Die Annahme, dass die Sozialdemokratische Partei der Schweiz eine «Elitenpartei» geworden sei, greift klar zu kurz. So zeigt sich, dass die Repräsentation der SP-Wählenden je nach betrachtetem Politikfeld variiert. Hochgebildete Personen werden insgesamt nur bei spezifischen Themen besser vertreten. Dementsprechend vertritt die SP teilweise auch bildungsfernere Personen in ihrer Wählerschaft. Um möglichst viele Bürgerinnen und Bürger zu vertreten, versucht sich die Partei deshalb im «Repräsentationsspagat”.
Interne Diskussionen bezüglich der inhaltlichen Positionierung sind keine Neuerscheinung für die politische Linke der Schweiz. In den vergangenen Monaten und Jahren traten diese wieder vermehrt an die Oberfläche und ins mediale Bewusstsein. Während vornehmlich die Jungsozialisten eine strikt linke Wirtschaftspolitik und somit einen Ausbau des Sozialstaates, sowie staatliche Eingriffe in Wirtschaft und Lohnmanagement fordern, wächst innerhalb der Mutterpartei SP Widerstand gegen solche Forderungen. Dieser zeigt sich unterschiedlich, gemein war dem Winderstand zumeist die Ablehnung stark ökonomisch-linker Positionen. Einige Parteivertreter forderten die Parteispitze dazu auf, sich wirtschaftspolitisch mehr in die Mitte zu bewegen und vor allem kulturelle Themen zu besetzen.
Dieser internen Uneinigkeit liegt die in den vergangenen 40 Jahren erfolgte kulturelle Neuausrichtung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz zu Grunde, welche neue Themen in ihre politische Agenda aufzunehmen begonnen hat. Während sich die SP in ihren Anfängen klar als Arbeiterpartei positionierte und ökonomisch linke Themen als ihr Politikfeld betrachtete, wandelte sich dies spätestens in den 1970er Jahren endgültig. Mit dem neuentstandenen Bewusstsein für kulturelle Themen wie Geschlechtergleichheit, Umweltverschmutzung oder Migration, übernahm die SP nun aber auch die zu Beginn vornehmlich von linksalternativen Parteien und Bewegungen propagierten Positionen der 68er-Generation. Damit begann für die Partei eine Abkehr vom klassischen Elektorat – der Arbeiterklasse – hin zu den sogenannten „sozio-kulturellen Spezialisten“, die heute das Hauptelektorat der Sozialdemokratischen Partei bilden (Oesch und Rennwald 2010a). Zu dieser Gruppe gehören Berufsgattungen mit hohem Bildungsgrad, die selten im produktiven Sektor, sondern hauptsächlich im Dienstleistungssektor tätig sind.
Aufgrund der langen historischen Bindung an die Arbeiterschicht und durch die weiterhin starke politische Verknüpfung mit den Gewerkschaften blieb die SP ihren ökonomisch-linken Positionen jedoch stets treu. Auf der politischen Agenda verloren diese Themen als wahlbestimmender Faktor aber ihre Relevanz. Die SP formt seither zusammen mit den Grünen als «links-liberaler» Pol des schweizerischen Politikraums (Leimgruber et. al 2010). Tatsächlich zeigt sich bei den Kandidaten und Kandidatinnen der SP auch bei den Wahlen 2015 eine Geschlossenheit was die beiden betrachteten Fragen zum AHV-Alter und zur Aufnahme von Flüchtlingen betrifft. Die innerparteilichen Unterschiede scheinen zumindest bei diesen Wahlen noch kaum existent zu sein.
Abbildung 1: Der Wert 4 entspricht hier der Zustimmung („Ja“), das AHV-Alter auf 67 zu erhöhen. Der Wert 3 bedeutet „eher ja“, der Wert 2 „eher nein“. Der Wert 1 entspricht der Ablehnung desselben („Nein“). Es zeigt sich hier eine, mit wenigen Ausnahmen, ziemlich geschlossene Haltung der Kandidierenden der SP bei einem zentralen ökonomischen Politikfeld.
Der «Repräsentationsspagat» der SP
Die internen Differenzen zeigen sich jedoch exemplarisch, wenn beispielsweise die Frage bezüglich der Erhöhung des Rentenalters betrachtet wird. Was in der Debatte über solch interne Unterschiede oft wenig beachtet wird, ist die Frage nach der Repräsentation der potenziellen Wähler und Wählerinnen der SP auf der ökonomischen und kulturellen Politikdimension. Gerade hinsichtlich des erfolgten Wählerverlusts in der Arbeiterschicht ist dies jedoch von grösster Relevanz für die Ausrichtung der Partei. Tatsächlich zeigen sich die grössten Unterschiede auf der Seite der potenziellen Wählerinnen und Wähler. So werden Personen mit einem Hochschulabschluss bei kulturellen Themen deutlich besser von den SP-Kandidierenden vertreten werden, Personen mit einem Mittelschulabschluss oder einem tieferen Ausbildungsgrad. Es zeigt sich gar, dass je tiefer der Bildungsgrad einer Person ist, diese desto schlechter repräsentiert wird. Am schlechtesten werden Personen mit Berufslehre repräsentiert.
Abbildung 2: Auf dieser Grafik wird die unterschiedliche Repräsentation der verschiedenen Bildungsschichten der potenziellen SP-Wählern und Wählerinnen auf der kulturellen Politikdimension ersichtlich: Desto näher sich eine Gruppe dem Wert 0 befindet, desto geringer ist ihre Distanz zum Mittelwert der SP-Kandidierenden bezüglich der Frage, mehr Flüchtlinge in die Schweiz aufzunehmen. Die Wählenden dieser Gruppe werden demnach besser repräsentiert, als diejenigen, die sich weiter weg vom Wert 0 befinden. In diesem Fall sind dies die Personen mit Hochschulabschluss (Tertiär), welche besser repräsentiert werden als die anderen potenziellen Wähler und Wählerinnen der SP.
Der diametral gegenüberliegende Effekt wird ersichtlich, wenn wirtschaftspolitische Themen betrachtet werden: Hier kann gezeigt werden, dass besonders bildungsfernere Wählerinnen und Wähler der SP besser repräsentiert werden. Sie befürworten eine Erhöhung des AHV-Alters deutlich weniger, als es Personen tun, die einen Mittel- oder Hochschulabschluss aufweisen können. Einen linearen Effekt gibt es hier aber nicht: In der Repräsentation klafft eine Lücke auf, sobald ein potenzieller SP-Wähler einen Mittelschulabschluss vorweisen kann. Dieser Befund widerspricht der Annahme der «unequal Representation», dass tiefergebildete Personen generell schlechter repräsentiert werden. Innerhalb eines spezifischen Parteielektorats scheint es also wichtig zu sein, die Repräsentation nicht anhand einer Links-Rechts Achse zu messen, sondern verschiedene Themen- und Politikfelder miteinzubeziehen. Die SP ihrerseits macht quasi einen Spagat: Bei kulturellen Themen vertritt sie die bildungsnäheren Wähler, bei ökonomischen Themen die bildungsferneren Wähler besser.
Abbildung 3: Hier zeigt sich der umgekehrte Effekt bei ökonomischen Themen: Personen mit tieferer Bildung befinden sich durchschnittlich näher beim Wert 0 und somit den Positionen der SP-Kandidierenden. Sie werden demnach besser repräsentiert als Personen, die einen Mittel- oder Hochschulabschluss aufweisen. Zwischen den Hoch- oder Mittelschulabsolventen zeigen sich in der Repräsentation aber keine Unterschiede.
Wahlerfolg oder Misserfolg der SP durch bessere Repräsentation?
Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Sozialdemokratische Partei und die ideologische Ausrichtung ihrer Kandidierenden? Die Positionierung sowohl am kulturell-liberalen, als auch am ökonomisch linken Pol der jeweiligen Politikdimensionen führt zwar einerseits dazu, dass die SP grundsätzlich eine breite potenzielle Wählerschaft vertreten kann. Im Idealfall kann die SP also sowohl bei kulturellen als auch bei ökonomischen Fragen verschiedene soziale Gruppen vertreten und sogar zu einer Wahl ihrer Partei bewegen. Jedoch zeigen diese Resultate auch Probleme auf: Die SP vertritt immer eine Bildungskategorie schlechter, wenn sie die andere besser vertritt. Dies kann für die Partei dann problematisch werden, wenn sich die politische Relevanz einer Dimension und der ihr zugehörigen Themen verändert. Wenn beispielsweise kulturelle Themen wie die Flüchtlings-oder Ausländerfrage zum wahlentscheidenden Politikfeld werden, ist es möglich, dass sich bildungsfernere Wähler von der SP abwenden, weil sie von den Kandidierenden schlechter repräsentiert werden.
Gerade dieses Phänomen zeigt sich bei der SP in den letzten Jahrzehnten: Die Abwanderung einer hohen Anzahl ihrer Stammwählerinnen und -wähler aus der Arbeiterschicht an die SVP ist darin mitbegründet, dass neue kulturelle Themen für diese Wählenden relevanter wurden und die politische Agenda in dieser Zeit dominiert haben. Der Erfolg oder Misserfolg der Sozialdemokraten bei Wahlen in den nächsten Jahren dürfte demnach nicht zuletzt davon abhängig sein, inwiefern es der Partei gelingen wird, den zweidimensionalen Spagat in der Repräsentation verschiedener Gruppen ihrer Wählerschaft zu meistern. Spannend wird auch zu sehen sein, ob er der SP gelingen wird, die Lücken in der Repräsentation zu verkleinern und somit die potenzielle Wählerschaft zu erhöhen.
Referenzen
- Bornschier, Simon (2015): The New Cultural Conflict, Polarization, and Representation in the Swiss Party System, 1975–2011. Swiss Political Science Review 21(4), 680–701.
- Kitschelt, Herbert (1994): The Transformation of European Social Democracy. Cambridge University Press.
- Leimgruber, Philipp, Hangartner, Dominik und Leemann, Lucas (2010): Comparing Candidates and Citizens in the Ideological Space. Swiss Political Science Review 16(3), 499–531.
- Lutz, Georg (2016): Eidgenössische Wahlen 2015. Wahlteilnahme Und Wahlentscheid. Lausanne: FORS.
- Oesch, Daniel und Rennwald, Line (2010a): The Class Basis of Switzerland’s Cleavage between the New Left and the Populist Right. Swiss Political Science Review 16, 343–371.
- Oesch, Daniel und Rennwald, Line (2010b) : Un électorat divisé? Les préférences politiques des classes sociales et le vote de gauche en Suisse en 2007. In: Nicolet, Sarah und Sciarini, Pascal (Hrsg.): Le destin électoral de la gauche: Le vote socialiste et vert en Suisse. Genève: Georg, 257–291.
- Rennwald, Line (2014): Class (non) voting in Switzerland 1971–2011: Ruptures And Continuities in a Changing Political Landscape. Swiss Political Science Review 20(4), 550–572.
- Sciarini, Pascal (2010): Le potentiel électorat des partis de gauche. In: Nicolet, Sarah und Sciarini, Pascal (Hrsg.): Le destin électoral de la gauche: Le vote socialiste et vert en Suisse. Genève: Georg, 87-129.
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