In den vergangenen hundert Jahren lösten sich im Zürcher Kantonsrat mehrere Generationen von Parlamentariern ab. Zwar hat sich die Struktur des Rates in dieser Zeit in mancherlei Hinsicht gewandelt – doch weist sie auch überraschende Konstanten auf.
1917 löste das moderne Verhältniswahlrecht den traditionellen Majorz für die Wahl des Zürcher Kantonsrats ab: Am 7 Juli 2017 wurde das hundertjährige Jubiläum mit einer erstmals auswärtigen Sitzung, die in Winterthur anstatt im Zürcher Rathaus stattfand, gebührend gefeiert. Zu diesem Anlass wurde auch eine Datenbank der rund 2300 Ratsangehörigen der 27 Legislaturen der Proporzperiode öffentlich zugänglich gemacht. Auf ihrer Grundlage lässt sich erstmals überblicken, wie sich das Zürcher Kantonsparlament langfristig entwickelt hat.[1]
Sesselkleber werden seltener …
Im Schnitt gehören die Zürcher Volksvertreter dem Rat während rund zweier Legislaturen an: Seit 1935 sind dies acht Jahre, vorher sechs (Abbildung 1). Im Lauf der Zeit deutlich seltener geworden sind hingegen Räte, die sich durch ausserordentlich zähes Sitzleder auszeichnen: Amtsdauern von mehr als einem Vierteljahrhundert, wie sie in der Generation derer, die ihre Karriere in der Zwischenkriegszeit begannen, noch öfters vorkamen, gibt es seither kaum mehr. Wegen der offenen Dauer der Ratskarriere der gegenwärtigen Amtsträger ist das letzte Wort zwar noch nicht gesprochen: Doch die 36 Jahre, die der Rekordhalter, SP-Kantonsrat Jakob Peter (von 1929-1967) im Kantonsrat sass, dürften wohl kaum übertroffen werden. Die aktuell amtsälteste Kantonsrätin, Gabi Petri (Grüne), die 1991 in den Rat gewählt wurde, müsste dazu noch mindestens zehn Jahre ausharren.
Abbildung 1: Dauer der Ratszugehörigkeit nach Erstlegislatur 1917-2015
Erläuterung: Einbezogen sind nur Kantonsräte die bereits ausgetreten sind. Aus diesem Grund lässt sich Verteilung der Amtsdauern ab der Erstlegislatur 1991 noch nicht abschliessend beurteilen.
… und Nachrutschen beliebter
In der Vergangenheit erneuerte sich der Rat vornehmlich zu Legislaturbeginn, also erwartungsgemäss mit der Wahl. Bis in die 1950er Jahre lag der Anteil derer, die im Verlauf der Legislatur nachrutschten bei etwa 10%. Seither hat er sich sukzessive auf rund einen Viertel erhöht. was bedeutet, dass in der Regel etwa gleich viele Räte während der Amtsperiode ein- (und entsprechend auch aus-)treten wie zu deren Beginn. Begründet ist dieses Phänomen wohl vor allem in der berechtigten Spekulation auf den Bisherigenbonus bei der folgenden Wahl.
Konstante Altersverteilung im Rat
Im Jahrhundert seit der Einführung des Proporzes ist das mittlere Alter der erwachsenen Schweizer Bevölkerung um etwa zehn Jahre, von 37 auf 47 Jahre angestiegen. Von diesem demographischen Grosstrend ist im Kantonsrat freilich nichts zu spüren. Das mediane Alter der Kantonsräte zu Legislaturbeginn bewegt sich eng um einen Mittelwert von etwa 49 Altersjahren (Abbildung 2). Ein langfristiger Trend ist nicht erkennbar. Zwar gab es Zeiten, wie etwa die 1950er Jahre in denen der Rat stetig älter wurde: Die politische Windstille verminderte damals die personelle Erneuerung – und so wurden einfach dieselben Räte gemeinsam älter.
Abbildung 2: Altersverteilung im Zürcher Kantonsrat am Legislaturbeginn 1917-2015
Die Ratsmitglieder rekrutieren sich zudem aus einem engen Alterssegment und auch diesbezüglich sind keine langfristigen Trends auszumachen: 1917 wie 2015 waren 80% der Kantonsräte zwischen 36 und 62 Jahre alt. Sehr junge Kantonsräte, wie etwa Martin Bäumle, der den Sprung in den Rat, damals noch für die Grünen 1987 mit 23 schaffte, waren stets die grosse Ausnahme.
Dem gesellschaftlichen Trend geradezu entgegen verläuft die Entwicklung überraschenderweise beim Anteil der – freilich stets raren – hochaltrigen Räte: Über 70-Jährige finden sich gehäuft nur in den 1920er Jahren. Auch der kantonsrätliche Altersrekord wurde bereits 1923 aufgestellt: Der Arbeiterführer Herman “Papa” Greulich war zu Beginn seiner letzten Legislatur 81-jährig.
Gestern Magistraten – heute Unternehmer
Vergleicht man die gegenwärtige Berufslandschaft des Kantonsrats – impressionistisch in Abbildung 3, systematisch in Abbildung 4 – mit jener vor dem zweiten Weltkrieg so ist eines augenfällig: Früher war das Zürcher Parlament deutlich stärker durch Magistratspersonen geprägt als heute. Der Anteil der Parlamentarier, die auch noch andere politische Ämter bekleiden, zumeist Gemeinderäte oder -Präsidenten hat, ebenso wie derjenige der ebenfalls gewählten Richter, deutlich abgenommen.
Dasselbe gilt auch für die Landwirte, die sich 1917 in einer eigenen Bauernpartei – der Urahnin der heutigen SVP – organisierten. Ihr Anteil am Rat betrug bis in die 1950er-Jahre meist über 10%, in neuerer Zeit liegt er bei etwa 7% – ein erkleckliches Kontingent noch immer, bedenkt man, dass die Landwirtschaft im Kanton Zürich heute nur noch einen von hundert Beschäftigten stellt.
Abbildung 3: Berufe im Zürcher Kantonsrat vor 1939 … und nach 1990
Lehrer gehörten dem Rat stets an: Stark zu nahm ihr Anteil aber erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Es ist wohl kein Zufall, dass sie gehäuft der SP angehörten, die sich damals von der klassischen Arbeiterpartei zur Partei der modernen soziokulturellen Spezialisten mauserte.
Abbildung 4: Geschlechter und ausgewählte Berufsgruppen im Zürcher Kantonsrat 1917-2015
Zum festen Grundstock des Kantonsrats gehören hingegen die Rechtsanwälte, mit einem soliden Anteil von rund 5% – während “Unternehmer” und “Geschäftsführer” den Rat heute fast schon ähnlich stark prägen wie die Magistraten der Vorkriegszeit.
Die radikalste soziale Veränderung der Ratsstruktur wurde aber zweifellos durch die Einführung des Frauenstimmrechts auf kantonaler Ebene 1970 ausgelöst. 1971 wurden die ersten sechs Frauen in den Rat gewählt, und in den acht Folgelegislaturen stieg ihr Anteil rasch auf rund einen Drittel; seither hat sich das Wachstum der Frauenvertretung allerdings verlangsamt.
[1] Dieser Beitrag beruht auf einer Präsentation des Autors anlässlich der Veranstaltung “100 Jahre Proporz im Kanton Zürich” in Winterthur am 7.7.2017.