Die Veränderungen der Nutzungsgewohnheiten von Nachrichtenmedien führt in der Deutsch- und Westschweiz zwar nicht zu einer größeren Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit, aber zu einer qualitativen Verschiebung: Die Tagesschau als zentrales Integrationsmedium wird abgelöst vom Gratismedium 20.Minuten und der indirekten Nachrichtenmediennutzung über Facebook, bluewin.ch und Suchmaschinen.
Aus Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer stellt die Digitalisierung der Informationsmedien eine deutliche Vereinfachung dar: Noch nie konnten sie auf so viele verschiedene Informationsquellen so einfach und kostengünstig – auf den ersten Blick sogar meist kostenlos – zugreifen. Entsprechend haben sich ihre Nutzungsgewohnheiten deutlich verändert. Zu beobachten sind einerseits eine Individualisierung der direkten Nutzung von Informationsmedien und andererseits eine Zunahme der indirekten Nutzung von Informationsmedien über die sogenannten New Information Intermediaries, also Suchmaschinen, soziale Netzwerke und Nachrichten-Aggregatoren wie beispielsweise die Einstiegsseiten vieler Freemailer.
Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive können diese veränderten Nutzungsgewohnheiten aber mitunter problematisch sein. Der folgende Beitrag beleuchtet auf Basis einer standardisierten Online-Befragung der Bevölkerung in der Deutsch- und Westschweiz drei dieser durch die veränderten Nutzungsgewohnheiten auftretenden Problemstellungen: den Verlust der Anbindung an die politische Öffentlichkeit durch Nachrichtenmedien („public disconnection“), die mögliche Fragmentierung der Publika in der Online-Öffentlichkeit und die wachsende Bedeutung der indirekten Informationsmediennutzung.
1. Public disconnection
Nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Bevölkerung in der Deutsch- und Westschweiz nutzt die wachsende Wahlfreiheit dazu, sich überhaupt nicht über politische Nachrichtenmedien zu informieren. Allerdings ist die Anbindung von 9,5 Prozent der Bevölkerung als prekär zu bezeichnen: Sie nutzen kein einziges Nachrichtenmedium regelmäßig. Bei weiteren 19 Prozent ist die Anbindung eher einseitig, da sie nur auf ein einziges Nachrichtenmedium regelmäßig zugreifen, d.h. mehr als drei Mal die Woche. Aber über ein Drittel der Schweizer Bevölkerung greift regelmäßig auf bis zu drei Nachrichtenmedien zu, ein weiteres Drittel informiert sich sogar noch intensiver und vielfältiger über politische Themen.
Abbildung 1: Verbreitung verschiedener Formen der Anbindung an die politische Öffentlichkeit
Basis: Anteil der verschiedenen Formen der öffentlichen Anbindung in Prozent mit prekär = kein einziges Medium > drei Mal/Woche, einseitig = ein Medium > drei Mal/Woche, vielfältig = bis zu drei Medien > drei Mal/Woche, intensiv = vier Medien oder mehr werden regelmäßig genutzt. Standardisierte Online-Bevölkerung der Deutsch- und Westschweiz im März 2016 (n = 2.008)
2. Fragmentierung in der Online-Öffentlichkeit
Eine Fragmentierung der Nachrichtenmediennutzung liegt dann vor, wenn die Bevölkerung die größeren Auswahlmöglichkeiten im Internet dazu nutzt, um sich zunehmend über jeweils unterschiedliche Medien zu informieren. Anders ausgedrückt, zur Fragmentierung kommt es, wenn die Integrationsmedien an Bedeutung verlieren, also diejenigen Nachrichtenmedien, auf die ein Großteil der Bevölkerung zumindest gelegentlich zugreift, davon ausgehend, dass dies auch der Rest der Bevölkerung tut. Die Themenschwerpunkte der Integrationsmedien stellen dann für sie einen Näherungswert an die Gesamtagenda der politischen Gemeinschaft dar. Ohne Integrationsmedien ist zu befürchten, dass der Gesellschaft ein gemeinsames Repertoire an zu bearbeitenden Problemstellungen und darauf bezogenen politischen Positionen verloren geht.
Um zu überprüfen, inwieweit die Digitalisierung die Fragmentierung der Schweizer politischen Öffentlichkeit verstärkt, werden an dieser Stelle diejenigen Befragten, die sich ausschließlich oder überwiegend über Offline-Medien informieren („Offliner“, n= 949), mit denjenigen Befragten verglichen, die sich ausschließlich oder überwiegend über Online-Medien informieren („Onliner“, n=1.059). Auf diese Weise lässt sich der Wandel in den Nutzungsgewohnheiten durch Digitalisierung am ehesten auch auf Basis eines einzigen Erhebungszeitpunkts abbilden.
Für beide Gruppen wird nun mittels Netzwerkanalyse näher betrachtet, wie sehr sich die Publika der einzelnen Nachrichtenmedien überschneiden. Für beide Netzwerke gilt, je größer der jeweilige Knotenpunkt, desto größer ist die Gesamt-Reichweite des Mediums innerhalb der Gruppe der „Offliner“. Der größte Knoten ist die Tagesschau, die von 62 Prozent der Offliner zumindest einmal die Woche gesehen wird, gefolgt von 10 vor 10 mit 51 Prozent und 20 Minuten mit 45 Prozent (weitere 15 Prozent nutzen eine französische Print-Ausgabe von 20 Minuten). Auch das wichtigste Online-Angebot unter Offlinern ist die Webseite der Gratiszeitung (27 Prozent).
Je näher zwei Knoten im Netzwerk an einander liegen, desto größer sind die Publikumsüberschneidungen, d.h. beispielsweise nutzen verhältnismäßig viele Leserinnen und Leser des Tagesanzeiger auch dessen Webseite. Das Publikum der Medien am Rande des Netzwerks nutzt dagegen verhältnismäßig wenig andere Medien bzw. wird selten von anderen Publika mitgenutzt.
Abbildung 2: Publikumsüberschneidungen unter den „Offlinern“ in der Deutsch- und West-Schweiz
Basis: repräsentative Online-Befragung der Deutsch- und Westschweiz im März 2016 (Offliner = 949). Knoten: Nutzungswahrscheinlichkeit in Prozent. Kanten: überzufällige Publikumsüberschneidung in Prozent zu jeweils anderem Medium. Netzwerkanalyse mit gephi (Yifan-Hu Algorithmus).
Auffällig aber selbsterklärend ist die sprachliche Trennung in eine französisch-sprachige und eine deutsch-sprachige Teilöffentlichkeit. In der Mitte nehmen einzelne Medien eine Brückenrolle ein, etwa die mehrsprachigen Webseiten des SRF oder von bluewin.ch. Vor allem finden sich hier die New Information Intermediaries wie etwa Facebook und Suchmaschinen, d.h. in beiden Sprachregionen genutzte Plattformen, die den Nutzerinnen und Nutzer individualisierte, also auch an die jeweilige Sprachpräferenz angepasste Informationen bereitstellen.
Die regionalen Tageszeitungen sind eher am Rand zu finden, d.h. sie haben ein regional zugeschnittenes Publikum und werden nur selten von den Publika anderer Medien gelesen. Aus Perspektive der Gesamtöffentlichkeit beruhigend ist aber, dass der Großteil ihres Publikums, beispielsweise 97 Prozent des Offliner-Publikums der Aargauer Zeitung, zusätzlich auf Integrationsmedien wie die Tagesschau zugreift (bei den Onlinern sind es noch 77 Prozent).
Abbildung 3: Publikumsüberschneidungen unter den „Onlinern“ in der Deutsch- und West-Schweiz
Basis: repräsentative Online-Befragung der Deutsch- und Westschweiz im März 2016 (Onliner = 1.049). Knoten: Nutzungswahrscheinlichkeit in Prozent. Kanten: überzufällige Publikumsüberschneidung in Prozent zu jeweils anderem Medium. Netzwerkanalyse mit gephi (Yifan-Hu Algorithmus).
Bei der Betrachtung der Publikumsüberschneidungen für diejenigen, die sich überwiegend oder ausschließlich online informieren, fällt zuerst auf, dass sich die Größe der Knoten verändert hat. Das meistgenutzte Nachrichtenmedium ist jetzt Facebook, 58 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer informieren sich mindestens einmal die Woche hier über Politik. An zweiter Stelle folgt die Webseite der Gratiszeitung 20 Minuten mit 47 Prozent, plus weitere 16 Prozent für das französische Angebot. Die Tagesschau erreicht nur noch 45 Prozent, die SRF-Webseite liegt bei 39 Prozent. Das wichtigste Print-Angebot ist wiederum 20 Minuten (34 Prozent plus 13 Prozent auf Französisch).
Zwar finden wir keine größere Fragmentierung unter den Onlinern, vom „Rösti-Graben“ abgesehen überschneiden sich die Publika der verschiedenen Nachrichtenmedien weiterhin sehr stark. Aber unter den Integrationsmedien hat eine Verschiebung stattgefunden von Angeboten des öffentlichen Medienhaus SRG zu einer Gratiszeitung und indirekten, stark individualisierten Nachrichten-Zugriffsportalen.
3. Zunahme der individualisierten, indirekten Nutzung von Informationsmedien
Bei der indirekten Informationsnutzung steuern die Nutzerinnen und Nutzer die Nachrichtenmedien nicht direkt über deren Webseite oder App an, sondern werden über einzelne Beiträge auf den New Information Intermediaries, also in der Ergebnislisten von Suchmaschinen, in sozialen Netzwerk oder über Nachrichten-Aggregatoren zu diesen weitergeleitet. In der Deutsch- und West-Schweiz nutzen zwei Drittel der Bevölkerung eine der diversen Formen des indirekten Nachrichtenzugriffs. An erster Stelle steht Facebook mit 36 Prozent, gefolgt von Suchmaschinen mit 34 Prozent und Bluewin.ch als Nachrichten-Aggregator mit 24 Prozent. Auch wenn man die Nutzerinnen und Nutzer fragt, welche der genutzten Nachrichtenangebote für sie zu den drei wichtigsten gehören, werden diese indirekten Nachrichtenplattformen noch um die sieben Prozent aus.
Rechnet man nun diese indirekte Nutzung von Nachrichtenmedien heraus bei der Frage danach, wie gut die Schweizerinnen und Schweizer an die politische Öffentlichkeit angebunden ist, verdoppelt sich der Anteil der prekär Angebundenen auf 18 Prozent. Knapp neun Prozent der Bevölkerung haben also nur durch indirekte Nutzung regelmäßig Kontakt zu Nachrichtenmedien (vgl. Abbildung 1).
Abbildung 4: Anteil der Nutzerinnen und Nutzer von New Information Intermediaries in Deutsch- und Westschweiz
Basis: Anteil in Prozent, die das Medium mind. einmal/Woche nutzen. Repräsentative Online-Bevölkerung der Deutsch- und Westschweiz im März 2016 (n = 2.008)
Dies ist deswegen bedeutsam, weil die Rezeptionssituation beim Zugriff auf Nachrichtenmedien über die New Information Intermediaries eine andere ist als beim direkten Zugriff auf die Webseiten traditioneller Nachrichtenmedien: Deren Beiträge konkurrieren hier unmittelbar mit den Beiträgen alternativer Nachrichtenquellen (mit unterschiedlicher journalistischer Qualität und z.T. starken politischen Verzerrungen), kommerzieller Link-Portale oder von Satire-Seiten. Dies erschwert den Nutzerinnen und Nutzern die Bewertung der Glaubwürdigkeit der Beiträge auf Basis der Reputation der Quelle und verstärkt die Bedeutung von Empfehlungen, inhaltlicher Konsistenz und Bestätigung der eigenen Ansichten als Strategien für die Bewertung und Auswahl von Beiträgen, also die Entstehung der befürchteten Filterblasen.
Der Blick auf die Individualisierung der direkten Nutzung von Informationsmedien in der Schweiz zeigt, dass Fragmentierung per se nicht das zentrale Problem ist: Es bestehen weiterhin große Überschneidungen zwischen den Publika der verschiedenen Informationsmedien, und diese werden nicht geringer, wenn sich die Menschen überwiegend oder ausschließlich online informieren. Allerdings fällt auf, dass es dem öffentlichen Rundfunk in der Schweiz – anders als in Österreich oder Deutschland – nicht gelungen ist, mit seiner Onlinepräsenz zum zentralen Integrationsmedium zu werden. Das Medium mit der größten Integrationsrolle unter Onlinern ist das Gratismedium 20 Minuten.
Problematischer erscheint die Zunahme der indirekten Nutzung von Nachrichtenmedien über soziale Netzwerke und zwar insbesondere, wenn diese nicht ergänzt ist durch die regelmäßige Nutzung traditioneller Nachrichtenmedien: Die auf diese Weise an der politischen Öffentlichkeiten teilhabenden Bürgerinnen und Bürger laufen Gefahr, durch das veränderte Informationsangebot und die Verschiebung in ihren Bewertungs- und Auswahlstrategien nicht die politischen Informationen zu erhalten, die sie für ihren Interessen und politischen Gesamtlage entsprechende Entscheidungen benötigen.
Hinweis: Der Beitrag basiert auf einer Studie, die von der Autorin im Rahmen des NCCR Democracy im März 2016 durchgeführt wurde, unterstützt durch das Institut für Publizistik und Medienforschung der Universität Zürich.
Eine ausführlichere Diskussion der Fragmentierung von Online-Öffentlichkeiten am Beispiel Österreich findet sich in Kleinen-von Königslöw, K. (2016): “Publikumsfragmentierung in der Online-Nachrichtenumgebung“, in: Henn, P., & D. Frieß (Hg.). Politische Online-Kommunikation. Voraussetzungen und Folgen des strukturellen Wandels der politischen Kommunikation (S. 253-278). Berlin: DigitalCommunicationResearch 3.