Engagement kann Weltanschauungen verändern

Wenn sich eine Per­son län­ger­fris­tig für einen Umwelt­ver­band, ein Hilfs­werk oder eine Gewerk­schaft enga­giert, kann davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass sie die zugrun­de­lie­gen­den Wert­hal­tun­gen und Welt­an­schau­un­gen teilt. Die Fra­ge ist aller­dings, ob Mit­glie­der die­sen Orga­ni­sa­tio­nen bei­tre­ten, weil sie schon vor­her deren Welt­an­schau­un­gen tei­len oder ob sie nach ihrem Bei­tritt ihre Ansich­ten ändern. Die vor­lie­gen­de Ana­ly­se zeigt, dass bei­des vor­kommt und dass Mit­glie­der, die ihre Welt­an­schau­un­gen ändern, auch län­ger­fris­tig dar­an festhalten.

Allein im Jah­re 2017 enga­gier­te sich rund ein Drit­tel der Schwei­zer Bevöl­ke­rung für Umwelt­ver­bän­de, Hilfs­wer­ke oder Gewerk­schaf­ten. Das Enga­ge­ment reicht von finan­zi­el­len Bei­trä­gen über die Teil­nah­me an Akti­vi­tä­ten bis hin zur Beklei­dung von Frei­wil­li­gen­äm­tern in die­sen Orga­ni­sa­tio­nen. Das Enga­ge­ment ist mehr­heit­lich lang­fris­tig wie unse­re Ana­ly­se auf der Basis der Daten des Schwei­zer Haus­halt-Panels (Stu­die „Leben in der Schweiz“) zeigt.

Bei die­ser Befra­gung wur­den die­sel­ben Per­so­nen zwi­schen 1999 und 2009 jedes Jahr befragt, ob sie Mit­glied in einer der unter­such­ten Orga­ni­sa­tio­nen sind.[1] Somit kann fest­ge­stellt wer­den, ob Per­so­nen nach ihrem Bei­tritt zu einer Orga­ni­sa­ti­on dar­in ver­blei­ben oder ob sie nach kur­zer Zeit wie­der aus­tre­ten. Gra­fik 1 zeigt, dass im Unter­su­chungs­zeit­raum ins­ge­samt 58 Pro­zent der Schwei­zer Bevöl­ke­rung irgend­wann Mit­glied bei einer Orga­ni­sa­ti­on die­ser Art waren. 20 Pro­zent haben ihre Mit­glied­schaft nach einem Jahr wie­der gekün­digt, die ver­blei­ben­den 38 Pro­zent blie­ben der Orga­ni­sa­ti­on über meh­re­re Jah­re treu. Hilfs­wer­ke ver­zeich­nen etwas mehr Mit­glied­schaf­ten als Umwelt­ver­bän­de und Gewerk­schaf­ten. Der Anteil dau­er­haf­ter Mit­glied­schaf­ten ist aber bei allen Orga­ni­sa­ti­ons­ty­pen ähn­lich und liegt bei etwas weni­ger als zwei Drit­teln der befrag­ten Personen.

 

Grafik 1: Aktive und passive Mitgliedschaften in Hilfswerken, Umweltverbänden und Gewerkschaften zwischen (1999–2009*, in % der Bevölkerung)

Mit­glie­der in Hilfs­wer­ken, Umwelt­ver­bän­den und Gewerk­schaf­ten gehö­ren mehr­heit­lich der neu­en Mit­tel­klas­se an und haben eine höhe­re Aus­bil­dung. Aus­ser­dem unter­schei­den sich Mit­glie­der in die­sen Orga­ni­sa­tio­nen vom Rest der Bevöl­ke­rung auch in ihren Hal­tun­gen bezüg­lich Poli­tik und dem Zusam­men­le­ben in der Gesell­schaft. So haben Mit­glie­der in der Ten­denz ein höhe­res Ver­trau­en in die Regie­rung und in ihre Mit­men­schen und stim­men den in Gra­fik 2 prä­sen­tier­ten poli­ti­schen Ansich­ten eher zu als der Rest der Bevölkerung.

Grafik 2: Annahme politischer Meinungen nach dem Beitritt (1999–2009; %-Anteil der Bevölkerung)
Quelle: SHP 1999–2009

Mit­glie­der haben also spe­zi­fi­sche Welt­an­schau­un­gen, die im Durch­schnitt von den­je­ni­gen von Nicht­mit­glie­dern abwei­chen. Aber wann kommt die­se Abwei­chung zu Stan­de? Wer­den nur jene über­haupt Mit­glied, die bereits die Welt­an­schau­un­gen der Orga­ni­sa­ti­on tei­len (Selbst­se­lek­ti­on) oder pas­sen Mit­glie­der erst im Lau­fe ihrer Mit­glied­schaft ihre Welt­an­schau­un­gen an jene der Orga­ni­sa­ti­on an (Sozia­li­sie­rung)? Eine Sozia­li­sie­rung kann bei­spiels­wei­se statt­fin­den, weil Mit­glie­der mit Infor­ma­tio­nen ver­sorgt wer­den oder mit ande­ren Mit­glie­dern der Orga­ni­sa­ti­on in Aus­tausch stehen.

Die Ana­ly­se zeigt, dass vor allem Per­so­nen mit über­ein­stim­men­den Welt­an­schau­un­gen Mit­glie­der wer­den. Ihre Welt­an­schau­un­gen blei­ben auch nach der Mit­glied­schaft mehr­heit­lich sta­bil und zwar län­ger­fris­tig. Es gibt aber auch Neu­mit­glie­der, die vor dem Bei­tritt die Welt­an­schau­un­gen der Mehr­heit in der Orga­ni­sa­ti­on nicht tei­len. Und hier zeigt sich bei eini­gen der unter­such­ten Ansich­ten ein signi­fi­kan­ter Sozia­li­sie­rungs­ef­fekt. So haben Neu­mit­glie­der mit einem tie­fen Ver­trau­en in Mit­men­schen ein Jahr nach ihrem Bei­tritt im Durch­schnitt ein deut­lich höhe­res Ver­trau­en als im Jahr vor ihrem Beitritt.

Auch das poli­ti­sche Inter­es­se steigt signi­fi­kant. Rund eine von 20 Per­so­nen ändert grund­sätz­lich ihre Ein­stel­lung zu den in Gra­fik 2 fest­ge­hal­te­nen Aus­sa­gen. Sogar eine von zehn Per­so­nen, die sich vor ihrem Bei­tritt noch gegen eine stär­ke­re Besteue­rung hoher Ein­kom­men aus­ge­spro­chen hat, spricht sich ein Jahr nach dem Bei­tritt dafür aus. Zudem sind die hier auf­ge­zeig­ten Ver­än­de­run­gen nach­hal­tig, sprich jene Neu­mit­glie­der, die ihre Welt­an­schau­un­gen anpas­sen, tun dies längerfristig.

Dar­aus lässt sich schlies­sen, dass Orga­ni­sa­tio­nen meis­tens Mit­glie­der rekru­tie­ren, die ihre Welt­an­schau­un­gen bereits tei­len. Sie kön­nen aber auch Leu­te zum Umden­ken bewe­gen, wenn sie es schaf­fen, Per­so­nen aus­ser­halb ihrer tra­di­tio­nel­len Ziel­grup­pe für ein Enga­ge­ment zu gewinnen.

Das Schwei­zer Haus­halt-Panel („Leben in der Schweiz“)
Das Schwei­zer Haus­halt-Panel ist eine Längs­schnitt­stu­die, die zum Ziel hat, den sozia­len Wan­del und Ver­än­de­run­gen der Lebens­be­din­gun­gen in der Schweiz zu beob­ach­ten. Rund 12‘000 Per­so­nen wer­den seit 1999 jähr­lich zu einer Viel­zahl an The­men befragt wie bei­spiels­wei­se Fami­li­en- und Erwerbs­ar­beit, Ein­kom­men und Lebens­be­din­gun­gen, Frei­zeit, Gesund­heit, per­sön­li­che Bezie­hun­gen, Ein­stel­lun­gen oder Politik.

Leben in der Schweiz wird vom Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds zur För­de­rung der wis­sen­schaft­li­chen For­schung finan­ziert und von FORS, dem Schwei­zer Kom­pe­tenz­zen­trum Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, an der Uni­ver­si­tät Lau­sanne durchgeführt.


Die­ser Text basiert zu einem gros­sen Teil auf nach­ste­hen­dem wis­sen­schaft­li­chem Bei­trag. Der zitier­te Arti­kel wie­der­um ist Teil eines gros­sen For­schungs­pro­jekts, des­sen Resul­ta­te nächs­tes Jahr im Buch mit dem Titel “Con­ten­tious Minds. How Talks and Ties Sus­tain Acti­vism” ver­öf­fent­licht werden.

  • Mons­ch, Gian-Andrea and Flo­rence Pas­sy (2018). Does Com­mit­ment Chan­ge World­views? In: Till­mann, Robin, Marie­ke Voor­pos­tel and Peter Fara­go (eds.), Social Dyna­mics in Swiss Socie­ty, Life Cour­se Rese­arch and Social Poli­ci­es 9.

 

[1] Die Fra­ge nach der Mit­glied­schaft wur­de bis 2009 jähr­lich gestellt, seit 2009 wird sie nur noch alle drei Jah­re erho­ben. Des­halb beschrän­ken wir uns aus metho­di­schen Grün­den hier auf den Zeit­raum bis 2009. Aller­dings zei­gen sich bei der Mit­glied­schaft in Orga­ni­sa­tio­nen im Ver­gleich zu den heu­ti­gen Zah­len kei­ne gros­sen Ver­än­de­run­gen, wes­halb wir davon aus­ge­hen, dass die Resul­ta­te mit neue­ren Zah­len sehr ähn­lich aus­fal­len würden.

 

Bild: pixabay.com

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