­kra­ti­schen und rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en aus­ein­an­der. Die­ses hat wei­te Ver­brei­tung gefun­den; sowohl in den Medi­en als auch in der Poli­tik selbst. Zunächst beruht die­ses Nar­ra­tiv auf zwei Ent­wick­lun­gen, die sich so nicht abstrei­ten las­sen: Die ers­te Ent­wick­lung ist der Auf­stieg des Rechts­po­pu­lis­mus in West­eu­ro­pa und wird ver­an­schau­licht in Abbil­dung 1.

Abbildung 1: Stimmenanteile rechtspopulistische Parteien 1990 – 2018

Abbil­dung 1 zeigt die Stimm­an­tei­le von rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en in 17 west­eu­ro­päi­schen (alte EU-15 + Schweiz und Nor­we­gen) Län­dern seit 1990. Wenn hier die Rede von rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en ist, so sind die Par­tei­en gemeint, die im eng­li­schen als popu­list radi­cal right (sie­he Mud­de 2007) bezeich­net wer­den und bei­spiel­wei­se den fran­zö­si­schen Front Natio­nal, die öster­rei­chi­sche FPÖ, die schwei­ze­ri­sche SVP oder die deut­sche AfD beinhal­ten. Man kann in Abbil­dung 1 deut­lich sehen, dass es einen kla­ren Anstieg der Stimm­an­tei­le die­ser Par­tei­en seit 1990 gege­ben hat. Sie stel­len mitt­ler­wei­le eta­blier­te Akteu­re in fast allen west­eu­ro­päi­schen Par­tei­en­sys­te­men dar.

Abbildung 2: Stimmenanteile sozialdemokratischer Parteien 1990 – 2018

Abbil­dung 2 zeigt die­je­ni­ge Ent­wick­lung, die häu­fig als Nie­der­gang oder Kri­se der Sozi­al­de­mo­kra­tie bezeich­net wird. Für die glei­chen Län­der und den glei­chen Zeit­raum ist auch hier der Stim­men­an­teil abge­bil­det. Wir sehen, dass es nach zunächst einer Hoch­pha­se in den 1990er-Jah­ren einen star­ken Ver­lust an Wähler*innenstimmen für die­se Par­tei­en­fa­mi­lie gege­ben hat. Beson­ders aus­ge­prägt zeigt sich die­ser Abfall für die letz­ten zehn Jah­re. Sym­pto­ma­tisch ste­hen hier­für die Wahl­er­geb­nis­se der fran­zö­si­schen Par­ti Socia­lis­te und der nie­der­län­di­schen Arbei­ter­par­tei (PvdA), wel­che im Jahr 2017 bei­de nur noch ein­stel­li­ge Wahl­er­geb­nis­se erzielten.

Betrach­tet man nun die­se bei­den Ent­wick­lun­gen, so liegt es nahe, dass sie in direk­tem Zusam­men­hang mit­ein­an­der ste­hen. Eine Erklä­rung, die wir häu­fig im öffent­li­chen Dis­kurs und in der poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung fin­den, lau­tet in etwa so: Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en haben ihre ehe­ma­li­ge Kern­kli­en­tel, die Arbei­ter­klas­se, ver­lo­ren und die­se hat bei rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en ein neu­es Zuhau­se gefun­den. Die Arbei­ter­klas­se, so geht die Erklä­rung wei­ter, hat sich von sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en vor allem wegen zwei­er Grün­de abge­wen­det. Der ers­te liegt in der nomi­nell zu neo-libe­ra­len Wirt­schafts- und Sozi­al­po­li­tik der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en. Der zwei­te Grund ist ein Fokus auf pro­gres­si­ve Gesell­schafts­po­li­tik, bei­spiels­wei­se bei Fra­gen der Gleich­stel­lung, der Migra­ti­on oder aber auch des Umwelt­schut­zes. Hier­bei, so geht das Argu­ment wei­ter, füh­len sich vor allem männ­li­che Mit­glie­der der Arbei­ter­klas­se, wel­che ten­den­zi­ell weni­ger pro­gres­si­ve und ver­mehrt auto­ri­tä­re Ein­stel­lun­gen haben, nicht mehr vertreten.

Impli­zit oder auch durch­aus expli­zit ent­hal­ten die­se Erklä­run­gen häu­fig eine Hand­lungs­emp­feh­lung für sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en. Sie lau­tet in etwa so, dass sich sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en vor allem in Fra­gen der Migra­ti­ons­po­li­tik von pro­gres­si­ve­ren hin zu eher restrik­ti­ve­ren Posi­tio­nen bewe­gen sol­len und gleich­zei­tig Fra­gen der soge­nann­ten Iden­ti­täts­po­li­tik (bspw. Gleich­stel­lung von Frau­en) eine klei­ne­re Rol­le für sie ein­neh­men soll­ten. Dies, so die Idee, wür­de dann dazu füh­ren, dass rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei­en geschwächt und sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en gestärkt würden

Ver­an­schau­li­chen lässt sich die­se Posi­ti­on mit einem Zitat des frü­he­ren SPD Par­tei­vor­sit­zen­den Sig­mar Gabri­el. In einem Essay im Spie­gel (18.12.2017) schreibt er: «Die offe­nen Gren­zen von 2015 ste­hen in Deutsch­land für nicht weni­ge Men­schen des­halb als Sinn­bild für die Extrem­form von Mul­ti­kul­ti, Diver­si­tät und den Ver­lust jeg­li­cher Ord­nung. Unter ihnen vie­le vor­mals sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler. Diver­si­tät, Inklu­si­on, Gleich­stel­lung, Poli­ti­cal Cor­rect­ness — all das sind des­halb jetzt auch die Ziel­schei­ben der Neu­en Rech­ten. […] Auch wir haben uns kul­tu­rell als Sozi­al­de­mo­kra­ten und Pro­gres­si­ve oft wohl­ge­fühlt in post­mo­der­nen libe­ra­len Debat­ten. Umwelt- und Kli­ma­schutz waren uns manch­mal wich­ti­ger als der Erhalt unse­rer Indus­trie­ar­beits­plät­ze, Daten­schutz war wich­ti­ger als inne­re Sicher­heit, und die Ehe für alle haben wir in Deutsch­land fast zum größ­ten sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Erfolg der letz­ten Legis­la­tur­pe­ri­ode gemacht […]» Doch: «Wer die Arbei­ter des Rust Belt ver­liert, dem wer­den die Hips­ter in Kali­for­ni­en auch nicht mehr helfen.»

Aus dem beschrie­be­nen Nar­ra­tiv las­sen sich drei sozi­al­wis­sen­schaft­lich test­ba­re Annah­men ableiten.

  1. Der Wahl­er­folg sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Par­tei­en hängt ent­schei­dend vom Ver­hal­ten der Arbei­ter­klas­se ab.
  2. Weni­ger progressiv/universalistische Posi­tio­nen scha­den rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en elektoral.
  3. Weni­ger progressiv/universalistische Posi­tio­nen hel­fen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en elektoral.

Um die­se Annah­men zu dis­ku­tie­ren, wer­de ich in die­sem Bei­trag fol­gen­der­mas­sen vor­ge­hen. Zunächst wer­de ich das Bei­spiel der nie­der­län­di­schen Par­la­ments­wahl im Jahr 2017 dis­ku­tie­ren. An die­sem lässt sich vor allem ver­an­schau­li­chen, zu wel­chen ande­ren Par­tei­en sich die ehe­ma­li­gen Wähler*innen sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Par­tei­en bei her­ben Ver­lus­ten hin­be­wegt haben. Dann möch­te ich zwei mei­ner eige­nen Unter­su­chun­gen zum The­ma beschrei­ben. In der ers­ten geht es dar­um, wie sich die Posi­tio­nie­rung eta­blier­ter Par­tei­en auf den Wahl­er­folg rechts­po­pu­lis­ti­scher Par­tei­en aus­wirkt. In der zwei­ten wie sich Posi­tio­nie­rung auf die Wahl­an­tei­le sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Par­tei­en selbst auswirkt.

Die niederländische Parlamentswahl 2017

Bei der nie­der­län­di­schen Par­la­ments­wahl 2017 ver­lor die hol­län­di­sche Arbei­ter­par­tei (PvdA) fast 20 Pro­zent­punk­te und erziel­te mit einem Stim­men­an­teil von 5,7% ihr his­to­risch schlech­tes­tes Ergeb­nis. Als Wahl­sie­ger ging die Mit­te-Rechts Par­tei VVD von Pre­mier­mi­nis­ter Mark Rut­te aus der Wahl her­vor, vor der zweit­plat­zier­ten rechts­po­pu­lis­ti­schen PVV von Gert Wil­ders. Vor der Wahl lag der Fokus der Bericht­erstat­tung vor allem auf der rechts­po­pu­lis­ti­schen PVV. Die­se lag sogar eini­ge Zeit in den Umfra­gen vorn, was zu mas­si­ver inter­na­tio­na­ler Auf­merk­sam­keit für die­se Wahl führte.

Was war nun aber tat­säch­lich pas­siert? Forscher*innen der Uni­ver­si­tät Ams­ter­dam haben in einer Stu­die unter­sucht, wie sich die Ver­lus­te der PvdA erklä­ren las­sen (de Lan­ge et al. 2018). Sie unter­su­chen dabei in einer Panel-Stu­die, in der die glei­chen Wähler*innen über eine län­ge­re Zeit inter­viewt wur­den, wie sich deren Wahl­ver­hal­ten zwi­schen 2012 und 2017 ver­än­dert hat. Nur cir­ca 25 Pro­zent der Wähler*innen die 2012 die PvdA gewählt hat­ten, wähl­ten die­se auch 2017. Die ent­schei­den­de Fra­ge der Stu­die ist, für wel­che Par­tei­en sich die rest­li­chen ehe­ma­li­gen PvdA-Wähler*innen ent­schie­den haben. Die Ergeb­nis­se zei­gen, dass die Par­tei, die mit Abstand am meis­ten Stim­men der PvdA gewon­nen hat, Gro­en Links, also die hol­län­di­sche Grü­ne Par­tei ist. An nächs­ter Stel­le kom­men die D66 (eine zen­tris­tisch, pro­gres­si­ve Par­tei) und die SP (eine links­po­pu­lis­ti­sche Par­tei). Die PvdA hat also mit Abstand die meis­ten ihrer Wähler*innen an pro­gres­si­ve Mit­te-Links Par­tei­en ver­lo­ren. Nur ein win­zi­ger Teil ihrer ehe­ma­li­gen Wähler*innen wen­de­te sich der rechts­po­pu­lis­ti­schen PVV oder der Mit­te-Rechts PVV zu. Die­se Ergeb­nis­se zei­gen, dass sich das schlech­te Ergeb­nis der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen PvdA kei­nes­wegs so erklä­ren lässt, dass die Wähler*innen der Arbei­ter­klas­se zu den Rechts­po­pu­lis­ten abge­wan­dert sind. Im Gegen­teil: der Grund für das schlech­te Abschnei­den liegt dar­in, dass Wähler*innen zu links­li­be­ra­len Par­tei­en abge­wan­dert sind.

Ein ähn­li­ches Bild zeig­te sich in der ers­ten Run­de der fran­zö­si­schen Prä­si­dent­schafts­wahl 2017. Hier gewann Emma­nu­el Macron mehr ehe­ma­li­ge PS Wähler*innen für sich als Benoît Hamon (der PS Kan­di­dat 2017) und Jen-Luc Mélen­chon (der links­po­pu­lis­ti­sche Kan­di­dat) zusam­men. Es zeigt sich folg­lich, dass die ver­hee­ren­den Wahl­er­geb­nis­se der PS und der PvdA viel mehr das Resul­tat der Ver­lus­te an libe­ra­le und pro­gres­si­ve Par­tei­en sind, als dass sie durch den Wett­be­werb mit rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en zu erklä­ren wären. Dies stellt das zu Anfang erläu­ter­te Nar­ra­tiv bereits stark in Frage.

Positionen etablierter Parteien und Wahlergebnisse rechtspopulistischer Parteien

In einer von uns kürz­lich durch­ge­führ­ten Stu­die haben wir ana­ly­siert, wie sich die Posi­tio­nie­rung eta­blier­ter Par­tei­en zum The­ma Migra­ti­on auf den Erfolg rechts­po­pu­lis­ti­scher Par­tei­en aus­wirkt (Krau­se et al. 2018; Cohen 2018). In der öffent­li­chen Debat­te wird häu­fig ange­nom­men, dass rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei­en des­halb erfolg­reich sind, weil eta­blier­te Par­tei­en zu libe­ra­le Posi­tio­nen in der Migra­ti­ons­po­li­tik ein­neh­men und es mög­lich wäre, sie durch restrik­ti­ve­re Posi­tio­nen wie­der zu schwä­chen. Auch in der Poli­tik­wis­sen­schaft exis­tiert die­se Posi­ti­on und wird vor allem mit der Arbeit von Bon­nie Meguid (2005, 2008) ver­bun­den. Die Idee ist dabei, dass soge­nann­te Accom­mo­da­ti­ve Stra­te­gies, also das Auf­neh­men der Migra­ti­ons­the­ma­tik durch eta­blier­te Par­tei­en und eine Bewe­gung in Rich­tung der rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en dazu führt, dass rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei­en Stim­men ver­lie­ren. Das Auf­neh­men der The­ma­tik mit einer gegen­sätz­li­chen Posi­ti­on (Advers­a­ri­al Stra­te­gy) führt laut Meguid dage­gen dazu, dass rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei­en gestärkt wer­den. Betrach­tet man, wel­che Reak­ti­on eta­blier­te Par­tei­en in der Regel wäh­len, so zeigt sich, dass die­se mit Abstand am häu­figs­ten eine Accom­mo­da­ti­ve Stra­te­gy  wäh­len (Abou-Cha­di 2016; Abou-Cha­di u. Krau­se 2018).

Um die Aus­wir­kun­gen sol­cher Stra­te­gien zu unter­su­chen, ana­ly­sie­ren wir Wähler*innenwanderungen im Zeit­raum von 1996 – 2016 in einer Viel­zahl euro­päi­scher Län­der. Wir fra­gen uns dabei, wie vie­le Wähler*innen von eta­blier­ten Par­tei­en zu rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en abwan­dern und wie vie­le sich in die Gegen­rich­tung bewegen.

Für die­se Wähler*innenwanderungen ana­ly­sie­ren wir dann, wie sie von den poli­ti­schen Posi­tio­nen zu Migra­ti­ons­fra­gen der eta­blier­ten Par­tei­en beein­flusst wer­den. Fol­gen wir der Argu­men­ta­ti­on von Meguid und dem zu Beginn for­mu­lier­ten Nar­ra­tiv, dann soll­ten wir anneh­men, dass mehr migra­ti­ons­skep­ti­sche Posi­tio­nen dazu füh­ren, dass weni­ger Wähler*innen zu den Rechts­po­pu­lis­ten wech­seln und mehr von ihnen zu den eta­blier­ten Par­tei­en kom­men. Unse­re Ergeb­nis­se bestä­ti­gen die­se Erwar­tun­gen aller­dings nicht. Wir fin­den zwar, dass mehr migra­ti­ons­skep­ti­sche Posi­tio­nen von eta­blier­ten Par­tei­en dazu füh­ren, dass sich mehr ehe­ma­li­ge rechts­po­pu­lis­ti­sche Wähler*innen für eta­blier­te Par­tei­en ent­schei­den. Aller­dings fin­den wir gleich­zei­tig, dass dann auch mehr ehe­ma­li­ge Wähler*innen von eta­blier­ten Par­tei­en sich für rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei­en ent­schei­den. Mehr migra­ti­ons­skep­ti­sche Posi­tio­nen von eta­blier­ten Par­tei­en erhö­hen also den Wähler*innenaustausch. Letzt­lich ist es aber so, dass rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei­en die Net­to-Gewin­ner die­ses Aus­tauschs sind. Wir fin­den die­sen Zusam­men­hang sowohl all­ge­mein für eta­blier­te Par­tei­en als auch spe­zi­ell für sozialdemokratische.

Es zeigt sich, dass mehr migra­ti­ons­skep­ti­sche Posi­tio­nen kei­nes­wegs dazu füh­ren, dass eta­blier­te Par­tei­en gene­rell und sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en im Spe­zi­fi­schen Wähler*innen wie­der von rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en zurück­ge­win­nen kön­nen. Im Gegen­teil, die­se Posi­tio­nie­run­gen füh­ren ten­den­zi­ell eher dazu, dass rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei­en gestärkt wer­den. Dies deckt sich auch mit der Ent­wick­lung des Erfolgs rechts­po­pu­lis­ti­scher Par­tei­en in zahl­lo­sen euro­päi­schen Demo­kra­tien, wie Öster­reich oder Dänemark.

Positionierung und Wahlergebnisse sozialdemokratischer Parteien

In einer wei­te­ren Stu­die haben wir unter­sucht wie sich die wirt­schafts- und gesell­schafs­po­li­ti­schen Posi­tio­nen sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Par­tei­en auf deren Wahl­er­geb­nis­se aus­wir­ken (Abou-Cha­di u. Wag­ner 2018). In den Aus­füh­run­gen hier wer­de ich mich auf den Effekt ihrer gesell­schafts­po­li­ti­schen Posi­tio­nen kon­zen­trie­ren. Um zu ver­ste­hen wie sich die Posi­tio­nie­rung sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Par­tei­en auf deren Stim­men­an­tei­le aus­wirkt, ist es not­wen­dig die Ver­än­de­rung des poli­ti­schen Raums in post-indus­tri­el­len Gesell­schaf­ten zu betrach­ten (sie­he Abbil­dung 3).

Abbildung 3: Der politische Raum in post-industriellen Gesellschaften

In indus­tri­el­len Gesell­schaf­ten beschränk­te sich der poli­ti­sche Raum größ­ten­teils auf eine Dimen­si­on. Der Haupt­kon­flikt die­ser Dimen­si­on, die wir als die links-rechts Dimen­si­on ken­nen, dreht sich um Fra­gen der öko­no­mi­schen Ver­tei­lung. Links bedeu­tet dabei mehr Regu­lie­rung und Ein­fluss des Staa­tes, wäh­rend rechts für freie Allo­ka­ti­on von Res­sour­cen nach dem Markt-Prin­zip steht. Auf der lin­ken Sei­te sehen wir die Arbei­ter­klas­se ver­tre­ten, auf der ande­ren die Bour­geoi­sie. In post-indus­tri­el­len Gesell­schaf­ten ver­än­dert sich nun der poli­ti­sche Raum (sie­he auch Kit­schelt 1994). Zwei Ent­wick­lun­gen haben hier ent­schei­dend zu bei­getra­gen. Ers­tens haben die 68er-Bewe­gung und der damit ver­bun­de­ne Erfolg links­li­ber­tä­rer und grü­ner Par­tei­en dazu geführt, dass eine zwei­te Dimen­si­on poli­ti­siert wur­de. In die­ser Dimen­si­on geht es um Fra­gen der Orga­ni­sa­ti­on von Gesell­schaft. Sie beinhal­tet The­men wie die Gleich­stel­lung von Män­nern und Frau­en, glei­che Rech­te für Schwu­le, Les­ben und Trans­gen­der oder aber auch den Umwelt­schutz (Ing­le­hart 1977). Als Gegen­be­we­gung zu die­ser Ent­wick­lung lässt sich die Poli­ti­sie­rung von Fra­gen der Migra­ti­on ver­ste­hen, die mit dem ers­ten Erfolg von neu­en rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en in den 80er- und 90er-Jah­ren ver­bun­den ist (Igna­zi 1992).

In die­sem ver­än­der­ten poli­ti­schen Raum müs­sen sich sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en neu posi­tio­nie­ren um wei­ter­hin elek­to­ral erfolg­reich sein zu kön­nen. Die Her­aus­for­de­rung oder das Dilem­ma besteht für sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en dar­in, dass die neue Ach­se des poli­ti­schen Wett­be­werbs mit­ten durch die alte Koali­ti­on der Sozi­al­de­mo­kra­ten geht: Arbei­ter­klas­se plus die urba­ne, gebil­de­te Mit­tel­schicht. Auf­bau­end auf einer Rei­he ande­rer Stu­di­en (bspw. Ging­rich u. Häu­ser­mann 2015) machen wir zwei Argu­men­te. Ers­tens zeich­nen sich post-indus­tri­el­le Gesell­schaf­ten dadurch aus, dass die gebil­de­te Mit­tel­schicht zur wich­tigs­ten Wähler*innengruppe für sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en wird, wäh­rend Indus­trie­ar­bei­ter an Bedeu­tung ver­lie­ren. Zwei­tens prä­fe­riert die gebil­de­te Mit­tel­schicht pro­gres­si­ve Posi­tio­nen auf der zwei­ten Dimen­si­on. Sie spricht sich ten­den­zi­ell für mehr Gleich­be­rech­ti­gung, für eine libe­ra­le und huma­ni­tä­re Migra­ti­ons­po­li­tik und eine stär­ke­re inter­na­tio­na­le Ein­bin­dung, bei­spiels­wei­se inner­halb der Euro­päi­schen Uni­on, aus.

In einer Rei­he von Ana­ly­sen kön­nen wir zei­gen, dass sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en erfolg­rei­cher sind, wenn sie pro­gres­si­ve­re Posi­tio­nen auf der zwei­ten Dimen­si­on einnehmen.

Abbildung 4: Wahlwahrscheinlichkeit sozialdemokratische Partei nach Bildung

Abbil­dung 4 zeigt hier exem­pla­risch unse­re Ergeb­nis­se. Wir sehen die Wahr­schein­lich­keit einer Befragungsteilnehmer*in (die Daten sind die des Euro­pean Social Sur­vey) bei der letz­ten Wahl eine sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei gewählt zu haben. Wir sehen das wie­der­um für drei unter­schied­li­che Grup­pen, sor­tiert nach Bil­dung. Die Abbil­dung zeigt die Wahl­wahr­schein­lich­keit für eine pro­gres­si­ve­re und eine weni­ger pro­gres­si­ve sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei. Wäh­rend wir für weni­ger gebil­de­te kei­ne signi­fi­kan­ten Unter­schie­de fin­den, so zeigt sich für Men­schen mit Uni­ver­si­täts­ab­schluss, dass die­se deut­lich weni­ger bereit sind, eine sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei zu wäh­len, wenn die­se weni­ger pro­gres­siv ist. Es zei­gen sich ähn­li­che Ergeb­nis­se für jun­ge Wähler*innen oder für sol­che, die in sozi­al-kul­tu­rel­len Berufs­fel­dern beschäf­tigt sind.

Zusam­men­fas­send fin­den wir also, dass im Gegen­satz zum am Anfang beschrie­be­nen Nar­ra­tiv, sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en dann erfolg­rei­cher sind, wenn sie sich stark für offe­ne Gesell­schaf­ten und Gleich­be­rech­ti­gung ein­set­zen. Der Haupt­grund dafür liegt dar­in, dass die gebil­de­te Mit­tel­schicht sich nur dann dafür ent­schei­det, eine sozi­al­de­mo­kra­ti­sche und bspw. nicht eine links-libe­ra­le oder grü­ne Par­tei zu wäh­len, wenn sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en auch die­ses Ange­bot machen.

Schlussbetrachtung

In die­sem Bei­trag habe ich dar­ge­stellt, dass sich die Kri­se sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Par­tei­en und ihr Wett­be­werb mit rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en kei­nes­wegs so ver­hal­ten, wie es in einem domi­nan­ten öffent­li­chen Nar­ra­tiv häu­fig dar­ge­stellt wird. Bei nähe­rer sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher Betrach­tung zeigt sich, dass die Arbei­ter­klas­se kei­nes­wegs die wich­tigs­te Grup­pe für die Wahl­er­geb­nis­se sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Par­tei­en ist. Aus­ser­dem konn­te ich dar­le­gen, dass migra­ti­ons­skep­ti­sche­re Posi­tio­nen nicht dazu füh­ren, dass rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei­en weni­ger erfolg­reich sind. Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en selbst sind dann erfolg­rei­cher, wenn sie pro­gres­si­ve­re Posi­tio­nen einnehmen.

Die­se Erkennt­nis­se ste­hen auch im Ein­klang mit der momen­ta­nen poli­ti­schen Ent­wick­lung in Deutsch­land. Die Land­tags­wah­len in Bay­ern und Hes­sen sowie die Ent­wick­lung der Umfra­gen auf natio­na­ler Ebe­ne zeich­nen sich dadurch aus, dass vor allem die Grü­nen neue Erfol­ge ver­bu­chen konn­ten. Die SPD hat dabei nur einen klei­nen Teil ihrer Wähler*innen an die AfD ver­lo­ren. Es sind die Grü­nen, die es geschafft haben, durch eine kla­re pro­gres­si­ve Posi­tio­nie­rung die gebil­de­te Mit­tel­schicht an sich zu bin­den und mitt­ler­wei­le von cir­ca zwan­zig Pro­zent der Deut­schen gewählt wer­den würden.


[1] Die­ser Bei­trag ist eine aus­for­mu­lier­te und leicht abge­än­der­te Fas­sung mei­ner Antritts­vor­le­sung an der Uni­ver­si­tät Zürich am 15.10.2018 mit dem Titel «Popu­lis­mus und der Wan­del des Parteienwettbewerbs»


Lite­ra­tur­ver­zeich­nis

  • Abou-Cha­di, Tarik, und Mar­kus Wag­ner. 2018. The elec­to­ral appeal of par­ty stra­te­gies in post-indus­tri­al socie­ties: when can the Main­stream Left suc­ceed? Jour­nal of Politics.
  • Abou-Cha­di, Tarik, und Wer­ner Krau­se. 2018. The Cau­sal Effect of Radi­cal Right Suc­cess on Main­stream Par­ties’ Poli­cy Posi­ti­ons. A Regres­si­on Dis­con­ti­nui­ty Approach. Bri­tish Jour­nal of Poli­ti­cal Sci­ence: Forthcoming.
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