Repräsentation in Textil

Im Zuge des Wandels zur «Mediendemokratie» beschränkt sich ein repräsentatives Parlament längst nicht nur auf soziostrukturelle Merkmale. Vielmehr schliesst das heutige Repräsentationsverständnis auch das Auftreten der Parlamentsmitglieder mit ein, womit zunehmend auch deren Kleidung in den Blick rückt. Doch inwiefern wird in Bundesbern mit Textil kommuniziert?

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Die Kleiderwahl der Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier sorgt in regelmässigen Abständen für Aufsehen. Unvergessen der Auftritt der ehemaligen Basler SP-Nationalrätin Anita Fetz[i], die 2001 in einem knallroten und mit Schweizerkreuz bedruckten T-Shirt für den UNO-Beitritt warb. Zu reden gab auch der Aargauer EVP-Nationalrat Heiner Studer, der 2005 in der hochsommerlichen Hitze kurzerhand mit Shorts ins Bundeshaus marschierte. Zuletzt befeuerte Nationalrat Roger Köppel (SVP/ZH) mit einem «Weltwoche»-Editorial die aktuelle Sexismus-Debatte: Köppel äusserte sich abschätzig über den Kleidungsstil seiner Parteikollegin – Nationalrätin und SVP-Vizepräsidentin Céline Amaudruz (SVP/GE) –, die er «noch nie ohne kurzen Rock oder hautenge Bluse gesehen» haben will.

Die Anekdoten verdeutlichen, dass wir als Wahlberechtigte ganz bestimmte Vorstellungen davon haben, wie unsere Volksvertreterinnen und Volksvertreter innerhalb ihrer sozialen Rolle – Parlamentarierin oder Parlamentarier – standesgemäss aufzutreten haben. In einer Online-Umfrage von «20 Minuten» gaben 55 Prozent der Befragungsteilnehmenden an, dass ihnen das Aussehen der Schweizer Politikerinnen und Politiker «sehr wichtig» sei; nur 14 Prozent ist dies egal. Auch wenn diese Erwartung über das Auftreten zu einem grossen Teil subjektiv ist, scheint übergeordnet doch ein allgemeingeteiltes Bild davon zu existieren, welches Auftreten für gewählte Politikerinnen und Politiker «repräsentativ» ist. Im gleichen Masse, wie sich Wählende begeistern, «wenn Politiker es verstehen, Haltung und Stil zu verbinden», irritieren Tabubrüche, mit denen sich gewählte Repräsentantinnen und Repräsentanten willentlich oder unwillentlich gegen gesellschaftlich kodifizierte Kleidungskonventionen stellen.

Sich wandelnde Repräsentationskonzepte und inszenierte Darstellungspolitik

Ebendiese Beobachtung sozialer Vorstellungen über «angemessene» Kleidung lässt sich mit der so genannten «Repräsentationstheorie» zusammenbringen. Über die letzten Jahrzehnte hat sich der Umfang des zentralen Konzepts der «Repräsentation» stetig erweitert. Zunächst beschränkte sich das Konzept auf soziostrukturelle Merkmale: Ein Parlament wurde dann als «repräsentativ» erachtet, wenn Alter, Geschlecht oder die Berufsstruktur der gewählten Volksvertretenden in etwa der Verteilung dieser Merkmale in der Bevölkerung glich (deskriptive Repräsentation; vgl. Lembcke 2016). Später definierte Pitkin (1967) in ihrem Standardwerk «The Concept of Representation»[i] mitunter die Kategorie der substantiellen Repräsentation: Derzufolge gilt ein Parlament dann als «repräsentativ», wenn die Parlamentsmitglieder unabhängig von ihrer sozialen oder beruflichen Zugehörigkeit, die politischen Anliegen ihrer Wählerschaft wiedergeben.

Im heutigen Verständnis schliesst die «Konstruktion der Repräsentation» (u. a. Saward 2006) gleichsam soziokulturelle Merkmale, die Wiedergabe der politischen Anliegen der Wählenden und das Auftreten an sich mit ein. Letzteres gewinnt dabei in der «Mediendemokratie» (Meyer 2002) stetig an Bedeutung, sodass mitunter nicht nur von «Entscheidungspolitik», sondern auch von «Darstellungspolitik» die Rede ist (Sarcinelli 2011). Dabei dient der hier zentrale Untersuchungsgegenstand, Kleidung, als integraler Teil der «Inszenierung von Politik». Kleidung gibt nicht nur Auskunft über den persönlichen Geschmack, «sondern repräsentiert […] die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe» (Blaha und Kuha 2012: 1) und spiegelt den sozialen Status der Trägerin bzw. des Trägers wieder. Aus der Soziologie wissen wir weiter, dass Menschen in gewissen Settings ihr Auftreten gezielt wählen, um beim Gegenüber eine bestimmte Wirkung zu erzeugen (u. a. Goffman 1956).

«Repräsentation in Textil» – auch im Schweizer Parlament?

Inwiefern kommunizieren nun die Bundesberner Parlamentsmitglieder mit Textil? Mit dieser Frage will die vorliegende Untersuchung das Augenmerk erstmals explizit auf das heute dominierende ganzheitliche Repräsentationsverständnis richten – und damit über bestehende Analysen zur deskriptiven Repräsentation im Schweizer Parlament hinausgehen (vgl. Vatter 2016).

Daten und Methodik

Die Basis der Analyse bilden die offiziellen Profilbilder der Parlamentsmitglieder gemäss der Website der Bundesversammlung. Freundlicherweise wurden sie dem Autorenteam von den Parlamentsdiensten in vergrösserter, nicht-zugeschnittener Form zur Verfügung gestellt. Der Zeitpunkt der Erhebung ist Juni 2017. Die Auswertungen beschränken sich auf die männlichen Ratsmitglieder. Ihre Profilbilder wurden nach objektivierbaren Grössen – etwa ob die Person eine Krawatte oder ein Hemd trägt – geprüft und eingeteilt.

Abbildung 1: Schickliche und lockere Kleidung nach Rat (in Prozent)

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Abbildung 1 schlüsselt das Auftreten der Parlamentarier nach den beiden Kammern auf und zeigt deutliche Unterschiede zwischen National- und Ständeräten: Während sich letztere ausnahmslos schicklich kleiden, treten erstere deutlich lockerer auf. Wie lassen sich ebendiese Profilunterschiede erklären? Interessanterweise existieren nebst den sozialen Vorstellungen, wie gewählte Parlamentsmitglieder auftreten sollen, in der Schweizerische Bundesversammlung gar formale Regeln, wie die Gewählten auftreten müssen: Während der Nationalrat im Jahr 2003 explizite Kleidervorschriften aus seinem Geschäftsreglement strich, hält der Ständerat bis heute daran fest. Artikel 33 des ständerätlichen Geschäftsreglements sieht vor, dass «die im Rat anwesenden Personen» eine «schickliche Kleidung» tragen.

Nachdem die Auslegung dieser wenig konkreten Formel wiederholt Verwirrung stiftete und im Sommer 2016 gar zu einem Saalverweis einer Bundeshausjournalistin mit schulterfreier Bluse führte, präzisierte der damalige Ständeratspräsident Raphaël Comte (FDP/NE) «schickliche Kleidung» wie folgt: Ständerätinnen tragen dem «offiziellen Charakter angemessene Kleidung», die «auf jeden Fall» die Schultern bedecke. Ständeräte wählen dem «offiziellen Charakter des Ortes angemessene Kleidung, mindestens aber Hemd, Veston und Krawatte oder Fliege». So sind die Differenzen im Auftreten schlicht eine Folge der formalrechtlichen Anforderungen: Letztere schränken die Mitglieder der Kantonskammer in ihren Möglichkeiten, mit Textil zu kommunizieren und damit Politik zu inszenieren, institutionell ein.

Während im Ständerat der geltenden Rechtslage willen also ausnahmslos zu Hemd, Veston und Krawatte gegriffen wird[i], verzichtet knapp jeder fünfte Nationalrat auf eine Krawatte und trägt das Hemd offen oder gar nur ein T-Shirt. Wer aber sind die nationalrätlichen Parlamentarier, die sich locker, informell statt klassisch, förmlich kleiden?

Bestätigtes Klischee der lockeren Linken und rechtes Zurschaustellen besonderer Interessen

Abbildung 2 zeigt die Verteilung der schicklich gegenüber den locker gekleideten Nationalräten nach parteilich-ideologischer Färbung.[i] Das landläufige Klischee bestätigend, wird deutlich, dass es vor allem Abgeordnete des linken Lagers sind – SP, Grüne und PdA –, die sich locker gekleidet präsentieren.

Abbildung 2: Schickliche und lockere Kleidung nach Links-Rechts-Positionierung (in Prozent aller Nationalräte des jeweiligen politisch-ideologischen Lagers)

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Was ergibt die Analyse der Parlamentarierfotos noch? Bei der Auswertung der Profilbilder fällt ein weiteres Merkmal auf, welches selbst keine Kleidung darstellt, aber ebenfalls als Kommunikationsmittel in Verbindung mit Kleidung eingestuft werden kann. Es handelt sich hierbei um Pins und Anstecknadeln. Immerhin gut jeder vierte Parlamentarier in National- und Ständerat trägt ein solches Accessoire. Es tritt in verschiedenen Varianten auf, vor allem in Gestalt von Kantonswappen, als Logo der Vereinigten Bundesversammlung, als Schweizerkreuz oder aber als Emblem eines Service Clubs (Rotary Club, Lions Club, Kiwanis Club).

In der Tendenz ergibt die Verteilung nach ideologisch-parteilichem Lager ein Muster: Je weiter rechts eine Partei, desto höher der prozentuale Anteil der Parlamentarier, die eine Anstecknadel tragen. Dies gilt in besonderem Masse für das Inszenieren der eigenen Kantonszugehörigkeit sowie für das Tragen eines Ansteckers von einem Service Club. So ist das Zurschaustellen besonderer Interessen vor allem bei Mitgliedern von Parteien des politisch rechten Spektrums zu finden.[i]

Abbildung 3: Anstecknadeln (in Prozent aller National- und Ständeräte des jeweiligen politisch-ideologischen Lagers)

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Wie lassen sich die Befunde zusammenfassen? Insgesamt spielt Kleidung auch in der Politik eine Rolle. Mit Kleidung wird kommuniziert und repräsentiert. Inwiefern man sich als Wählerin oder als Wähler nicht nur durch politische Inhalte, sondern auch durch das Auftreten der Parlamentsmitglieder vertreten oder angesprochen fühlt, bleibt jedoch offen und muss weiter Inhalt einer vertieften Auseinandersetzung mit ganzheitlichen Repräsentationskonzepten sein.

Lange Nacht der Forschung

Der vorliegende Beitrag war Teil der Präsentation des Instituts für Politikwissenschaft und des Année Politique Suisse an der Nacht der Forschung 2017 der Universität Bern. Die Präsentation nahm sich dem Themenschwerpunkt „Monitoring des Schweizer Parlaments – Hintergründiges aus den Sessionen“ an. Die einzelnen politikwissenschaftlichen Beiträge standen unter folgendem Motto: „Was sie schon immer über unser Parlament wissen wollten, aber gar nicht wussten, dass man danach fragen könnte.“


[i] Seit dem 1. Dezember 2003 ist Anita Fetz Ständerätin des Kantons Basel-Stadt.

[ii] In «The Concept of Representation», mit dem Pitkin (1967) den zentralen Beitrag zur Repräsentationsforschung geliefert hat, wird zwischen formeller, deskriptiver und symbolischer sowie substantieller Repräsentation unterschieden (ebd.: 38 ff.). Während formelle und substantielle Repräsentation die Handlungen der Repräsentanten zugunsten der Repräsentierten beschreibt (acting for), geht es bei der deskriptiven (sichtbaren) und symbolischen (nicht-sichtbaren) Repräsentation darum, inwiefern Vertreterinnen und Vertreter ihre Basis tatsächlich darstellen und abbilden (standing for).

[iii] SR Thomas Minder (parteilos/SH) trägt auf seinem Foto zwar Hemd und Krawatte, jedoch keinen Veston. Er wurde dennoch als «schicklich» gekleidet eingeteilt, da davon auszugehen ist, dass er den Veston nur für das Foto abgelegt hat.

[iv] Die Parteien wurden wie folgt auf der Links-Rechts-Achse verortet: Links = SP, Grüne, PdA; Mitte-links = GLP; Mitte = CVP, CSP-OW, BDP; Mitte-rechts = FDP; Rechts = SVP, MCG, Lega, parteilos.

[v] Bei der Differenzierung des Tragens von Anstecknadeln nach Unterkategorien sowie deren Auflösung nach ideologisch-parteilicher Gruppenzugehörigkeit ergeben sich mitunter sehr kleine Fallzahlen. Die deskriptiven Ergebnisse sind folglich mit Vorsicht zu interpretieren.

Literaturverzeichnis

  • Blaha, Barbara und Sylvia Kuba. 2012. Das Ende der Krawattenpflicht. Wie Politikerinnen in der Öffentlichkeit bestehen. Wien: Czernin.
  • Goffman, Erving. 1956. The Presentation of Self in Everyday Life. Edinburgh: University of Edinburgh, Social Sciences Research Centre.
  • Lembcke, Oliver W. (2016). “Theorie demokratischer Repräsentation.“ In Zeitgenössische Demokratietheorie, hrsg. v. Oliver W. Lembcke, Claudia Ritzi und Gary S. Schaal. S. 23–58. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
  • Meyer, Thomas (2002). Media Democracy. How the Media Colonize Politics. Cambridge: Polity.
  • Pitkin, Hanna F. (1967). The Concept of Representation. Berkeley, CA: University of California Press.
  • Sarcinelli, Ulrich (2011). Politische Kommunikation in Deutschland: Medien und Politikvermittlung im demokratischen System (3., erweiterte und überarbeitete Auflage). Wiesbaden: Springer-Verlag.
  • Saward, Michael (2006). The Representative Claim. Contemporary Political Theory 5(3): 297–318.
  • Vatter, Adrian (2016). Das politische System der Schweiz (2., aktualisierte Auflage). Baden-Baden: Nomos.

Bild: admin.ch

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